Falldarstellung

Eindruck der Interviewerin

Frau Abel wohnt in einem kleinen Dorf, das nicht leicht zu erreichen ist. Sie weiß dies, rechnet mit einer Verspätung der Interviewerin und meint: „Manchmal ist es gut, daß einen die Leute nicht so leicht finden …!“

Nach den einleitenden Worten beginnt sie sofort zu erzählen und ist kaum zu bremsen. Sie wirkt sehr dynamisch, selbstbewusst und vital, und ich muss ständig achtgeben, zwischen Kommenlassen, Strukturieren und Zeit(begrenzung) abzuwägen, was teilweise ganz schön anstrengend wird.

Es scheint ihr ein großes Bedürfnis zu sein, jemandem von der Gesamthochschule Kassel über ihren Werdegang zu erzählen und Verständnis und Anerkennung zu erhalten. Sie hat wirklich viel geschafft in ihrem Leben und lebt in sozialer Sicherheit. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sie mit ihrem derzeitigen Mutterstatus und den Trainingsstunden nicht ganz zufrieden ist und nach mehr sozialen Kontakten und Anerkennung strebt. Erstaunt bin ich, dass ich lange den Eindruck habe, durch die Art wie sie erzählt, dass sie voll im Schuldienst sei … und erst im Laufe des Gesprächs klar wird, dass sie seit dem Referendariat (fast drei Jahre) nicht mehr im Schuldienst war und auch zwischendurch Arbeitslosigkeit als sehr deprimierend erlebt hat. Sie erzählt so lebendig und engagiert über die Schule, dass ich immer wieder geneigt bin, ihre reale Situation zu vergessen…“ (Interviewerin)

Momentane Situation

Frau Abel ist beurlaubte Lehrerin. Sie hat nach dem ersten Staatsexamen sechs Monate gejobbt, dann das Referendariat in ihrem Heimatort absolviert und war nachher vier Monate arbeitslos. Sie konnte die Arbeitslosigkeit schlecht ertragen, jobbte daher immer wieder zwischendurch. Wegen einer Aussicht auf eine Anstellung als Grundschullehrerin in einem Nachbardorf legte sie eine Zusatzausbildung als Grundschullehrerin ab. Diese Prüfung empfand sie als „Veräppelung“, weil die Prüfungstermine so lagen, dass die Einstellungstermine nicht eingehalten werden konnten, und sie daher die anvisierte Stelle nicht bekam. Dann war sie ca. 10 Monate arbeitslos, was für sie eine sehr belastende Erfahrung war. Daher arbeitete sie und wurde bald schwanger. Acht Wochen vor der Geburt ihrer Zwillinge bekam sie eine Beamtenstelle angeboten (zwei hatte sie vorher schon abgelehnt). Da die Stelle 200 km vom Wohnsitz entfernt ist, wollte sie die Stelle nicht annehmen doch wurde sie „dazu gedrängt“, bis sie sie endlich akzeptierte. Sie ging dann aber sofort in Mutterschutz und stellte einen Antrag auf Versetzung. Seit 2 Jahren ist sie beurlaubt. Sie ist jetzt Inhaberin einer Planstelle an einer benachbarten Schule und will im nächsten Herbst wieder anfangen zu arbeiten. Sie wurde gerade jetzt verbeamtet obwohl sie seit dem Referendariat noch nie im Schuldienst arbeitete. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren kleinen Zwillingen in einem Eigenheim und ist begeisterte Sportlerin. Sie leitet schon seit der Schulzeit Trainingsgruppen wie übrigens auch ihr Mann, der ebenfalls Lehrer ist. Um ihr wieder eine Berufstätigkeit zu ermöglichen, wollen beide ihre ehrenamtliche Sportlertätigkeit im Herbst reduzieren und die Kinder gemeinsam aufziehen. Frau Abel ist in ihrem Heimatort stark sozial verankert, allerdings hat sie mit ihrer Ursprungsfamilie, die ebenfalls am Ort wohnt, nur sporadischen Kontakt.

Universitätssozialisation

Das Studium machte ihr keinen Spaß. Das Niveau der Vorlesungen fand sie sehr niedrig. Sie langweilte sich oft und war „genervt“. „Es gab so viele Dummschwätzer und Laller“. Sie ärgerte sich oft, weil sie eine lange Anfahrt hatte „und dann nicht viel passierte“. Sie studierte mit einem minimalen Aufwand und arbeitete stets nebenbei. Alle erforderlichen Scheine erwarb sie innerhalb von vier Semestern „alles hat was gebracht, nur das Studium nicht“. Lediglich von einem Lehrbeauftragten hätte sie viel über Unterrichtsvorbereitung gelernt. „Der war sehr gut, der hat sich ein Bein ausgerissen. Die Profs dagegen waren zu weit von der Schule weg, haben nicht realitätsbezogen und mit veralteten Methoden gearbeitet“. Konkret kritisiert sie, dass mehr Bezug zur Schule notwendig wäre. Der Abschied von den Kommilitonen war für sie problemlos: „War das denn ein Abschied? Wir haben uns einfach aus den Augen verloren. Jeder hat den anderen sowieso ausgenutzt während des Studiums, wenn es um Lehrproben und ähnliches ging. Ich habe einigen geholfen durch die Prüfung zu kommen, aber es waren keine echten Freundschaften. Ich fühlte mich im nachhinein ausgenutzt.“

Konfrontation mit der Praxis in den Schulpraktischen Studien und im Referendariat

Auch in Bezug auf die Praktika kritisiert sie, dass in dieser Zeit viel mehr eigenverantwortlich gearbeitet werden sollte, um während des Studiums Erfolgserlebnisse zu haben. „Ich habe aus der Trainerinnenarbeit viel Kraft fürs Studium gezogen, weil ich da praktisch arbeiten konnte. Das fehlte mir im Praktikum“. Das Praktikum sollte früher und intensiver sein, um die Entscheidung für den Lehrerberuf besser fundieren zu können.

Hingegen war das Referendariat – im Gegensatz zum Studium – die schönste Zeit in ihrem Leben. Es habe ihr großen Spaß gemacht. Endlich konnte ich eigenverantwortlich arbeiten, erlebte die Reaktionen und Anerkennung der Schüler und war auch selbst verantwortlich für meine Fehler, wodurch ich aber schneller lernen konnte. Ich habe heute noch Kontakt zu meinen Schülern aus dem Referendariat. Sie standen Spalier an meiner Hochzeit und schreiben mir heute noch Briefe.“ Im Referendariat bekam sie ein Drittel der Lehrproben erlassen, weil sie so gut war. Den Prüfungstermin vom 2. Staatsexamen bekam sie erst 14 Tage vorher mitgeteilt. Sie hatte gerade eine neue Jungenklasse, „aber die Prüfung verlief super, denn ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Schülern. Ich habe die Prüfer völlig vergessen und so aktiv mit den Schülern gearbeitet wie immer.“ Das dörfliche Milieu und die Kontakte über den Sportverein waren für einen positiven Einstieg in der Praxis sehr erleichternd.

Berufliche Identitätsbildung

„Die Entscheidung, Sportlehrerin zu werden, war für mich ein gradliniger Weg“. Die Motivation für diesen Beruf kam sehr stark von ihr selbst. Doch wurde sie durch die Anerkennung von Erwachsenen, Trainern und Kindern in ihrer Berufsmotivation bestärkt, so dass ihre Entscheidung nie in Frage gestellt wurde. Der Spaß und die Freude am Sport wuchsen mit der Praxis. Schon mit sechs Jahren begann sie zu turnen, sehr bald auch mit Leistungsturnen. Mit 12 Jahren war sie zu groß in ihrer Altersgruppe, stieg auf Leichtathletik um und begann Jüngere im Turnen zu trainieren. Von diesem Zeitpunkt an wollte sie Sportlehrerin werden, obschon sie auch in Kunst Klassenbeste und auch handwerklich sehr begabt war. In der Oberstufe erfuhr sie von dem neuen Fach Polytechnik und wollte dies unbedingt studieren, obschon dies damals für eine Frau noch sehr ungewöhnlich war. Von ihren Eltern wurde sie nicht unterstützt. Ihre sportliche Karriere beruht auf großer Eigeninitiative. Mit 16 Jahren gewann sie eine Meisterschaft, worauf sie das Angebot bekam, ins Sportinternat aufgenommen zu werden. „Für mich bedeutete das endlich, das zu werden, was ich wollte. Es war hart neben dem Unterricht, aber es gefiel mir sehr gut. Ich wurde auch sofort Schülertrainerin und lernte schon da viel Sporttheorie, wodurch ich im Studium erhebliche Vorteile hatte. Diese Zeit gab mir sehr viel Selbstbewusstsein, ich war viel mit Trainern zusammen und die sportlichen Aktivitäten in der Gemeinschaft und meine Erfolge stärkten mich sehr.“ Die Sportbund-Trainer rieten ihr immer wieder davon ab, Lehrerin zu werden und wollten sie als Trainerin gewinnen. Doch sie hielt an ihrem Berufswunsch fest, denn sie konnte und kann sich mit der Lehrerrolle sehr gut identifizieren. Besonders wichtig ist ihr dabei zu erleben, wie ihr Selbstbewusstsein in der praktischen Arbeit wächst, und sie dadurch auch positiv auf die Schüler eingehen kann. Das Erleben der gegenseitigen Anerkennung und Bestätigung; das „gegenseitige sich Anturnen (englisch!)“ erhält einen in dieser Arbeit jung. Ich denke und hoffe, daß sich dies auch positiv auf meine eigenen Kinder auswirkt, auch daß ich sie gut verstehen kann.“ Die Notengebung ist für sie der schwierigste Part am Lehrersein. Sie hat oft Gewissenskonflikte deswegen, weil sie gerecht sein will und dann oft Stunden über Noten brütet. Sie empfindet den Leistungsdruck, der mit den Noten in den Unterricht reinkommt als Gegensatz zum Sozialverhalten, das sie zu entwickeln versucht. „Der Leistungsdruck zerstört das solidarische Handeln unter den Schülern.“

Familiäre Anamnese

Zuhause fühlte sich Frau Abel nicht glücklich, die Eltern führten eine große Gastwirtschaft und waren zeitlich und auch innerlich wenig für sie als Kind verfügbar. „Sie waren mir gegenüber gleichgültig, sie wußten nichts über mich, haben auch nicht nachgefragt, was ich mache, hatten kaum eine intensive Beziehung zu mir. Daher versuchte ich schon früh eigene Wege zu gehen und anders zu leben. Ich wollte zuhören und eingehen auf andere, das ist mir ganz wichtig und nicht, daß nur Arbeit und Hektik im Vordergrund stehen, wie bei meinen Eltern.“ Sie hat heute nur noch eine oberflächliche Beziehung zu ihnen, obschon sie im gleichen Dorf wohnen. Es gibt Konflikte wegen unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen, daher gibt sie ihre Zwillinge nicht oft den Großeltern zur Betreuung. Die Ablösung vom Elternhaus verlief abrupt. „Ich war mit einem Schlag weg (Wechsel ins Sportinternat) … Ich habe eh alles für mich selber gemacht, ich war verantwortlich für mich selbst und ging meine eigenen Wege. Von den Eltern konnte ich nicht viel erwarten.“ Vom Internat aus fuhr sie jedes 2. Wochenende nach Hause, weil der Vater schwer krank war. „Da habe ich auch mehr Bewußtsein für zu Hause entwickelt, aber nach Hause zurückgehen wollte ich auf keinen Fall mehr. Das hat mir nichts gegeben: Man hatte sowieso nie Zeit füreinander, und es war immer alles disharmonisch.“ Sie grenzt sich sehr pointiert von der Lebensauffassung ihrer Eltern ab. Die Eltern hatten nur ihre Arbeit im Kopf, Vergnügen war nichts wert. Andere Leute waren immer wichtig, die eigenen Kinder standen hinten an. Ihr Vater habe in letzter Zeit gesagt, dass er doch Einiges hätte anders machen sollen, doch das wäre jetzt zu spät. „Ich habe meine eigenen Wertmaßstäbe entwickelt, jeder sollte sich selbst soviel wert sein, daß er auch was Eigenes machen kann. Treibenlassen geht nicht, auch nicht das Darüber-hinweg-Gucken. Ich will Zeit haben für meinen Mann und meine Kinder und fühle mich auch für sie verantwortlich. Ich finde es blöde, auf Prinzipien rumzureiten, vor allem in der Erziehung. Ich habe einen sehr freien Stil und fahre gut damit.“ Die Eltern hatten sie eigentlich nie loslassen wollen, sie hätten immer wieder versucht, sie einzufangen und gehofft, dass sie doch noch die Wirtschaft übernehme. „Ich habe mich einfach losgeeist und war glücklich, endlich weg von zuhause zu sein.“

Beziehungsgeschichte

Zur Beziehung zu ihrem Mann wird wenig Konkretes thematisiert, außer dass beide im Sport sehr engagiert sind und sich eine stabile, „harmonische“ Familie wünschen. Sie haben beide viele Freunde im Dorf, in der Regel noch Bekannte aus der Kinder- und Jugendzeit. Frau Abel hat wenig Brüche in ihren Freundschaften erlebt, die Universitätszeit ist auch in dieser Beziehung ohne große Spuren an ihr vorüber gegangen: Es sind kaum Freundschaften aus der Studienzeit erhalten geblieben. Im Sportverein zu ihren Kolleginnen und Kollegen sowie zu den Kindern scheint ein kameradschaftlich-freundschaftlicher Stil vorzuherrschen. Die Interviewerin hat den Eindruck, dass auch in der Ehe kameradschaftliche Wünsche dominieren. Es ist wenig von Sinnlichkeit und Aufregung zu spüren.

Interpretation

Psychoanalytisch orientierte Diskussion der Identitätsbildungsprozesse von Frau Abel

Auffallend an der Identitätsentwicklung dieser Frau ist der abrupte Loslösungsprozess von zuhause, der seine Vorläufer in der verfrühten Autonomieentwicklung von Frau Abel hat. Sie fühlte sich von den Eltern wenig geliebt und vernachlässigt, war gezwungen „schon früh ihre eigenen Wege zu gehen“. Sie entwickelte eine erstaunliche Ich-Stärke, die ihr den frühen, kompensatorischen Absprung in den Sportverein schon als Kind ermöglichte, eine, wie sie selbst betont, durch persönliche Motivation zustande gekommene Leistung. In dieser Sportgruppe erlebte sie Anerkennung und sozialen Kontakt und identifizierte sich schon mit 12 Jahren mit einer Mutterrolle (Trainerin). Aus psychoanalytischer Perspektive ist zu vermuten, dass die frühe Übernahme einer Mutterrolle für andere auch dazu diente, eigene traumatische Erlebnisse aus der Kindheit zu bewältigen und sich „zu beweisen“, dass sie sich selbst und anderen eine „gute Mutter“ sein kann und unabhängig ist von einer Bemutterung von außen. Die Bewältigung der erwähnten Kindheitstraumen (die wir nur vermuten können und evtl. im Zusammenhang mit dem Selbstbild von Frau Abel, als „ungeliebtes“, „unbeachtetes“, „vernachlässigtes Kleinkind“ stehen etc.) scheint in engem Zusammenhang zu ihrer Motivation zu stehen, Lehrerin zu werden, ein Berufswunsch, der sich schon in ihrer Schulzeit herausbildet und in der Adoleszenz rasch festigt. Es fällt auf, dass sie, verglichen mit anderen interviewten Frauen, relativ wenig Ambivalenzen gegenüber dem Beruf „Lehrerin“ äußert: Ihre berufliche Identitätsbildung fiel uns auf als erstaunlich „geradlinig“ und ungebrochen. So antwortet sie auf die Interviewfrage: „Ist das Lehrersein ein wichtiger Teil von Ihnen?“: „Das ist klar, keine Frage!“

Diese innere Eindeutigkeit mag ein Grund sein, warum es ihr gelingt, ihre Kontakte über den Sportverein in dem Sinne produktiv (d.h. ohne große persönliche Hemmungen oder Schuldgefühle) für sich zu nutzen, dass sie nun verbeamtete Lehrerin ist, obwohl sie seit dem Referendariat nie mehr im Schuldienst tätig war. So wirkt sie in ihrem jetzigen Milieu (Ehe, Dorf, soziales Umfeld) leistungsfähig, ausgefüllt, lebenstüchtig und zufrieden. Doch zeigt zum Beispiel ihre heftige Reaktion auf die Arbeitslosigkeit, die sie als sehr belastend empfindet, „als saublöd“, dass ihr stabiles Identitätsgefühl sehr von ihrer äußeren sozialen Situation, auch von ihrer Berufstätigkeit, abhängig ist. Sie konnte die durch die Arbeitslosigkeit erzwungene Passivität nur sehr schlecht ertragen, vermied passive Zeiten durch Jobben, Hausbau, fast zwanghaftes Arbeiten im Garten („Ich habe mich da richtig reingesteigert.“) etc. Psychoanalytisch gesehen möglicherweise ein Hinweis auf tiefe Ängste vor Passivität. Zu dieser Hypothese passt, dass sie bis kurz vor der Geburt ihrer Zwillinge aktiv Sport betrieb, „ihren Körper unter Kontrolle hielt“. Die anfängliche Zurückgezogenheit mit den Babys konnte sie nur schlecht ertragen, und nahm bald wieder ihre Tätigkeit als Trainerin auf. So vermuten wir, dass Frau Abel, aufgrund ihrer verfrühten Autonomieentwicklung, einen „geradlinigen Identitätsbildungsprozeß“ durchlief, der ihr wenig Pendeln zwischen unterschiedlichen Identitätsentwürfen und daher auch wenig bewussten und unbewussten Entscheidungsspielraum für ihre Identitätsfestlegung erlaubte. Gefühle der Unsicherheit, des „Noch-nicht-Wissens“, der Selbstzweifel wurden vermutlich durch rasche und eindeutige Festlegungen vermieden. Auch war wohl die einmal erlebte intensive Befriedigung als zwölfjährige „Sportlehrerin“ für sie u.a. als „Bewältigungsmöglichkeit“ erlittener frühkindlicher Traumatisierungen in Zusammenhang mit einem chronisch als ungenügend erlebten „mothering“ (Winnicott) derart prägend, dass sie an ihr auch in rigider Weise festhalten musste. So konnte sie z.B. das psychosoziale Moratorium als Studentin wenig nutzen, eine „produktive Verunsicherung“ durch Anregungen und Reflexionen wurden von ihr als „dummes Geschwätz“ erlebt. Ein Hinweis auf eine gewisse Einschränkung ihrer spätadoleszenten Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten erinnern die Identitätsbildungsprozesse dieser jungen Frau an Entwicklungsprozesse, die von Mario Erdheim (1988) als typisch für „kalte“ (d.h. traditionsgeleitete) Kulturen beschrieben werden. Ihr Bild als Frau ist zwar auf den ersten Blick durch dasjenige einer modernen, berufstätigen, emanzipierten Frau geprägt; doch unterscheidet es sich auf den zweiten Blick kaum von jenem ihrer Mutter, bzw. einem traditionellen Mutter- und Frauenbild. So erkennt man bei näherer Betrachtung eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihrem organisierten Berufsalltag und jenem ihrer Mutter als Wirtin (vgl. auch die Art und Weise, wie sie in der Berufs- und Freizeitgestaltung ihres Ehemannes aufgeht, so dass die Interviewerin den Eindruck bekommt, sie selbst stünde im Schuldienst).

Wir haben diskutiert, dass Frau Abel in ihrem jetzigen sozialen Umfeld über ein stabiles, tragendes Identitätsgefühl verfügt. Doch lassen sich darin Züge einer „Pseudoidentität“ finden, da es sehr an das Ausfüllen eines ganz spezifischen Rollensets in der Realität gebunden ist. Bei einem abrupten Wechsel dieses Rollensets, z.B. durch einen Wechsel der sozialen Umgebung (Stadt statt Dorf, aber auch längerfristige Arbeitslosigkeit, Scheidung etc.) besteht evtl. die Gefahr, dass es zu einer schweren Identitätskrise kommen kann. Frau Abel selbst scheint diese Grundproblematik zu spüren, wenn sie sagt: „Diese scheinbaren Freunde (aus dem Studium) sind heute nicht mehr meine Freunde … Dafür habe ich wieder die Freunde aus dem Ort, wie früher. Trotzdem fühle ich mich manchmal isoliert und alleingelassen.“ Im Gießentest äußert sie zu Frage 4: „Ich glaube, eine Änderung meiner äußeren Lebensbedingungen würde meine seelische Verfassung sehr stark (Einschätzung 5) verändern“. Eine weitere vage psychodynamische Bestätigung dieser Hypothese sahen wir in der Reaktion von Frau Abel auf die Anfrage, ob sie bereit wäre, an einem Tiefeninterview teilzunehmen. Für die Analytikerin war am Telefon ein großer Zwiespalt spürbar, zwischen einer übergroßen Sehnsucht nach Zuwendung und Passivität einerseits und der Angst vor Autonomieverlust anderseits. „Ich möchte doch lieber nicht. Ich habe Angst, zu sehr ins Grübeln zu kommen und vieles zu hinterfragen, was jetzt einfach so funktioniert.“ Eine Angst vor der Infragestellung des „Gradlinigen“?

Literatur:

Erdheim, Mario (1988): Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur. Frankfurt/M.

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