Falldarstellung

Wir Lehrer kennen alle diese eigentümliche Situation sehr gut: Die Türe zu dem Klassenzimmer, in dem wir eben unterrichten, öffnet sich. Der Direktor der Schule betritt, meist wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn, den Klassenraum. Wir sind darauf nicht vorbereitet und hoffen im ersten Augenblick, daß die Schüler unsere Erschrockenheit nicht wahrnehmen. Die Klasse verliert jedoch schlagartig ihre gewohnte Spontaneität. Stille breitet sich aus. Ob sie von konstruktiven oder destruktiven Impulsen getragen ist, wird sich erst noch zeigen. Unsere Stunde hat vielleicht ganz spielerisch und kontaktfreudig begonnen. Wir waren sozusagen ganz „locker“. Und nun wandelt sich die Szene blitzartig in eine von hintergründigen Motiven und Mechanismen beherrschte, in eine durch keine pädagogische Empirie zu erhellende Situation. Lediglich die Ursache für die leicht überdisziplinierte Grundeinstellung aller Beteiligten, das unausgesprochene „Geheimnis“ aller Anwesenden, ist eindeutig auszumachen: die sich ausbreitende Künstlichkeit und fassadenhafte Sterilität des Unterrichtsgeschehens basiert – da sich an den Rahmenbedingungen des Unterrichts, dem Stoff, dem Thema, an der Stimmung aus vorhergegangenen Stunden, an uns selbst, an der Grundeinstellung der Schüler zum Fach usw. nichts geändert hat – auf jenem „Faktor“, der zur Szene neu hinzukam. Dazu kommt – so können wir rückblickend mutmaßen – selbstverständlich noch die Beziehung aller Personen zu diesem „Faktor“, jene Atmosphäre, die sich spontan und automatisch einstellt. Die Psychoanalyse spricht hier von einer „Übertragungssituation“. Die neu hinzutretende Person aktiviert trotz oder gerade wegen ihrer zurückhaltenden Distanz und Anonymität die unbewußten Phantasien aller Anwesenden.

Ich war mit diesen Zusammenhängen nicht nur theoretisch, sondern auch mit meinen Übertragungsneigungen gegenüber Autoritätspersonen praktisch einigermaßen vertraut, als sich wieder einmal im Beurteilungsjahr die Türe öffnete und der Leiter der Schule mit allen Gesten der Beschwichtigung und Beruhigung in seiner sonst sehr freundlichen, menschlich-zurückhaltenden Wesensart kurz nach Stundenbeginn, mit einem Notizblock unter dem Arm, den Klassenraum betrat. Das Gespräch über Literatur war in einer 10. Klasse – es ging gerade um Huxleys „Schöne neue Welt“ – bereits voll im Gange und von lebendigem Interesse getragen. Die Schüler sprangen sofort jäh von ihren Stühlen auf. Dennoch konnte ich, scheinbar ohne Unterbrechung, das Unterrichtsgespräch, sozusagen im Satz, fortführen. Der Direktor setzte sich leutselig in die Mitte des Klassenraumes neben eine Schülerin. Ich brauchte selbstverständlich zunächst nicht das geringste Gefühl einer Beunruhigung oder Verspannung zu haben. Die Schüler blieben weiterhin voll bei der Sache und zeigten eher etwas demonstrativer als sonst, „was sie konnten“. Dies alles eher zu meiner Genugtuung. Nur ein Gedanke beschäftigte mich neben den selbstverständlich ständig zu bedenkenden Fragen zum inhaltlichen Aspekt des Unterrichtsgespräches: Der Leiter der Schule hatte von der Thematik unseres Gespräches, von der Problemstellung und vom Niveau des Besprochenen, wenig Ahnung; um so mehr mußte er sich also am „Atmosphärischen“, am „Interaktionsstil“ orientieren. Wichtig war wohl, wie viele Schüler sich pro Frage meldeten. Wie würde er meinen Kontakt zu diesen Schülern wahrnehmen usw.? Ich hatte also keine Prüfungsängste, sondern ich spürte eine starke Neigung, mich sehr genau in die Beurteilungsperspektive meines Prüfers einzufühlen.

Nun habe ich für Unterrichtsstunden meist ein klares, didaktisch und methodisch durchdachtes Konzept. Den konkreten Unterrichtsablauf halte ich jedoch so offen und so situationsbezogen wie das die Klasse erlaubt. Im Idealfall leiten mich phasenweise szenische Einfälle, spontane Fragen, Interessenschwerpunkte der Schüler am Text, emotionale Verdichtungen im Gespräch usw. Thema und Stoff, das inhaltliche oder formale Problem, sind natürlich als Rahmen vorgegeben, die Dialogführung aber folgt primär der Logik einer inneren Balance von Lust am Text, Identifikation oder auch emotionaler Abwehr. In dieses offene, situative, freisteuernde Gesprächssystem, das auch jetzt und in dieser Stunde scheinbar zunächst wieder lebendig Gestalt annahm, drang nun allerdings eine Art „Gedankenwurm“ ein. Langsam und immer nachhaltiger wurde dieser „Gedanke“ zu einer inneren Formel, zu einer Markierung für mein Tun, die von Kräften der emotionalen Verdichtung und Verschiebung, von sich rasch konzentrierenden Energien offenbar getragen und heimlich genährt wurde. Den bewußten Anteil jenes inneren Erlebens habe ich oben schon zu benennen versucht. Ich hatte während meines Gespräches mit den Schülern über Huxleys „Schöne neue Welt“ immer wieder die Phantasie, der Direktor der Schule würde sein Urteil über die Stunde am Meldeverhalten der Schüler orientieren. Mich selbst begann also die Vorstellung zu regieren: „Wenn sich viele Schüler (möglichst viele!) möglichst häufig und engagiert am Unterricht beteiligen, dann hinterlasse ich sicher den besten Eindruck!“ Diese innere Formel war mir als Handlungsorientierung damals in der ganz konkreten Szene der Lehrer-Schüler-Interaktion selbstverständlich nicht ganz bewußt. Dennoch war und blieb sie es, die – durch die Anwesenheit des Schulleiters induziert – mein Verhalten in gewissem Umfang nun sogar gegen meine sonstigen Gewohnheiten zu beeinträchtigen begann. Tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, und ich beobachtete bereits an mir selbst, wie ich als Reaktion auf eine m. E. geringer werdende Beteiligung der Klasse nun plötzlich etwas affektierter und besonders wohlartikuliert zu sprechen begann. Die Schüler, so schien es mir zunächst, wurden hingegen zunehmend zurückhaltender. Meine Angst, gerade dies sei nun eine schlechte Entwicklung unter den gegebenen Umständen, wurde indessen zunehmend größer. Nach weiteren Minuten einer scheinbar schicksalhaften Entwicklung meldeten sich dann tatsächlich nur noch drei Musterschüler, die Besten der Klasse. Dann aber kam – unvermeidlich! – die erste Schweigepause. – Es trat also genau das ein, wovor ich mich unbewußt gefürchtet hatte. Eine innere Formel konnte das offene Spiel eines Unterrichtsdialogs als dominierendes „Gesetz“ maßgeblich beeinflussen. Verborgen hinter dem Wunsch, einen „guten Eindruck zu machen“, konnte sich als Handlungsmaxime unbemerkt der schlichte Wunsch aus dem Fundus narzißtischer Bedürftigkeit durchsetzen: das unbewußte „je perfekter, desto eindrucksvoller“. Aus ihm wurde in kürzester Zeit ein – gottlob! – nicht ganz perfektes, aber durchaus eindrucksvolles Schweigen der gesamten Klasse.

Interpretation

Das Problem einer pädagogischen Praxeologie ist also auch das von unbewussten, inneren Formeln, die von einem bestimmten Zeitpunkt an die gesamte pädagogische Szene zu regieren beginnen. Sie bleiben unbewusst, d. h. sie sind in der Situation des Handelns auch gar nicht bewusstseinsfähig. Lediglich die spätere Bereitschaft, das zunächst fremde, irritierende „Gesetz“ der Szene zu verstehen, kann, nachdem ein innerer Widerstand überwunden wird, die wichtige Einsicht ans Licht fördern. Wenn also Praxeologie dem technischen Verständnis von Handlungswissen ganz sicher nicht neben-, sondern als Sinnorientierung immer schon überzuordnen ist, wäre sie zudem auf einen Vernunftbegriff zu gründen, der das Unbewusste in uns nicht schlicht ignoriert. J. Derbolav sprach schon vor Jahren im Anschluss an Hegel von dessen leitender Vorstellung vom „Im-Anderen-zu-sich-selber-Kommen“ (Derbolav 1960, S. 21). Diese Vorstellung von einem „Anderen“ ist auf eine unaufhebbare Weise doppeldeutig. Der Andere bleibt uns immer dann zwangsläufig fremd, wenn das Andere in uns, in unserem eigenen Selbst, aus Gründen psychischer Abwehr verborgen geblieben ist. Was daher die Basisbestimmungen unseres pädagogischen Handlungsdenkens betrifft, so erhalten wir aus dem oben gegebenen Fallbeispiel einen entscheidenden Hinweis: unsere pädagogischen Handlungsregeln folgen gerade dort, wo unsere Urteilskraft uns im Stich lässt, wo wir uns zu rasch und zu blind entscheiden, nicht selten automatisch einer unbewussten Zwangslogik. Die scheinbar harmlosen Wenn-dann-Gesetze unseres Alltagsdenkens sind im Allgemeinen vormoralisch, weil sie die Spannung einer offenen Subjekt-Subjekt-Beziehung längst preisgegeben haben. Die Verblendung der Vernunft entsteht aus einer letztlich bewusstseins-unzugänglichen, dennoch nicht minder wirkungsvollen Klischeebildung heraus, die dann durch ideal formulierte Ansprüche noch verbrämt wird. „Nenne mir deine pädagogischen Prinzipien, und ich sage dir, wer du nicht mehr bist!“ Die Summe unserer abstrakt zur Anwendung kommenden Wenn-dann-Hypothesen wäre dann der direkteste Ausdruck für unsere „deformation professionnelle“.

Letztlich mündet also alles in die Frage nach den Bestimmungsmomenten einer pädagogischen Urteilskraft. Es geht alles um deren Eingebundensein in moralisch-praktische Verhältnisse und um die Entfaltungsmöglichkeiten dieser Urteilskraft im pädagogischen Feld. Nicht abzuweisen ist dabei die Einsicht, dass wir im Alltag mit unseren „Theorien“ mitunter jene handlungsleitenden Orientierungen gar nicht erreichen, die unsere Handlungsschemata bestimmen. Es geht nicht und kann nicht darum gehen, wie wir im Alltag nach verstandesmäßigen Gesetzen handeln. Es geht darum, mit der konzentrierten Ausdauer unserer freien Urteilskraft (mit unseren synthetischen Ich-Kräften, mit unserer Fähigkeit zur Ich-Regression, mit dem Potential an sekundärer Ich-Autonomie) jene „Gesetze“ im tausendfachen Etwas des pädagogischen Alltags aufzuspüren, die eine Entfaltung des Selbst verhindern, die Denken, Urteilen, Erleben, Erfinden und Phantasieren in Wiederholungszwängen ersticken – jene Gesetze, die zerstören, was sich entwickeln will. Es geht um das Aufspüren jener quasi-gesetzlichen Schwellen, die sich wie Bannkreise, Gummizäune, „Laufställe“ als die ständige Reinszenierung von Pseudodramen immer wieder gegen die Entfaltung der Vernunft des Einzelnen oder ganzer Gruppen sperren.

Literaturangabe;

Derbolav, J. (1975): Umrisse einer Praxeologie. In: Derbolav, J.: Pädagogik und Politik. Stuttgart.

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