Falldarstellung

(Klasse 7c; Musisches Gymnasium einer Großstadt)

Nikola ist eine gute Schülerin im Fach Deutsch. Heute ist ihr Übungsaufsatz benotet worden. „Rate mal, was ich bekommen habe!“ – „Eine Zwei?“ – „Nein!“ – „Eine drei?“ – „Nein!“ – „Eine Vier?!“ – „Ja! Stell dir vor, ich habe eine Vier gekriegt! Das ist ungerecht. Der Aufsatz war ihr (sc. der Deutschlehrerin) viel zu kurz. Und dabei habe ich mich genau daran gehalten, was sie gesagt hat. ‚Einen Bericht an die Zeitung müßt ihr kurz schreiben, denn wenn er zu lang ist, liest ihn keiner mehr.’ Mein Bericht war ihr zu kurz. Da soll man sich auskennen. Andere haben auch nur eine halbe Seite geschrieben und da hat sie gesagt, dies sei in Ordnung. Und sie hat auch noch laut gesagt, so daß es die anderen hören konnten: ‚Nikola, ich bin enttäuscht von deiner Leistung. Dein Aufsatz ist viel zu kurz. Du hast ungenau gearbeitet!’ Das finde ich gemein, daß sie es laut gesagt hat, so daß es alle hören konnten.“ – Nikola steht mit tiefgefurchter Stirn und wild funkelnden Augen vor ihrer Mutter.

Im Gespräch mit der Mutter stellte sich heraus, daß Nikola zwar die allgemein formulierten Regeln zur Erstellung eines Berichts im Heft eingetragen hatte und daß sie diese Regeln auch tatsächlich anwandte. Die Fragen der Mutter ergaben ferner, daß das Musterbeispiel den Schülern erst gegeben worden war, nachdem der Übungsaufsatz geschrieben worden war. Nikola konnte sich also durchaus im Recht fühlen. Sie glaubte, ihrer Pflicht dadurch Genüge getan zu haben, daß sie die Regeln formal erfüllte. Sie glaubte sich ungerecht behandelt, weil formal gleich lange Aufsätze unterschiedlich bewertet wurden. Im Gespräch stellte sich ferner eine Beziehungsverschlechterung zwischen Nikola und der Lehrkraft heraus. Die verschiedenen Erklärungen konnten Nikola nicht überzeugen. „Mich ärgert ja nicht so sehr die Note, sondern daß sie es vor allen anderen gesagt hat!“ Und sie kommt zu dem Schluß, die Lehrkraft nicht mehr akzeptieren zu können: „Jetzt mag ich sie aber auch nicht mehr.“ Sie spielt darauf an, daß viele Mitschülerinnen die Lehrkraft ebenfalls nicht mehr akzeptieren.

Im Gespräch stellt sich schließlich noch heraus, daß die Mathematikschulaufgabe nicht gut verlaufen ist, und daß sie im Schulbus sich über einen unflätigen Berufsschüler ebenfalls ärgerte. Es traten also ziemlich viele negative Erlebnisse an einem Schulvormittag auf.

Nachtrag:
In Deutsch steht ein benoteter Hausaufsatz an. Nikola zieht die Anfertigung des Berichts lange hinaus. Sie orientiert sich schließlich strikt am Vorbild und ändert die Vorlage nur geringfügig ab. Eine Einstellungsänderung ist zur Deutschlehrerin nicht eingetreten. Sie gibt weiterhin zu, daß sie sie nicht mehr mag, auch nach vierzehn Tagen hat sich daran nichts geändert. Zur Begründung gibt sie an: „Wenn die mich geärgert hat? Phh!“

Interpretation

Mit den Informationen über den Ärger im Hinterkopf und mit den Ausführungen über die krankmachenden Tendenzen im außer- und innerschulischen Bereich im Gedächtnis, soll das Beispiel mit Hilfe des Grundgedankens der Eingrenzung interpretiert werden. Ich richte mich hierbei in groben Zügen nach dem Leitfaden schulischer Erziehung (vgl. Punkt 6).

Erster Schritt: Benennung der Symptome
Im Beispiel werden vor allem die äußerlichen Merkmale wie tief gefurchte Stirnfalten und wild funkelnde Augen genannt. Ferner ist die Erregung zu erschließen.

Zweiter Schritt: Situationsanalyse
a) Der Zeitpunkt, an dem der Ärger bemerkt wird
Die Schülerin hat die Möglichkeit, unmittelbar nach dem unangenehmen Ereignis mit der Mutter zu sprechen. Die Gesamtsituation ist jedoch geschichtet. Zum einen bezieht sich der Ärger auf die Note, schließt also ein Leistungsdefizit ein; zum anderen bezieht er sich auf die Bloßstellung vor den Mitschülern und ist eng verbunden mit der Stimmung des Kummers. Ärger und Kummer werden aber bereits in der vorausgegangenen Mathematikschulaufgabe (Test) erlebt. Auf dem Wege nach Hause dominiert noch einmal der Ärger über den Berufsschüler. Der Schulvormittag war also in dreifacher Hinsicht außergewöhnlich stark negativ aufgeladen.
b) Der Ort in der Entwicklung des schulischen Unbehagens
Berücksichtigen wir den idealtypischen Verlauf des schulischen Unbehagens, so können wir feststellen, dass Nikola sich in der zweiten Ebene befindet. Auf ihre Bereitschaft zur Entfaltung, d.h. hier gemäß den Regeln einen Übungsaufsatz zu erstellen, erfolgt eine nicht akzeptierte Eingrenzung in der Form der unbefriedigen­den Note und in der Art und Weise, wie die Lehrkraft mit ihr sprach. Die Enttäu­schung ist so groß, dass sie die Aufsatzbemerkungen der Lehrkraft, die als Hilfe beziehungsweise als Korrektur gedacht waren, nicht annehmen konnte, sondern die Lehrkraft ablehnte. Damit verlagerte sich das Geschehen in der Ebene zwei: es kam zu einer Lösung von der Lehrkraft und einer verstärkten Orientierung an den Mitschülerinnen und deren Verhaltensweisen.
c) Die Typik der Situation
In der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler herrscht Gegnerschaft vor: die Lehrkraft wird abgelehnt. Es besteht ein Hauch von Illegitimität, entstanden durch methodische Fehler der Lehrkraft (das Musterbeispiel wird erst nach der Leistungs­prüfung gegeben; die Regeln werden zu allgemein formuliert). Dagegen kann nichts unternommen werden, obwohl sich die Schülerin ungerecht behandelt vorkommt. Es fällt eine Kumulierung negativer Vorfälle auf, bei denen die Schülerin passiv bleiben musste; denn sie kann der Lehrkraft ihre Enttäuschung nicht direkt sagen; sie kann während der Mathematikprüfung keine Hilfe erwarten, und sie kann sich gegen einen Berufsschüler nicht durchsetzen.
Neben Ärger schwingt in der Situation auch Kummer mit, weil ein Scheitern in der Prüfung befürchtet wird. – Eine Vielzahl von Eingrenzungen hat sich eingestellt.

Dritter Schritt: Aufweis der Eingrenzungen
Eingrenzungen sind im individuellen, erzieherischen, unterrichtlichen und organisa­torischen Bereich festzustellen.
Die Sinnverwirklichung ist erschwert und die Vorstellung des Selbstwerts ist erschüt­tert. Die Regelauslegung ist nicht verstanden. – Nikola darf ihre Gefühle in der Situation nicht offen zeigen. – Sie fühlt sich bloßgestellt und ist überzeugt, ihr soziales Ansehen in der Klasse sei vermindert worden.
Dem erzieherischen Bereich ist die unpädagogische Lehrersprache zuzuordnen, die ein Hierarchiemodell verkörpert und die menschliche Gleichwertigkeit missachtet. Methodische Fehler verunsichern die Kinder und die mathematischen Prüfungsaufga­ben grenzen die Schüler im unterrichtlichen Bereich ein.
Im organisatorischen Bereich ist die erlebte Eingrenzung durch den Berufsschüler zu nennen.

Vierter Schritt: Bewertung der Eingrenzungen
Aus der Sicht der Schülerin sind alle genannten Eingrenzungen sinnlos; relativ wenige sind vermeidbar. Daher ist es hilfreich zu lernen, wie man sich zu kurzfristig unvermeidbaren Eingrenzungen einstellen kann.

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