Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der gewählte Text ist ein eindrückliches ‚schülersubkulturelles Dokument’, ein Redemanuskript für einen Abi-Gag, das Schüler verfasst haben, die an der Schule als problematisch, störend, aufmüpfig, abweichend und schwierig etikettiert werden. Der Abi-Gag war am letzten Schultag im Jahre 1996 als Inszenierung einer Beerdigungszeremonie des Absolventenjahrganges im Schulpark geplant. Lassen Sie sich also auf die schulische Hinterbühne einladen, die die Schüler beim Verfassen der ,Grabrede‘ antizipiert haben. Reihen Sie sich gedankenexperimentell in die Trauergemeinde ein, die sich unter dem großen Baum im Park versammelt hat, bei sengender Hitze und umwoben von Ketchupduft, der den Blick auf die rote Flüssigkeit verführt, die aus dem aufgestellten Pappsarg tropft. Lauschen Sie, was der Abiturient Werner als betrunkener Prediger im schwarzen Talar zu sagen weiß:

Im Namen des Nitzsche, Fichte und heiligen Klopstock …

Die ‚Grabrede des Predigers’ beginnt mit einer Destruktion des Heiligen, insofern die Segensformel „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ mit neuem Inhalt gefüllt wird. An die Stelle des dreieinigen Gottes wird ein dreieiniges Götzenbild als ‚goldenes Kalb’ aufgestellt: Nietzsche, Fichte und Klopstock – alle drei Geistesgrößen sind Ehemalige dieser Schule. Damit sind die ‚goldenen Ehemaligen’ als sinnstiftende Verbürgungsinstanz benannt, gleichsam aber auch in das Zentrum einer ironischen Figur gerückt und mit ihnen all jene schulischen Akteure, die diese Ehemaligen als Inkarnation der schulischen Erfolgsgeschichte verehren. Stringent müssten sich diese Verehrer im Bemühen um die Tradierung der damaligen schulischen Verhältnisse und um die Wiederherstellung der ‚goldenen Zeit’ durch gegenmodernistische Orientierungen auszeichnen.

Als zentrales Strukturproblem der Schule lässt sich die Anerkennungskrise der tradierten schulischen Ordnung rekonstruieren, auf deren Erhalt deutlich insistiert wird. Dieses Tradierungsbestreben wird von den stimmstarken schulischen Vertretern in einer interessanten Figur legitimiert und begründet: Ausgehend von der Konstruktion eines Zwei-Welten-Modells, werden im schulischen Außen die Krisen der Moderne verortet, die in einem fortschreitenden technischen Rationalisierungsprozess gründen. Die Lösung der Krisen wird in der Figur einer reflexiven Entmodernisierung der Welt entworfen, indem zwar die Reflexion des Spielraums von Handlungsoptionen empfohlen, jedoch nur die Wahl des Anschlusses anerkannt wird, der die traditionale (schul-)kulturelle Ordnung bestätigt. Verbunden mit einem historischen Machbarkeitsglauben wird der aufklärerische Bewährungsmythos der Schule im Verhältnis zur Welt im Bild eines potenziellen Anführers einer neuen historischen Entwicklung entworfen.

Wenn nun der Verfasser die ‚goldenen Ehemaligen’ ironisiert, lässt sich daraus zwar eine subtile Distanz zu einem solchen verheißungsvollen Reproduktionsentwurf der schulischen Ordnung und Entmodernisierungsentwurf der modernen Welt ableiten, jedoch bleibt die Haltung gegenüber dem Gedankengut der Geistesgrößen offen. Wenn auch äußerst riskant, deuten sich in der fehlerhaften Schreibweise des Namens ‚Nietzsche’ eher defizitäre Kenntnisse an. Indem sich die Ironie auf den schulischen ‚Kult’ bezieht, den die ‚Verblendeten’ um die ‚goldenen Ehemaligen’ betreiben, wird schließlich auch das schulisch Heilige destruiert und damit die Legitimations- und Charismatisierungsgrundlage eines schulischen Handelns, das auf eine entmodernisierende Wiederbelebung der ‚goldenen Zeit’ zielt. Als Strukturhypothese lässt sich so weiterführend zusammenfassen: In einer ironischen Figur wird durch oppositionelle Schüler eine doppelte Destruktion des Heiligen vorgenommen, die sich erstens auf Orientierungen an religiösen Inhalten und Formen und zweitens auf die gegenwärtig dominante Geltungsquelle schulischer Ordnung und Handlungsorientierungen beziehen lässt: das Götzenbild der ,goldenen dreieinigen Ehemaligen’, die als Gewährsmänner einer modellhaften pädagogischen Bewährung von einem dominanten Pol schulischer Akteure vorgehalten werden. Damit wird der ironische Bezug auf die Orientierung an einer Regenerierung und Tradierung der einst bewährten schulischen Ordnung und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine Fortschreibung der schulischen Erfolgsgeschichte gerichtet. Dass der Redner diesen ,stimmstarken’ Akteuren kritisch distanziert gegenübertritt, lässt ihn im Lichte eines ‚aufklärerischen Geistes’ erscheinen. Als ‚Prediger’ nimmt er jedoch auch die Stellvertreterposition des Götzenbildes ein, ist ihr Sprachrohr, verkündet in ihrem Namen und steht damit den Verbürgenden auch ganz nah. Hier zeichnet sich mit Blick auf den ‚predigenden’ Schüler Werner eine äußerst ambivalente Haltung gegenüber den dominanten schulischen Orientierungen ab.

Werners biographische Erzählung ist durchzogen von einer durch und durch ambivalenten Bewährungsdynamik. Werners Eltern studierten beide in der ehemaligen DDR Philosophie im Schwerpunkt Wissenschaftlicher Kommunismus. Der Vater aus ärmlichen, dörflichen Verhältnissen kommend, wird von dem Sohn als Gewinner der bildungspolitischen Förderungspolitik des Arbeiter- und Bauernstaates ausgewiesen; die Mutter verkörpert durch ihre, wenn auch inkonsistente kommunistische Weltanschauung eher einen Bruch in der gutbürgerlich-intellektuellen Traditionslinie ihres Herkunftsmilieus. In ihrem angespannten Karrierestreben delegieren die Eltern die Betreuung des Kindes an öffentliche Einrichtungen, schließlich bietet sich die Urgroßmutter mütterlicherseits an und umsorgt Werner. In dieser signifikanten Beziehung entwirft sich Werner rückblickend als Hoffnungsträger der Urgroßmutter, die bildungsbürgerliche Aura in der Familientradition neu zu repräsentieren. Dieser Familienauftrag wird schließlich mit dem Zusammenbruch der DDR durch die Mutter bestärkt. Demgegenüber erzählt Werner seine Biographie auch als Rückzugsgeschichte seiner Eltern, in der sich Werner die Rolle eines weitgehend auf sich selbst angewiesenen Überlebenskünstlers zuschreibt. In diesem Selbstbild etablieren sich Werte wie Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und schließlich ein Autonomieanspruch, dessen Einlösung eine gelungene Individualisierung sichert. Hier zeigt sich interessanterweise eine strukturelle Kongruenz zwischen biographischer und schulischer Bewährungsdynamik an: Steht der Tradierungsauftrag von bildungsbürgerlichen, intellektuellen, humanistischen Werten und Normen für eine Gehorsamsbewährung, so wird deren Einlösung gerade durch den Anspruch einer Vergewisserung lebenspraktischer Autonomie konterkariert. Wird die schulische Lösung dieses Widerspruchs in der Figur einer reflexiven Entmodernisierung entworfen, entschärft Werner das Krisenpotenzial dieser Bewährungsfalle in der Ironie, die es ihm ermöglicht, aus einer reflexiven Distanz die gegenläufigen Ansprüche gleichzeitig mit affirmativer Anerkennung und aversiver Kritik zu umspielen.

Liebe Lehrer, Lieber Lichtenst., euer Kind der zwölfte Jahrgang ist gestorben …

Nachdem die ‚Trauergemeinde’ in der Lehrerschaft und dem Schulleiter der Schule konkretisiert ist, wird der Anlass der Feier benannt: der Tod ihres Kindes. Damit werden Familialisierungsansprüche im schulischen Beziehungsnetzwerk thematisiert.

Hier nimmt der Schüler Werner genau auf den dominanten internatsschulischen Gemeinschaftsentwurf Bezug, der im Bild einer ‚pädagogischen Großfamilie’ aufgeht. Darin wird den Lehrern die Bedeutung von Ersatzeltern zugesprochen und die Eltern der Abiturienten als formale Erzeuger distanziert. Sie sind Teil der krisenhaften Welt, in der die Schulwelt als ‚künstliches Elternhaus’ die Tür für ihre ‚Kinder’ offen hält. Gerade diese ‚offene Tür’ hat Werner gesucht, als er gewissermaßen ‚elternlos’ an die Internatsschule kam, insofern die Eltern-Kind-Beziehung in der biographischen Erzählung durch tiefgreifende Anerkennungsbrüche gekennzeichnet wird: So erfährt sich Werner einerseits als Projektionsfläche elterlicher Erwartungshaltungen, die von einer gesteigerten Leistungsorientierung durchzogen sind. Zwar kann Werner über bildungsbiographische Erfolge soziale Wertschätzung generieren, eine bedingungslose emotionale Zuwendung bleibt ihm jedoch verwehrt. Andererseits entwirft sich Werner mit Verweis auf die gesteigerten elterlichen Selbstverwirklichungsambitionen und Bildungsinteressen in der Eltern-Kind-Beziehung als Last, was er besonders mit der Delegation der elterlichen Verantwortung an Dritte begründet. Hier werden öffentliche Erziehungseinrichtungen genannt, die jedoch mit Verweis auf Tendenzen zur Uniformierung problematisiert werden. Diese Erfahrungen evozieren schließlich eine Öffnung für Ersatzbeziehungen. In diesem Sinne wird besonders der Urgroßmutter mütterlicherseits und, wenn auch weniger signifikant, den Großeltern väterlicherseits eine Kompensations- und Stabilitätsfunktion zugeschrieben. Auch wenn es Werner darüber gelingt, Selbstvertrauen und Selbstachtung zu generieren, bleibt das Leiden, das sich in der erfahrenen emotionalen Gleichgültigkeit und sozialen Zurückweisung der Eltern gründet, latent auf Dauer gestellt. Und so wird gerade im schulischen Bild einer ‚pädagogischen Großfamilie’, wenn nicht die Lösung, so doch eine kompensatorische Entspannung dieser biographischen Krisenkonstellation verheißen. Damit lässt sich auch zwischen institutionell verheißenem und biographisch motiviertem Entwurf der schulischen Gemeinschaft ein kongruentes Passungsverhältnis rekonstruieren.

euer Kind, das niemanden glücklich gemacht hat und selbst voller Unglück war. Es kommt mir vor wie ein kleiner Mensch, der alles Elend eines mißglückten Lebensabschnittes in sich versammelt. Dieser Jahrgang ist entstanden und geboren unter schlechten trügerischen Voraussetzungen …

Allein die Tatsache, dass das Kind niemanden glücklich gemacht hat und selbst voller Unglück war, entzieht der Beerdigungszeremonie jegliche Grundlage im Selbstverständnis einer Trauerfeier daherzukommen, lässt den Tod im Lichte eines erhofften, ersehnten Ablebens erscheinen. Somit droht die Schulaustrittszeremonie in eine Erlösungsfeier zu transformieren, eine Erlösungsfeier von der Quelle des Leidens, eine Erlösungsfeier zu der alle gekommen sind: die Lehrer, Lichtenst. und die Schüler, im schwarzen Gewand verkleidet. Damit wird alles, was an diesem Tag Formen der Trauer, des Schwermuts und der Wehklage annimmt, als Theater ausgewiesen. Darüber hinaus ist nun die Konstruktion des Kindes als Inkarnation einer umfassenden Enttäuschung aufschlussreich, insofern damit der Sprecher implizit auf Hoffnungen verweist, die an diesen Jahrgang geknüpft waren. Stringent sind diese auf eine Fortschreibung der Schulgeschichte gerichtet, von der noch die berühmten Ehemaligen ein Zeugnis ablegen. Aber der potenzielle Glücksbringer ist bei den ,Wiederbelebungsversuchen’ des goldenen schulischen Zeitalters gescheitert. Er war nicht in der Lage, den Erwartungen der Lehrer gerecht zu werden, die schulische Krisengeschichte zu wenden und eine weitere Verhärtung des Bruchs in der ‚goldenen schulischen Traditionslinie’ zu verhindern. Damit wird das Kind in maximalen Kontrast zu den ‚goldenen Ehemaligen’ gesetzt. Das Kind hat enttäuscht und trägt so die Schuld für den lehrerseitigen aber auch eigenen „mißglückten Lebensabschnitt“. Die damit einhergehende Entwertung des Kindes als Defizit wird jedoch durch den Mitleid erregenden Hinweis relativiert, dass es „selbst voller Unglück war“. War das Kind eben noch der ,Schuldabladeplatz’, erinnert der Verweis auf sein Leid an den Einwand eines Verteidigers vor Gericht, mit dem Ziel, das Strafmaß des Angeklagten zu mildern. Wer möchte auch ein Kind, das voller Unglück war und was noch dazu verstorben ist, am Tage seiner Beerdigung mit Schuld beladen? Damit entpuppt sich der predigende Stellvertreter der ‚goldenen Ehemaligen’ unter der Hand als ein ‚Verteidiger des Kindes’ und damit als ein Fürsprecher, diesen Jahrgang von aller potenziellen Schuld freizusprechen. Der Schüler Werner, Vertreter dieses Jahrganges, wird somit ,Verteidiger seiner selbst’. Ja besser noch, die Schüler versuchen, die antizipierte oder auch erfahrene Verantwortungszuschreibung am schulischen Versagen von sich zu weisen, eine lehrerseitige Läuterung dieser Schuld zu bewirken und somit eine Versöhnung zwischen den ‚Fronten’ einzuleiten. Dies zeigt sich auch in der Konstruktion einer Begründungsfigur des Scheiterns, die das Kind aber auch seine ‚Ersatzeltern’ aus der Verantwortung entlässt: Der Jahrgang stand unter einem schlechten Vorzeichen, einem Unstern also. Die „schlechten trügerischen Voraussetzungen“ bei seiner ‚Geburt’ im Schuljahr 1991/92 werden zitiert. Die Hoffnungen lassen sich vor diesem Hintergrund weiter konturieren, insofern es damit nahe liegt, dass mit diesem Jahrgang, als den ersten Gymnasialen der Internatsschule nach der EOS-Ära, die Bewältigung der Transformationsproblematik im deutsch-deutschen Einigungsprozess demonstriert werden sollte. Das Scheitern wird jedoch rückblickend als strukturell angelegt ausgewiesen. Hier werden die schulischen Akteure verbunden: Sie alle sind gescheiterte ‚Wendeopfer’ -eine versöhnliche Antwort.

Im schulkulturellen Transformationsprozess, ausgelöst durch die gesellschaftliche Umbruchsituation Ende der 1980er Jahre, dominierte das Bemühen um eine Kontinuitätssicherung des exklusiven schulischen Rufes, paradoxerweise durch die Inszenierung tiefgreifender Brüche, die sich in einer umfassenden Abwicklung der EOS-Kultur dramatisch manifestierten. Besonders ist hier die Entlassung von etwa 30 Lehrern des 40 Personen starken Kollegiums zu nennen, gerade im ersten Jahr, wo der neue Schulleiter sein Amt aufgenommen hatte, der zudem ein ehemaliger Schüler dieser Schule und anschließend Lehrer an der westdeutschen Schwesternschule war, die von Ehemaligen gegründet wurde, denen der Besuch ihrer Heimatschule in der DDR verwehrt wurde. Gerade in dem Schuljahr 1991/92, wo dieser Jahrgang eingeschult wurde, sind neue westdeutsche Lehrer eingestellt worden. Die daran anschließende Zeit war gekennzeichnet durch einen ,Ost-West-Krieg’ im gemischten Kollegium, der die Entstehung einer kooperativen Arbeitsgrundlage destruierte. In der Schule spielten sich Szenarien ab, die von einigen Lehrern durchaus traumatisch erfahren wurden und schließlich in eine tabubelastete Schweigekultur kulminierten (vgl. dazu Helsper/Böhme 1999).

Werner erlebte in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nun auch formal die Auflösung der Familienkonstellation. Die Eltern lassen sich scheiden. Werners Vater und Mutter – die ja beide Philosophie im Schwerpunkt Wissenschaftlicher Kommunismus studiert hatten – erfuhren eine massive Entwertung ihrer Bildungskarrieren und einen existenziellen Zusammenbruch. Der Kontakt zu dem Vater ist bis zur Erhebung des biographischen Interviews im Jahre 1998 abgebrochen, die Mutter zieht aufs Land. Mit dieser räumlichen Distanzierung wird auch dieses Verantwortungsverhältnis aufgekündigt. Werner sucht in jugendkulturellen Szenen Anschluss und muss im schulischen Bereich seine ,EIternlosigkeit’ zunehmend kaschieren. Kurz vor dem Eintritt ins Internat wohnte er in einem der Häuser seiner Urgroßmutter und bezog Schülerbafög. Werner lässt nur punktuell die Lesarten zu, dass er mit einer väterlichen Vergleichgültigung und einem mütterlichen Ausstoßungsmodus konfrontiert ist, vielmehr stellt er die elterliche Haltung im Lichte einer pädagogischen Maßnahme dar, die auf eine Generierung von Autonomiekompetenz zielt.

er hat in der Welt der Menschen kein Zuhause gefunden. Das Ja, das einige Menschen in seiner Umgebung zu ihm gesagt haben ist zu leise gewesen; über lange Strecken seines kurzen Lebens hat er es überhaupt nicht hören können, es ist, als sei er an einer Last zugrunde gegangen, als habe er sich niemanden mehr zumuten wollen. …

Mit dem Eintritt in die Internatsschule haben die Schüler nicht nur einen Abschnitt ihres bildungsbiographischen Werdeganges realisieren wollen, sondern die schulisch verheißene ‚pädagogische Großfamilie’ erhofft. Was die Schüler jedoch erfahren haben, war eine abweisende Ignoranz ihrer Personen in einem weitgehend ,anerkennungsleeren’ Raum. Den Anerkennungsbeziehungen im Schulalltag wird ein destruktives Moment unterstellt, das die schülerseitige Generierung eines positiven Selbstbildes verhinderte. Gerade an dieser „Last“ ist der Jahrgang „zugrunde gegangen“. Der Jahrgang war – aus der Sicht dieser Schüler – der Anerkennungsverweigerung erlegen und wollte mit seinem mangelnden Selbstvertrauen, seiner brüchigen Selbstachtung und seinem verunsicherten Selbstwertgefühl nur eines: eine umfassende Tilgung des Leides.

Werner erlebt in der Schuleröffnungsfeier eine Schlüsselszene. Werner, der in der jugendkulturellen Szene der Punks eine Bezugsgruppe gefunden hatte, rasierte sich einen Tag vor dem ‚Einzug in die Aula’ seinen Iro ab, befürchtete aber sogleich, dass er nun der Gruppe der Skinheads zugeordnet wird. Unabhängig davon materialisierte sich die antizipierte Etikettierung als Abweichler durch ein Raunen im Saal. Darin markiert Werner den Ausgang seiner devianten Schulkarriere. In einem reziproken Prozess von lehrerseitiger Etikettierung und Selbsttypisierung setzt sich Werner zunehmend vom dominanten Schülerideal eines ‚gemeinschaftsorientierten Leistungsasketen’ ab. Diese Distanzierung ist umso konfliktreicher, als mit dem Eintritt in das Internatsgymnasium der Übergang in eine Lebensform Schüler erfolgt. Dies umso mehr, als die Lehrer gleichzeitig Betreuer im Internat sind. Für Werner reproduzieren sich schließlich in den schulischen Beziehungen die Krisenerfahrungen der familiären Anerkennungsbeziehung, denen er gerade entkommen wollte: stau fürsorglicher Nähe, erfährt er die Spannung von Nähe und Distanz der Rollendiffusität, die im familialisierten Idealentwurf der schulischen Gemeinschaft angelegt ist; statt bedingungsloser Zuwendung, kann er nur soziale Wertschätzung um den Preis gewinnen, gemessen an den gesteigerten schulischen Leistungsansprüchen Bildungserfolge zu erzielen. Gerade die Differenz zwischen den idealisierten Schulentwürfen und den Erfahrungen auch von tendenziell pathologisierenden, entwertenden Stigmatisierungen im Schulalltag (vgl. Böhme/Hagedorn 2000), evoziert die Potenzierung der Selbstkrisen, deren Entspannung gerade erhofft wurde und somit eine kritische Distanz. Im Pendant wird von einer Schülergruppe eine Hinterbühne installiert, insofern die Rückzugsmöglichkeiten in Bereiche außerhalb des internatsschulischen Zusammenhanges minimiert sind. Erst in dieser Schülersubkultur wird eine Verarbeitung der Enttäuschungen und Selbstspannungen durch die Sicherstellung eines exklusiven Netzwerkes solidarischer Anerkennungsbeziehungen möglich.

Zusammenfassend lässt sich formulieren: Es zeigt sich, dass die hier in den Blick geratenen ‚Delinquenten’ des Schulalltags keineswegs zu den dominanten schulischen Idealentwürfen in Distanz stehen: Das Ideal der schulischen Gemeinschaft als ‚pädagogische Großfamilie’ und das Ideal schulischer Bewährung als leistungsasketische Tradierung von bildungselitären Ansprüchen bei gleichzeitiger Wahrnehmung ‚lebenspraktischer Autonomie’ gehen sowohl in den schulisch verheißenen als auch biographisch motivierten imaginären Entwürfen auf, die so in einem kongruenten Passungsverhältnis stehen. Weder stehen diese oppositionellen Abweichler auf der viel besungenen Spitze des Eisbergs, der von einer Sinnentleerung der Schule zeugt, noch können sie auf schulische Gegenentwürfe verweisen, in denen sich das latent Neue eines potenziellen schulischen Transformationsprozesses ankündigt. Vielmehr laufen diese oppositionellen Schüler mit den schulisch dominanten Idealen und Mythen der Institution hochgradig konform, insofern darin, wenn nicht eine Lösung, so doch eine kompensierende Entspannung ihrer biographischen Krisen verheißen wird. Umso gesteigerter ist ihre Enttäuschungsanfälligkeit, als die Schule nicht hält, was sie verspricht. Und gerade die Erfahrung der Differenz zwischen schulischer Wirklichkeit und deren imaginärem Entwurf und damit die Erfahrung des Scheiterns der Institution bei der Umsetzung ihrer hypothetisch konstruierten Welten, ist der Stachel für die schülerseitige Distanzierung und Negation des Schulalltags. Denn mit dem Scheitern der Institution scheitert auch das schülerseitige biographische Krisenlösungsprojekt, potenziert sich das damit verbundene Leiden, das der Prediger unmissverständlich benennt:

So bedrückend der Tod dieses Jahrgangs ist, so befreiend kommt er mir auf der anderen Seite vor, und mir scheint, daß ihr liebe Lehrer, lieber Lichtens. dies sehr, sehr ähnlich empfindet. Euer Kind hat sich herumgequält mit pädagogischen Psychoterror in einer 4 jährigen Spezialbehandlung in diesem Irrenhaus, es war bereits mehrfach eingeschult und vom ersten Tag bis zur letzten Stunde in der Nähe des Abgrundes gewesen. Nun ist es abgestürzt. Die Aussichten das dieser Jahrgang ein gesundes Kind hätte werden können sind sehr gering gewesen. Vielleicht ist es so, das der Tod recht hatte als er kam; daß er die bessere Möglichkeit für das Kind war als das Leben. Dieser Jahrgang wird sich nicht mehr quälen müssen und für niemanden mehr eine Qual sein. Ganz gleich wie man sich das vorstellen mag, was und wo er jetzt ist: er ist gut aufgehoben. …

Die schulstabilisierende Bedeutung der versöhnenden Opfer

Wie gehen die Vertreter der enttäuschten Opposition nun von dieser Schule. Wie gestalten sie die letzte Handlungssequenz vor der faktischen Auflösung des schulkulturell-schülerbiographischen Passungsverhältnisses. Holen sie für die Enttäuschungen, Verletzungen und Kränkungen zum letzten vernichtenden Vergeltungsschlag gegen die Schule aus? Ziehen sie stillschweigend oder mit lautem Trillerpfeifen ins Leben oder lachen sie laut beim Herausgehen und strecken den Mittelfinger hoch in die Luft? Sitzen sie mit Lehrern im Schulpark und trinken einen Karton billigen Wein? Oder machen sie eine letzte Fete a’la ‚Club der toten Dichter’ an den wohl bekannten heimlichen Orten? Die weitere Grabrede gibt Aufschluss: Die enttäuschte Opposition kniet aufrecht als versöhnendes Opfer (vgl. Girard 1992, 1994) vor dem Altar der ‚goldenen Ehemaligen’ nieder, denn – so die Schüler weiter …

Noch in einer anderen Hinsicht kommt mir dieser Tod sehr befreiend vor, und ich will das sagen, obwohl ich weiß, daß es anstößig oder gar gefährlich sein mag so zu reden. Das die 12 er gestorben sind bedeutet ja auch den Tod eines Lebensabschnittes der mißlungen ist, um sich von solchen mißlungenen Lebensabschnitten zu befreien, hatten die alten Israeliten die Gewohnheit, zuweilen einen „Sündenbock“ in die Wüste zu schicken, dem sie vorher ihr ganzes verfehltes Leben aufgebunden hatten. Der Bock ist in der Wüste umgekommen und mit ihm zusammen starb, so glaubten die Menschen, alles, was sie verkehrt gemacht hatten und was in ihrem Leben verkehrt gelaufen war. Danach konnten sie wieder neu anfangen, von der Last des Alten, von Unglück und Leid, von Tränen befreit. – Er mag eine schreckliche Vorstellung sein, das tote Kind als einen Sündenbock zu betrachten, aber es ist ja wirklich so, daß ihr mit diesem Tod auch ein Stück verfehltes Leben loswerdet. …

Der ‚Prediger’ weist nun den Tod des Kindes auch als Chance für die ,Ersatzeltern’ aus, sich vom Leiden zu reinigen. Dazu bieten die Schüler den Abiturientenjahrgang 1995/96 als Sündenbock an, der „alles Elend eines mißglückten Lebensabschnittes in sich versammelt“. Der ‚Schuldabladeplatz’ ermöglicht lehrerseitig, eine kritische Selbstreflexion auszusetzen sowie das eigene Scheitern im pädagogischen Handeln zu verkraften und zu rechtfertigen. Dies war bei den Lehrern umso erforderlicher, die den verkennenden pädagogischen und historischen Machbarkeitsglauben verbürgen, von dem der Schulentwurf im Bild des ‚potenziellen Anführers einer neuen historischen Entwicklung’ durchzogen ist. Aber auch für diese plädiert der ,Prediger’ als ‚Verteidiger aller’, für ein versöhnendes Verstehen. Und so steht die Sündenbockerzählung weniger für eine anklagende Überführung der Lehrer, vielmehr für den Versuch, über eine rückblickende Analyse des Schuldramas, eine kollektive, reflexive Distanz gegenüber den erfahrenen Enttäuschungen und Selbstkrisen zu gewinnen. Dem Schüler gelingt es darüber, gemeinschaftsstiftend mit einer kathartischen Aufarbeitung des Erlebten und Erlittenen einen Anfang zu machen. Die alle betreffende (selbst-) zerstörerische Zerrissenheit bildet die Grundlage für den Verzicht auf Rache, dominant ist die Erfahrung von Erlösung und Befreiung. Die schuldlos Schuldigen machen ihren Frieden miteinander. Der Sündenbock stiftet so Versöhnung, der verfolgte Störer der Ordnung wird zum einheitsstiftenden Retter der Gemeinschaft. Der Jahrgang gewinnt als ‚versöhnendes Opfer’ transzendente Bedeutung, weit über seinen Schulaustritt hinaus. Denn dass konkreten Schülern die Verantwortung für das Scheitern der Institution aufgetragen werden kann, sicherte nicht nur in der Vergangenheit eine kanalisierende Absorption des Krisenhaften, sondern sichert auch für die Zukunft die voraussetzungsreiche Grundlage sich auch weiterhin legitim und glaubwürdig auf die dominanten imaginären Entwürfe und Mythen der Schule zu beziehen, die auch diese Schüler umfassend verbürgt haben. Die Versöhnung im Tragischen rundet nun der ‚Prediger’ mit den abschließenden Worten an die ,Gemeinde’ ab:

Liebe Lehrer, lieber Lichtenstein. Ihr werdet frei von unglücklichen Beziehungen und schrecklichen Erlebnissen, ihr werdet frei sein, neue Beziehungen einzugehen, bessere Erfahrungen zu machen, ihr werdet noch einmal nach den Spuren eures Glücks suchen können und euer Leben neu finden. Die Erinnerung an schlimme Tage und enttäuschte Hoffnungen wird allmählich flacher werden und euch weniger bedrängen, ihr werdet gesund werden. Liebe Lehrer, lieber L… ihr werdet wieder Essen können und ruhig schlafen und euch behutsam auf die Zukunft eures Lebens besinnen. “

Zusammenfassend lässt sich formulieren: Das Scheitern der Institution wird schülerseitig rekonstruiert und ironisch thematisiert, jedoch keineswegs als persönliches Versagen in der Kompetenz der schulischen Professionellen verortet. Vielmehr wird die verkennende Dimension der schulischen, aber auch eigenen schülerseitigen Sinnkonstruktionen reflexiv durchdrungen und expliziert. Diese rekonstruktive Durchdringung mündet nun aber keinesfalls in eine Destruktion des konstatierten Machbarkeitsglaubens jener schulischen Ideale, vielmehr in die Erkenntnis der Bedeutung dieses verkennenden Momentes als ‚Kitt’ der schulischen Legitimationsgrundlage. So entspringt auch aus der erlittenen Schullaufbahn keine Anklage, in deren Zentrum die schulische ‚Sinnlosigkeit’ proklamiert wird. Statt solcher Fundamentalkritik wird einerseits der schulische Machbarkeitsglaube als konstitutive Voraussetzung für das lehrerseitige Handeln ausgewiesen, andererseits die verkennende Dimension schulischer Sinnkonstruktionen im Ungewissheitshorizont der offenen Zukunft begründet. Gegen Ende der Rede kulminiert die Dramaturgie der Feier so in ihr letztes Stadium: Das erschütternde Leiden scheint nun überwunden, ein Vergessen des gemeinsamen Scheiterns möglich. Die Einheit der nun geläuterten schulischen Welt ist wiederhergestellt und mit ihr die Hoffnung auf zukünftiges Glück, das sich in den nun weiter tradierbaren imaginären Konstruktionen konkretisiert, da man Dank des ‚versöhnenden Opfers’ nicht zu einer (selbst-)kritischen Hinterfragung angehalten ist. Damit wird der ‚aufklärerische Geist’ wieder in den Rahmen zurückgebunden, der nicht an den Grundfesten der schulischen Ordnung rührt.

Interpretation

Durch die empirische Unterscheidung zwischen schulkulturell-schülerbiographischen Passungsverhältnis auf der handlungspraktischen Ebene des Schulalltags und der imaginären Ebene der Idealkonstruktionen und Bewährungsmythen zeigte sich, dass abweichendes Schülerhandeln nicht zwingend für eine Distanzierung von den dominanten Sinnkonstruktionen der konkreten Einzelschule steht – im Gegenteil. Bei der Schülersubkultur der ‚enttäuschten Oppositionellen’ konnte ein kongruentes Passungsverhältnis zwischen biographisch motiviertem und schulisch verheißenem Schulentwurf und damit verbundenen Strukturproblemen herausgearbeitet werden. In Opposition treten diese Schüler lediglich zu einem Schulalltag, in dem das Scheitern der Institution bei der Lösung zentraler Krisenkonstellationen und der Umsetzung der imaginären Entwürfe erfahrbar wird. In analytischer Distanz gelingt es den Schülern mit Blick auf die verkennende Dimension der schulischen Idealisierungen, das schulalltägliche Scheitern weniger als persönliches Versagen, vielmehr als strukturell angelegtes auszuweisen. Dies mündet nun aber keineswegs in eine Destruktion der auch schülerseitig verbürgten schulischen Bewährungsmythen als Handlungsorientierungen, vielmehr ermöglichen die Schüler deren glaubwürdige Tradierung, indem sie, ‚trotz besseren Wissens’ die lehrerseitige Verantwortungszuschreibung des schulischen Scheiterns annehmen. Als Sündenböcke sichern sie die schulstabilisierende Absorption des Krisenhaften und ermöglichen die Tradierung ihrer verbürgten imaginären Entwürfe und Bewährungsmythen im internatsschulischen Zusammenhang. Unstrittig ist, dass hier lediglich eine Subkultur des oppositionellen Schülerpols in den Blick geraten ist. Darüber hinaus lassen sich gedankenexperimentell auch ,fundamentalkritische Boykotteure’ annehmen, die durch eine ignorierende Egalität oder offene Rebellion deutlich ihr antagonistisches Passungsverhältnis zu den schulkulturell dominanten Idealvorstellungen ausdrücken. Der konformistische Schülerpol lässt sich hypothetisch zwischen den simuliert Angepassten und den ‚blind Adaptierenden’ ausdifferenzieren.

Literaturangaben:

Böhme, Jeanette; Helsper, Werner: Gemischte Kollegien – ein „Kampf um Anerkennung“ zwischen ost- und westdeutschen LehrerInnen in ostdeutschen Gymnasien. In: Combe, Arno; Helsper, Werner; Stemalszyk, Bernhard (Hrsg.): Forum Qualitative Sozialforschung. Bd. I. S. 139-172. Weinheim 1999.

Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt 1994.

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