Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Frau A. fühlt sich wie gelähmt: Sie ist ausgebildete Kindergärtnerin, studiert zur Zeit Pädagogik mit einer deutlichen Schwerpunktsetzung im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik und arbeitet überdies als „Kulturtechniklehrerin“ einige Stunden pro Woche in einer Behindertenwerkstätte. Dort soll sie „Klienten“ im Einzelunterricht oder paarweise im Lesen, Schreiben und Rechnen fördern. Zu ihren erwachsenen Schülern zählt auch der achtzehnjährige Peter. Peter kennt die Buchstaben, ohne zusammenhängend lesen zu können, und rechnet bis 30. Er kommt so wie die anderen „Klienten“, mit denen Frau A. zu tun hat, ein Mal pro Woche für eine Stunde „zur Schule“ – wie es im Jargon der Männer und Frauen heißt, die in der Behindertenwerkstätte arbeiten und betreut werden. Und genau diese Stunden mit Peter machen Frau A. zu schaffen:

Peter macht Frau A. immer wieder ratlos, weil er mit den Übungsbeispielen und Aufgaben, die er von Frau A. erhält, sehr oft unzufrieden ist. Entweder klagt er darüber, dass die Übungsbeispiele und Aufgaben zu einfach sind, oder er beschwert sich darüber, dass sie zu schwierig wären. Erlebt er sie als zu schwierig, so ist Peter nicht in der Lage, genauer anzugeben, womit er Schwierigkeiten hat: Peter spricht dann in allgemeiner Form davon, dass er sich nicht konzentrieren könne oder dass Frau A. in ihrem Vorgehen zu schnell wäre.
Peter macht Frau A. überdies immer wieder wütend: Er wirkt auf sie unmotiviert und in seinem Auftreten herablassend und machoartig. Das findet Frau A. unangenehm-provokant, ohne auch nur in Ansätzen zu wissen, wie sie Peter in solchen Situationen anders als bisher begegnen könnte.

Als Frau A. dann von konkreten Szenen in einem Seminar berichtet, das über mehrere Wochen hindurch einem Konzept folgt, von dem noch die Rede sein wird, vermittelt sie wiederholt den Eindruck, unter Druck zu stehen und auf der Stelle zu treten. Ihren Darstellungen ist Folgendes zu entnehmen:

Frau A. hat nicht den Eindruck, in ihrer Arbeit mit Peter pädagogisch hilfreich zu sein; und sie hat auch keine präzise Vorstellung davon, wie sie ihre Rolle als Kulturtechniklehrerin in der unmittelbaren Arbeit mit Peter in pädagogisch sinnvoller Weise begreifen und gestalten kann.
Frau A. ringt mit der Frage, wie die Dynamik des Beziehungsgeschehens, das sich zwischen Peter und ihr etabliert hat, zu verstehen ist. Und sie findet keinen rechten Ansatzpunkt, von dem aus sie über die Bedeutung, die dieses Beziehungsgeschehen für alle Beteiligten haben mag, differenziert nachzudenken vermag.
Zugleich ist Frau A. der Überzeugung, dass solch ein Verstehen und Nachdenken dringend nötig ist, um gezielt den Schwierigkeiten begegnen zu können, in denen sie steckt – und um auf diesem Weg zu einem sinnvolleren Wahrnehmen ihrer Aufgaben und der Situationen zu kommen, in die sie mit Peter immer wieder gerät.

Demgemäß sucht Frau A. in dreifacher Hinsicht Unterstützung: Sie sucht nach Möglichkeiten, die es ihr erlauben, zu einer differenzierteren Sicht des Beziehungsgeschehens zwischen ihrer Person und ihrem „Schüler“ Peter zu gelangen. Sie sucht nach Hilfen, die es ihr erlauben, differenzierter wahrzunehmen und zu verstehen, mögliche Alternativen der Beziehungsgestaltung zu entwickeln und solche Alternativen auch zu realisieren.

Die psychoanalytische Frage nach der Bedeutung von Gefühlen für pädagogische Beziehungsprozesse
Frau A. ist ein Beispiel für die These, dass sich zumindest „explizites Wissen“ nicht unmittelbar in Können niederschlägt: Frau A. befindet sich in ihrem Studium im zweiten Studienabschnitt; sie hat zahlreiche Vorlesungen und Seminare besucht, die sich mit pädagogischer Praxisgestaltung, psychoanalytisch-pädagogischem Verstehen und Praxisreflexion befassten; und ihr Engagement ist ebenso überdurchschnittlich wie die Noten, die sie auf ihre Prüfungen und Seminararbeiten bislang erhalten hat. Dennoch gelingt es ihr zunächst nicht, über ihre eigene Praxissituation im Sinne der angeeigneten Theorien so nachzudenken, dass sie sich selbst neue Wege des Verstehens und der Praxisgestaltung eröffnen könnte. Dies mag durchaus damit zusammenzuhängen, dass in den Situationen des Zusammenseins mit Peter jene praxisleitenden Momente des Interpretierens, Bewertens oder Entscheidens stärker zum Tragen kommen, die dem „impliziten Wissen“ von Frau A. zuzurechnen sind; denn Elemente des „impliziten Wissens“ können im Vergleich zu den Inhalten des „expliziten Wis­sens“ nur mit großer Anstrengung ausgemacht, überdacht und modifiziert werden.

Vor dem Hintergrund psychoanalytisch-pädagogischer Theoriebildung ist darüber hinaus davon auszugehen, dass Beziehungsprozesse wie jene, von denen Frau A. berichtet, nur dann angemessen verstanden werden können, wenn nach dem Erleben jener Menschen gefragt wird, die in diese Beziehungen und somit auch in einzelne Prozesse der Beziehungsgestaltung eingebunden sind. Auszugehen wäre demnach davon, dass die Schwierigkeiten, in denen Frau A. steckt, auf das Engste mit der Art und Weise zusammenhängen, in der zumindest Frau A. und Peter die Situationen des Zusammenkommens und Zusammenarbeitens erleben. Und in Verbindung damit ist anzunehmen, dass es Frau A. aufgrund dieses Erlebens auch schwer fällt, über die Beziehungsdynamik, von der sie erzählt, so nachzudenken, dass sich für sie ebenso neue wie hilfreiche Perspektiven des Verstehens und Handelns eröffnen.

(…)

Der erste Protokollausschnitt

Frau A. berichtet in ihrem Papier, dass Peter etwa 18 Jahre alt, groß und schlank ist. Er hat „kurze, schwarze Haare und mehrere Unreinheiten im Gesicht“. Daran schließt sich im Praxisprotokoll folgender Textausschnitt:

„Die erste Begegnung mit Peter an diesem Tag findet um ca. 8 Uhr 30 Uhr in der Früh statt, als ich gerade nach zwei meiner Klienten – es handelt sich um einen Buben namens R. und ein Mädchen namens N., beide zwischen 20 und 25 Jahre alt – auf dem Gang Ausschau halte. Beide sind um diese Uhrzeit an der Reihe, bei mir etwas zu lernen. Ich stehe vor dem Aufenthaltsraum und sehe in diesen hinein. Ungefähr zwei Meter von mir entfernt steht Peter gemeinsam mit anderen Arbeitskollegen. In diesem Moment höre ich, dass es N. nicht gut geht und dass sie sich hingelegt hat. Plötzlich fragt mich Peter, ob ich einen Geist gesehen hätte. Daraufhin antworte ich mit: ‚Ja … dich.’ Der zweite Klient (R.), der eben zu dieser Uhrzeit zu mir in den Unterricht kommt, fragt nun Peter, seit wann er denn ein Gespenst sei. Dessen Antwort höre ich leider nicht.
Während die beiden jungen Männer miteinander sprechen, gehe ich wieder in mein Zimmer hinein und setze mich an die linke Seite des Tisches. Die beiden folgen mir und R. betritt den Raum. Peter steckt seinen Kopf ins Zimmer hinein und sagt zu R.: ‚Bist Du jetzt in der Schule?’ Der Angesprochene erwidert: ‚Ja, und du kommst nach mir.’ (Anscheinend ist Peters Frage ungenügend beantwortet und er informiert sich bei mir noch einmal, ob er nach R. drankomme. Seine Frage beantworte ich mit einem Ja. Danach verlässt er das Zimmer und ich beginne mit R. zu arbeiten.“

Inwiefern kann solch ein kurzer Textausschnitt erste Einblicke in die Beziehungsdynamik eröffnen, die sich zwischen Frau A. und Peter etabliert hat und die Frau A., wie ich eingangs erwähnt habe, erheblich belastet. Im Seminar tritt diese Frage zunächst in den Hintergrund, während sich die Seminarmitglieder der ersten Textstelle zuwenden, in der von Peter berichtet wird. Es ist diese jene Passage, in der Frau A. zunächst erfuhr, dass es N. nicht gut ging, daraufhin wohl eine ebenso überraschte wie besorgte Mine zeigte und von Peter unversehens gefragt wurde, ob denn Frau A. einen Geist gesehen hätte. Frau A. erinnert sich, dass sie sich in diesem Moment von Peter bedrängt und auch abschätzig behandelt fühlte. Sie ergänzt, dass sie in der Situation das Verlangen verspürte, Distanz zu Peter zu schaffen und ihm eine Art „Retourkutsche“ zu verpassen, die ihn in Bedrängnis bringt. Befriedigend war es für sie, zu bemerken, wie ihre Antwort ‚ Ja .,. dich.’ bei Peter Verblüffung auslöste und dazu führte, dass Peter nun von seinem Kollegen gefragt wurde, seit wann er denn ein Geist wäre.

All dies erweckt im Seminar den Eindruck, dass hier ein Kampf – oder zumindest ein kleines Scharmützel – zwischen Frau A. und Peter stattfand, in dem sich jeder darum bemühte, den anderen zu verblüffen und vielleicht auch zu verletzen, um so ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit zu empfinden. Offen bleibt aber die Frage, was Peter veranlasst haben mag, dieses Scharmützel zu eröffnen, und weshalb sich Frau A. von der vergleichsweise harmlosen Frage, ob sie denn einen Geist gesehen hätte, primär bedrängt fühlte?

Die Bemerkung einer Seminarteilnehmerin, dass der Kampf zwischen Frau A. und Peter „irgendwie pubertär“ wirke, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Frau A. ihre Klienten und Klientinnen als „Mädchen“ und „Buben“ bezeichnet, obwohl es sich doch um Männer und Frauen handelt, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind. Der Gedanke taucht auf, dass Frau A. die erwachsene Genitalität der „Behinderten“, mit denen Frau A. arbeitet, leugnet. Und dies führt dazu, dass im Seminar folgende Vermutung geäußert wird:

Frau A., die selbst etwa 25 Jahre alt ist, gefällt dem achtzehnjährigen Peter als junge Frau. Er möchte gerne engeren Kontakt zu ihr haben, ihr gefallen, ihr imponieren. Gleichzeitig erlebt er sich Frau A. gegenüber aber auch unsicher. Dies drängt ihn dazu, Frau A. gegenüber betont männlich aufzutreten; denn auf diese Weise gelingt es ihm, sich als Mann zu präsentieren, Frau A. emotional nahe zu kommen und zugleich zu verbergen, wie schwach er sich in seinem tiefsten Inneren fühlt. Die Attitüde, die sein Verhalten dadurch erhält, erlebt Frau A. als machohaft-bedrängend. Darin könnte zum Ausdruck kommen, dass Frau A. zwar realisiert, dass sich Peter als junger Mann um sie bemüht, dass sie es aber zugleich beunruhigt, für Peter sexuell attraktiv zu sein.

Frau A. sagt etwas zögernd, dass ihr die Vorstellung, von Peter begehrt zu werden, unangenehm sei. Und sie spricht davon, dass diese Vorstellung auch jetzt, in der Seminarsituation, das Verlangen wecke, Peter von sich fern zu halten, ihn zurückzustoßen, ihn klein zu machen. Ich äußere den Gedanken, dass Frau A. einem ähnlichen Impuls folgte, als sie auf Peters Frage, ob sie einen Geist gesehen hätte, mit ‚Ja … dich.’ antwortete. Und ich füge hinzu, dass das Verlangen von Frau A., Distanz zwischen sich und Peter zu schaffen, Peter vielleicht erst recht veranlasst, sich um mehr Nähe zu Frau A. zu bemühen.

Als wir uns wieder dem Protokoll zuwenden, fällt uns auf, dass Frau A. nach dem „Scharmützel“ mit Peter zu ihrem Zimmer geht, sich von Peter somit wegwendet – und Peter nun tatsächlich versucht, mit Frau A. wiederum in Kontakt zu kommen. Zunächst folgt er ihr, indem er R. zum Schulzimmer hin begleitet. Dann steckt Peter im Zusammenhang mit der Frage, ob R. nun unterrichtet werde, den Kopf ins Zimmer, um letztlich Frau A. dazu zu bringen, sich – zumindest einen Moment lang – Peter zu widmen und ihm zu versichern, dass Peter in absehbarer Zeit eine Stunde mit ihr verbringen werde. Dies schien Peter in ausreichendem Ausmaß zu beruhigen und zu befriedigen, sodass es ihm nun gelang, Frau A. mit R. alleine zulassen.

Der zweite Protokollausschnitt

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Besprechung der ersten Passagen des Protokolls den Gedanken nahelegt, dass sich der junge Mann Peter um die junge Frau A. bemüht und in seiner Weise versucht, ihr gegenüber stark und männlich aufzutreten. Frau A. erlebt dies als beunruhigend; sie kämpft gegen die Vorstellung, für Peter attraktiv und begehrenswert zu sein, an; und sie tendiert dazu, ihn zurückzuweisen – was Peter erst recht dazu drängt, in ihre Nähe zu kommen und sie dazu zu bringen, sich mit ihm zu befassen.

Die weitere Besprechung des Protokolls führt die Seminargruppe zu einigen zusätzlichen Gedanken, die in ersten Ansätzen auch verstehen lassen, in welchen emotionalen Prozessen die Spannungen und Schwierigkeiten gründen dürften, mit denen sich Frau A. vor allem dann immer wieder konfrontiert sieht, wenn sie Peter zu unterrichten versucht. In diesem Zusammenhang wird für die Seminargruppe ein Protokollausschnitt besonders wichtig, der ein Stück Unterrichtsgeschehen wiedergibt, an dem Frau A., Peter und – untypischer Weise – die Klientin N. beteiligt waren. Untypisch war N.s Involviertheit deshalb, weil die Interaktionssequenz, von welcher der Protokollausschnitt berichtet, Peters Unterrichtsstunde entstammt, in der zumeist nur Peter und Frau A. anwesend sind. Doch da der Klientin N. am Morgen schlecht gewesen war, konnte sie am gemeinsamen Unterricht mit R. nicht teilnehmen. Stattdessen war sie nun in Peters Stunde anwesend und registrierte, dass Peter Arbeitsblätter mit Rechnungen vorgelegt bekam, deren Lösungen in Rechtecken einzusetzen waren, die wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden sollten. Das weitere Geschehen wird von Frau A. folgendermaßen geschildert:

„Peters erste Fragen zu seiner Aufgabe sind: ‚Wo hast du das her? Hast du dir das selber ausgedacht oder hast du das aus einem Buch?’ Ich antworte ihm, dass ich dieses Arbeitsblatt aus einem Buch habe. Darauf erwidert er: ‚Naja.’ Er schaut nun auf die Rechnungen und mit seiner rechten Hand, deren Finger einen Bleistift halten, geht er von einer Rechnung zur anderen. Plötzlich sagt er: ‚Das wird ja immer schwerer.’ Ich erkläre ihm, dass es einmal schwierigere Rechnungen und einmal leichtere sind. Danach verkündet er: ‚Aha, gemischt!’ Gerade als ich mich zu N. nach links drehen will, fragt er mich, ob ich weiß, was bei dem Puzzle herauskommt. Ich antworte ihm, dass ich das nicht wisse. Die darauf folgende Frage von ihm lautet: ‚Naja, hast du das schon wieder vergessen, hm?’ Ich gebe ihm keine Antwort und zucke nur mit den Schultern. Im selben Augenblick beginnt er zu raten, was denn die Lösung sein könnte. Er sagt: ‚Das wird sicher ein Wort, nein das ist ein Fünfer oder doch ein B?’ Ich erkläre ihm nochmals, dass ich es nicht wisse, und hebe meine Schultern einige Sekunden lang in die Höhe, um meine Aussage zu bekräftigen.“

Frau A. erinnert sich im Seminar, wie innervierend sie Peters Kommentare und Fragen empfunden hatte. Sie wünschte sich, dass Peter still und konzentriert seine Aufgaben lösen möge, und merkte, dass er sich davor „drückte“. Dies machte sie ungeduldig und ärgerlich, aber auch ratlos, weil sie nicht mehr wusste, wie sie seine „Ablenkungsmanöver“ unterbinden und ihn zum Arbeiten bringen könnte.
Als sich Frau A. nun gemeinsam mit der Seminargruppe den Protokollausschnitt genauer vor Augen führt, entsteht der Eindruck, dass nicht nur Frau A., sondern auch Peter in einer schwierigen Situation befindet, die sich folgendermaßen charakterisieren lässt:

Peter möchte von Frau A., seiner Lehrerin, begehrt werden. Diese will, dass Peter die Aufgaben löst, die sie ihm vorlegt. Versucht er aber die Aufgaben ernsthaft zu lösen (und den Erwartungen von Frau A. zu entsprechen), so droht offensichtlich zu werden, wie intellektuell schwach er gerade in jenen Bereichen ist, die für Frau A. so wichtig sind.

In Verbindung mit der Entwicklung dieses Gedankens wird zunächst verständlich, weshalb Peter mit dem Gedanken spielte, die Arbeitsblätter könnte Frau A. extra für ihn angefertigt haben: Wäre dies der Fall gewesen, so hätte sich Peter zum einen dem befriedigenden Gedanken hingeben können, dass Frau A. auch dann, wenn sie keinen Unterricht gibt, an Peter denkt und etwas herstellt, um es Peter mitzubringen. Zum andern, so fällt Frau A. ein, wertet Peter in so manchen Situationen Anregungen, Unterlagen oder Erklärungen, die von Frau A. kommen, ab, um dann ihr dafür die Schuld zu geben, dass er – auf Grund ihrer unzulänglichen Hilfen – bestimmte Aufgaben nicht lösen kann. Vielleicht, so vermuten wir, wollte sich Peter auch in der beschriebenen Situation eine günstige Position schaffen, um dann die Schuld für ein mögliches Scheitern Frau A., der „Herstellerin der Arbeitsunterlagen“, zuschieben zu können. Manchmal, so ergänzt Frau A., schafft es Peter ja nicht einmal, einfachste Beispiele zu rechnen.
Letzteres deutet darauf hin, dass Peter im nächsten Moment, als er die Arbeitsblätter durchsah, große Angst davor bekam, die vorgelegten Aufgaben nicht lösen zu können und sich vor der Klientin N. sowie vor Frau A. als dumm zu erweisen: In seiner Bemerkung ‚Das wird ja immer schwerer.’ kommt diese Angst zum Ausdruck, zugleich aber auch Peters Unvermögen, über diese seine Angst ungeschminkt zu sprechen. Peter scheint sich vielmehr gedrängt zu fühlen, das Offensichtlichwerden seiner intellektuellen Schwächen vor sich und den Anwesenden so lange wie möglich zu verhindern und verschiedenste Aktivitäten zu setzen, um als möglichst souverän, wissend und überlegen zu erscheinen. Diesem Drang schien er gefolgt zu sein, als er die Auskunft von Frau A., manche Rechnungen wären schwierig und manche leicht, mit der Kompetenz vorspielenden Bemerkung quittierte: ‚Aha, gemischt!’ Um das Deutlichwerden seiner Schwächen hinauszuzögern, dürfte es für ihn attraktiver gewesen sein, mit der Arbeit an den Aufgaben zu warten, um stattdessen Frau A. zu fragen, ob sie denn wisse, was beim Puzzle herauskomme. Und als sie sagte, sie wisse das nicht, kam es seinem Verlangen nach einem vordergründigen Gefühl der Stärke entgegen, nun Frau A. wie eine Schülerin mit dem spöttischen Vorwurf kritisieren zu können: ‚Naja, hast du das schon wieder vergessen, hm?’
Mit diesem seinem Verhalten gelang es Peter, entsprechende komplementäre Gefühle bei Frau A. auch tatsächlich zu wecken. Denn in diesen Situationen, so erzählt Frau A., erlebte sie sich tatsächlich abgewertet und fest entschlossen, ihm dann, als er zu raten begann, keine Hilfe zu geben, um ihm nur ja keine andere Möglichkeit offen zu lassen als eine: ernsthaft zu lesen und zu rechnen. Auch ihr Achselzucken vorher und ihre kargen Antworten wären nicht nur ihrem Ärger, sondern auch ihrer Absicht entsprungen, ihn endlich „dazu zu bringen“, konzentriert an den mitgebrachten Aufgaben zu arbeiten.

Letzteres scheint zu erkennen zu geben, dass der Kampf um Nähe und Distanz zwischen Peter und Frau A. eng verknüpft ist mit einem Ringen darum, wer von beiden sich – vordergründig – als souverän, kompetent und überlegen erleben darf und wer sich mit dem Gefühl herumschlagen muss, schwach, inkompetent und unterlegen zu sein.
Erinnert man sich daran, über welche Verhaltensweisen Peters sich Frau A. zu Beginn des Seminars besonders stark beklagt hat, so wird man nun festhalten dürfen: Peters mitunter herablassendes Auftreten; seine Hinweise darauf, dass manche Arbeitsaufgaben zu einfach wären; seine diffuse Kritik an Frau A., die er vorbringt, wenn er Aufgaben nicht lösen kann; seine spürbare Unlust, sich an die Lösung von Aufgaben zu machen, und seine Ten­denz, von der Arbeit an den Aufgaben abzulenken – all diese Verhaltenswei­sen scheinen zumindest auch im Dienst des (weitgehend unbewussten) Bemühens zu stehen, das Aufkommen von Gefühlen der Schwäche, der Inkompetenz und der Unterlegenheit nach Tunlichkeit zu verhindern. Solche Gefühle scheinen dann in Frau A. zu entstehen. Und im weitgehend unbewussten Verlangen, sich vor dem bewussten Gewahrwerden dieser Gefühle zu schützen, dürfte sich dann Frau A. darum bemühen, Peter immer wieder zu drängen, sich den vorgelegten Aufgaben zuzuwenden – was letztlich dazu führt, dass sich Peter dann doch immer wieder dem Drängen fügt und es dazu kommt, dass er an den vorgelegten Aufgaben scheitert. Peter scheint sich dann tatsächlich beschämt, hilflos und minderwertig zu fühlen (was sein Verlangen nach Gefühlen der Stärke, Kompetenz und Überlegenheit erst recht wiederum schürt), und er dürfte besonders stark spüren, wie enttäuschend und unattraktiv er für Frau A. ist, um deren Zuneigung er wirbt (was wiederum seinen Drang intensiviert, andere Wege zu suchen, die es ihm ermöglichen, sich Frau A. nahe zu fühlen).

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Interpretation (zusammenfassend)

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Die zuletzt angeführten Überlegungen stützen sich auf die Diskussion von mehreren Praxisprotokollen, die Frau A. verfasst hat und die im Seminar besprochen wurden. Ich kann diese Diskussionen an dieser Stelle nicht weiter nachzeichnen, möchte aber festhalten, dass sich das erste Praxisprotokoll im Sinne von Lazar (2000, 410) wie eine „Probe“ erwiesen hat, die von Frau A. „gezogen wurde“ und an der wir im Seminar Zusammenhänge zwischen dem Erleben von Frau A., dem Erleben von Peter und der Beziehungsdynamik zwischen beiden ausmachen konnten, auf die wir in der Besprechung anderer Protokollausschnitte in vergleichbarer Form immer wieder stießen. Dabei wurde das Bild, das entstand, zusehends reichhaltiger und differenzierter und führte beispielsweise auch zu einem Nachdenken darüber, was es für Frau A. bedeutete, in einer Behinderteneinrichtung als „Kulturtechniklehrerin“ angestellt und ohne weitere Einbindung in die Institution der Erwartung ausgesetzt zu sein, den erwachsenen „Klienten“ in einer Stunde „Unterricht“ pro Woche Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen.

Die Tatsache, dass Frau A. während des Seminars etwa sechs Monate lang kontinuierlich angehalten war, sich während des Protokollschreibens sowie im Seminar einzelne Arbeitsprozesse vor Augen zu halten und sich damit zu befassen, wie sie und ihre Klienten einzelne Situationen erlebt haben dürften, führte dazu, dass Frau A. einzelne Arbeitssituationen anders wahrzunehmen und in einigen Punkten auch anders zu gestalten begann.

Frau A. nahm Peters machoartiges Auftreten und sein Verhalten in Lernsituationen allmählich etwas weniger bedrohlich wahr und konnte es zusehends als Ausdruck seiner Angst verstehen, sich als intellektuell schwach, hilflos und abgelehnt zu erleben. In Verbindung damit fühlte sich Frau A. in geringerem Ausmaß gedrängt, Peter demonstrativ deutlich auf Distanz zu halten oder in die Position des Unterlegenen zu bringen. Sie entwickelte seinen Lernschwächen gegenüber etwas mehr Nachsicht und konfrontierte ihn in geringerem Ausmaß mit Arbeitsaufgaben, die ihn eindeutig zu überfordern und folglich zu beschämen drohten. Darüber hinaus führte sie andere Lernformen ein und begann beispielsweise mit Lernspielen zu arbeiten; denn sie entdeckte, dass das Nicht-Lösen-Können von Lernspielaufgaben für Peter weniger schlimm war als das Nicht-Lösen-Können von Aufgaben, die den Charakter von konventionellen Schulaufgaben hatten. Auch wenn sich dadurch die Beziehungsdynamik zwischen Peter und Frau A, nicht völlig veränderte, so schien sich Peter nun doch etwas weniger stark abgelehnt, hilflos und bloßgestellt erleben zu müssen, was wiederum zu Folge hatte, dass er in ersten Ansätzen begann, einige jener Verhaltensweisen etwas zurückzuneh­men, die für Frau A. so schwer erträglich waren.

(…)

Nutzungsbedingungen:
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