Falldarstellung

Das Tote war auf seltsame Weise lebendiger als das Lebendige in der 12. Klasse des Grundkurses Deutsch. Die Schüler verhielten sich von der ersten Stunde an vordergründig zwar stets sehr freundlich; bei genauerem Hinsehen aber entpuppte sich diese Form der Freundlichkeit als ein unerbittlicher Kampf um „Normalität“. Die Routine des Schüleralltags war liebevoll gehüteter Bestandteil ihres Lernens geworden.

Die Schüler spielten nun Lernen, sie lernten nicht mehr durch das Spiel und durch Erfahrungsexperimente.
Der Kurs sollte sich mit den Strophen von G. Benns Gedicht auseinandersetzen:

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du musst.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

Das Gespräch kam zunächst nicht recht in Gang. Doch plötzlich begann sich die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie denn die letzte Zeile zu verstehen sei. Eine Schülerin aus dem „Leistungskurs Kunst“ äußerte die Auffassung, das „gezeichnete Ich“ hätte nichts damit zu tun, dass das Schicksal einen Menschen „zeichne“, ihn präge, ihm eine Form aufdrücke. Benn spreche hier nur davon, dass man sein „Ich“ vor einem Spiegel „zeichnen“ könne; man setzt sich eben vor einen Spiegel und „malt oder zeichnet“ sein „Ich“.

Der Kurs stellte sich in kämpferischer Solidarität hinter diese Auffassung; verbale Unterstützung kam vor allem aus dem „Leistungskurs Kunst“.

Ob narzisstisches Klischee, ob Fehlleistung oder allzu phantasievolle Deutung – es war zu spüren, dass die Schüler im Unterricht mit dem Schmerz im Bild vom „gezeichneten Ich“ oder gar vom existentiellen „Stigma“ nichts anfangen konnten; zumindest nicht hier, im Unterrichtsraum der Schule. – Alle Libido hatte sich inzwischen in den „Leistungskurs Kunst“ geflüchtet und blieb an dieses „Liebesobjekt“ fixiert.

Einige Monate später schlug ich nun – selbst neugierig geworden – dem inzwischen etwas aufgeschlossener gewordenen Kurs vor, in der letzten Stunde des Schuljahres, sozusagen als Abschluss und Neubeginn, einen Text zur Unterrichtseinheit „Kurzprosa“ nicht nur zu analysieren, sondern durch szenisches Spielen zu erschließen. Die Wahl der Schüler fiel spontan auf das Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Irgendetwas schien die Kollegiaten an dieser Märchenerzählung zu faszinieren: Einem Kind, das mit einer Glückshaut geboren wird, wird geweissagt, es würde die Tochter des Königs zur Frau haben.

In der ersten Szene des Märchendramas dominierte die Rolle des Königs, der – ungeachtet des Märchenhinweises, er gehe „inkognito“ unter die Leute – als mächtiger und rücksichtsloser Herrscher auftrat: Alle, die sich seiner Macht widersetzten, werde er „enthaupten“ lassen. Schließlich übernahm der Schüler, der die Rolle des Königs spielte, spontan zusätzlich auch die des Räubers und setzt sich kampfeslustig in Szene. Als die Räuber das „Kind mit der Glückshaut“ sahen, empfanden sie – wiederum im Gegensatz zur Märchenvorlage – keinerlei Mitleid, erstachen das Kind kurz entschlossen und belustigt und warfen es in den Wald. – Die Räuber selbst – nicht das Glückskind – wollten nun zur Königin gehen und um die Königstochter werben.

Die zunehmend regressiver werdende Stimmung brachte das unbewusste Klischee, von dem das gemeinsame Erleben in der Gruppe beherrscht war, dann immer deutlicher zum Vorschein: Die Räuber selbst boten sich als „Ehegatten“ der Königin an und der Teufel wollte von der Großmutter nur noch erfahren, wie man zu „Macht und Größe“ kommen könne. Der nun entstehende Kampf aller gegen alle, so war zu erkennen, hätte kein Ende mehr gehabt …

Interpretation

Das Rollenspiel am Ende des Schuljahres in entspannter Atmosphäre machte deutlich, was in den Monaten vorher das Klima im Unterricht so sehr belastet hatte: der unerbittliche „Machtkampf“ und das Agieren mit dem „Opfer-Täter-Komplex“. „Der Kampf, der in tieferen Schichten getobt hatte, setzte sich nur in einer höheren Region fort …“ (Freud 1923, S. 306).
Wenn also der erste Anschein nicht trügt, so tut die Schule zu wenig dazu, dass sich Adoleszente lösen können von ihrem „Triebschicksal“ oder dass regressive Fixierungen im Bereich des frühkindlichen Erlebens überführt würden in „reifere Formen von Idealität“. Schule vermittelt Wissen und Können weitgehend im Beziehungssystem eines „Unterwerfungsvertrages“ (Hobbes), der dann den unbewältigten und unausgesprochenen regressiven Machtkampf als Strukturbildung verinnerlicht.
Das sogenannte „Realitätsprinzip“ im Unterricht verhindert in der Tat eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit den früher erworbenen Störungen der Erfahrungsfähigkeit. Von einem „adaptiven und segensreichen Gebrauch“ (Erlich 1990, S. 223) der typischen Abwehrmechanismen der Adoleszenz kann also im Setting Unterricht kaum die Rede sein.
Ein rigides Festhalten an oder das Beharren auf strikter Realitätsprüfung verhindern die Entfaltung kreativer Aspekte. Das Phantasieleben, die Vorstellungskraft und eine „adäquate Ausbildung des Gefühls für sich selbst und andere“ (Erlich 1990, S. 233) verkümmern dann.

Was zeigt sich? Die Fallbeispiele [vgl. auch Die warme Ofenbank“, „Perikles, der große Politiker] verweisen gerade über die in Erscheinung tretenden „Fehlleistungen“ auf defizitäre Bedingungen des schulischen Rahmens für Lernen.
Die amerikanische Psychoanalytikerin McDougall (1988, S. 26) unterscheidet zwischen zwei Quellen für traumatisch wirkende Erfahrungen. Auch Störungen im Unterricht entstehen vermutlich entweder durch den Versuch, seelischen Schmerzen zu entfliehen oder aber durch den Versuch, unzusammenhängenden Mitteilungen der „Eltern“ einen Sinn abzugewinnen.
Im Diskurs der psychoanalytischen Pädagogik wurde bisher möglicherweise der Aspekt einer neurotischen Disposition der Schüler für Unterrichtsstörungen zu sehr betont. Die Abweichung des Verhaltens, der Schmerz, der weitergereicht wird, die Kränkung, kann so zwar möglicherweise besser verstanden werden. Diese einseitige Suche nach „Störungen“ im Sinne „neurotischer Abweichung“ im Unterricht verstellt jedoch den Blick für die eigentlich viel subtilere Wirkung des in vielen Bereichen auf Desintegration basierenden gesamten psychischen Raumes. – Traumatisierend wirkt die Schule nicht zuletzt durch die vielen völlig „unzusammenhängenden Mitteilungen“ und den Wirrwarr, den sie als gesellschaftlicher Ort „organisierter Bildung“ den Schülern zumutet.
Hierzu abschließend nur einen Gesichtspunkt: Der Erfahrungsprozess im Unterricht ist bisher darauf abgestellt, dass zweckrationales Lernen und konflikthaftes Erleben praktisch völlig getrennt nebeneinander existieren. Insbesondere Lehrer am Gymnasium verstehen sich nach wie vor als „Fachkollegen“, die sich mit pädagogischen Fragen eigentlich nicht zu befassen haben. In einer ganz fundamentalen Weise mutet die Schule so den Adoleszenten zu, das völlig unzusammenhängende Nebeneinander von kognitiven und emotionalen „Mitteilungen“ in solchen Lernprozessen zu verarbeiten. Zweckrationale Orientierungen und ästhetisch-moralische Praxis (vgl. Hirblinger 1999) können in der Schule so kaum in Ansätzen – wie von der Verfassung eigentlich gefordert – vermittelt werden. Auf die Auswirkungen dieser organisierten Spaltung des Erlebens auf den Identitätsbildungsprozess der Adoleszenten kann ich hier jedoch nur hinweisen: Es geht darum, dass die beiden elementaren Pole adoleszenter Stukturbildung, die Integration und die Differenzierung zweier Existenzformen, die im „Being-“ und „Doing“ (Erlich 1993) begründet sind, nicht mehr als Einheit erlebt werden können.

Solange Lehrer im Umgang mit Adoleszenten ihre „antipsychotische Abwehr“ (Fürstenau 1992, S. 99), d.h. ihre ausschließliche Orientierung an der Logik von Macht und institutionalisierten Dreierbeziehungen aufrechterhalten, um ihrerseits traumatische Erfahrungen mit der Schule abzuwehren, sind sie aus strukturellen Gründen kaum in der Lage, sich auf die Erfahrungsmodi des „frühen Ich“ einzulassen. Der gesamte Bereich der Spaltungsprozesse, der unbewussten Delegation, der manischen Schuldverleugnung, der überkompensierenden Reaktionsbildung tritt dann jedoch auch nicht in den Horizont ihrer pädagogischen Praxis.

Literaturangaben:

Erlich, S.H.: Verleugnung in der Adoleszenz. Einige widersprüchliche Aspekte. In: Psyche 44 (1990), S. 218-239

Erlich, S.H.: Phantasie und Realität in der Adoleszenz. In: Leuzinger-Bohleber, M. u. Mahler, E. (Hg.): Phantasie und Realität in der Spätadoleszenz. Opladen. 1993, S. 115-128

Freud, S.: Das Ich und das Es. In: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M. 1980, S. 273-330

Hirblinger, H.: Über Symbolbildung in der Adoleszenz. In: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 3, Mainz. 1991, S. 90-117

Hirblinger, H: Pubertät und Schülerrevolte. Mainz (Matthias-Grünewald) 1992 Hirblinger, H.: Erfahrungsbildung im Unterricht. Die Dynamik unbewusster Beziehungskonflikte im unterrichtlichen Beziehungsfeld. Weinheim und München. 1999

McDougall, J.: Theater der Seele. Stuttgart. 1988

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