Falldarstellung

Das Interaktionsprotokoll, das ich im Folgenden interpretieren werde, lautet:

Schüler: Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder?
Lehrer: Nächste Woche.
Schüler: Oh, Sie haben sie doch schon drei Wochen.
Lehrer: Und wenn ich sie fünf Wochen hätte.
Schüler: Meine Mutter denkt schon, ich hab‘ die weggeschmissen.

Interpretation

Wir beschränken uns in der Interpretation zunächst auf den ersten Interakt: Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder? In der Frage wird ein Wiedergeben thematisiert. Zwischen dem Sprecher und dem Adressaten der Frage besteht also hinsichtlich des Gegenstands der Äußerung eine Austauschrelation: Sehen wir von dem spezifischen Gegenstand Klassenarbeiten ab, dann könnte die Äußerung im Rahmen eines privaten Darlehensgeschäfts getätigt worden sein: Wann gibst Du mir das Geld wieder? Dieser konkrete Fall stellt ein Beispiel für all diejenigen potentiellen Kontexte dar, in denen ein Eigentümer einer Sache gegenüber dem aktuellen Besitzer den Rückgabezeitpunkt thematisiert. Dabei werden die Eigentumsverhältnisse als unproblematisch und selbstverständlich gesetzt. Denn offensichtlich ist ja nicht fraglich, ob eine Rückgabe erfolgen wird, sondern wann. Und sofern der Zeitpunkt der Rückgabe die zentrale Fragedimension der Äußerung darstellt, wird der Zeitpunkt der Äußerung zu einem wichtigen Lesartenkriterium. Bleiben wir bei dem Beispiel eines Kreditgeschäfts. Hier könnte der Gläubiger die Frage bei der Geschäftsabwicklung stellen und würde damit einen wesentlichen Inhalt des Kreditvertrags thematisieren, den es noch festzulegen gilt. Das Informationsinteresse hinsichtlich des Rückgabezeitpunkts, das die Frage wörtlich äußert, würde in dieser Variante einen indirekten, aber deutlichen Anspruch auf zeitige Rückgabe zum Ausdruck bringen. Die Frage geht nämlich davon aus, dass ihr Adressat einen Rückgabezeitpunkt nennt und diesen damit auch als verbindlich anerkennt. In diesem Sinne äußert die Frage nicht lediglich ein Informationsinteresse hinsichtlich des Rückgabezeitpunkts, sondern implizit auch ein praktisches Interesse an der Geldrückgabe zu diesem Zeitpunkt.

Gehen wir von einem gänzlich anderen Äußerungszeitpunkt aus: Die Frage könnte auch zu einem Zeitpunkt gestellt sein, da ein formal verbindlich festgelegter oder ein stillschweigend als adäquat empfundener Rückgabetermin überschritten ist. Auch in diesem Fall erfragt die wörtliche Bedeutung zunächst nur den Rückgabezeitpunkt. Allerdings stellt sie zugleich nicht nur – vergleichbar der vorangegangenen Variante – ein implizites Interesse an einer verbindlichen Rückgabe, sondern darüber hinaus eine deutliche Kritik an der bisher ausgebliebenen Rückgabe dar. Dies wird deutlich, wenn wir die Antwortmöglichkeiten des Adressaten betrachten. Einen Verzug vorausgesetzt, müsste die Antwort eine Entschuldigung beinhalten. Diese nämlich erfüllt die Funktion, die Rückgabeverpflichtung ebenso wie das eigene Versäumnis anzuerkennen. Würde ein Schuldner auf die Frage des zu Recht ungeduldig werdenden Gläubigers lediglich antworten: in zwei Wochen, dann bestätigte er damit zwar den Rückgabeanspruch, nicht aber die Überfälligkeit der Rückzahlung. Der Sprecher hätte damit die Kritik, die die Frage enthalten hatte, einfach überhört. Wahrscheinlicher wäre deshalb die Variante einer expliziten Zurückweisung der Kritik. Fehlt nämlich eine Entschuldigungsmarkierung, dann müssten wir vermuten, dass der Antwortende zum „Gegenangriff“ übergeht: Hab Dich nicht so, Du bekommst Dein Geld nächste Woche zurück.

Wir können nicht davon ausgehen, dass die Frage zwischen den beiden bisher angenommenen Zeitpunkten gestellt wurde. Ist nämlich ein erwartbarer Rückgabezeitpunkt noch nicht erreicht, entbehrt die Äußerung der Fraglichkeit, die sie selbst einführt und voraussetzt. In diesem Fall müssten wir erwarten, dass der Adressat der Frage mit einer Gegenfrage antwortet: Wieso fragst Du? Wir hatten doch vereinbart, daß Du das Geld nächsten Monat zurückerhältst. Diese Antwort zeigt, dass wir dem Fragenden entweder eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungeduld unterstellen müssen, die der Adressat der Frage umstandslos kritisieren kann, oder dass ein Missverständnis bezüglich des Rückgabetermins vorliegt. In diesem Fall müssten wir im Fortgang der Interaktion eine klärende Thematisierung dieses Missverständnisses erwarten: Nächsten Monat? Ich dachte, Du wolltest mir das Geld schon vor drei Wochen zurückgeben.

Damit sind die Lesartenvarianten hinsichtlich der Frageform der Äußerung erschöpft. Zwei bisher unberücksichtigt gebliebene sprachliche Eigentümlichkeiten verdienen noch der Erwähnung: (1) Der Sprecher adressiert sein Gegenüber in der Höflichkeitsform und spricht (2) gleichzeitig für ein Kollektiv.
(1) Der Gebrauch der Höflichkeitsform lässt informell-diffuse Redekontexte als unwahrscheinlich erscheinen. Damit geht eine gewisse Verschärfung der Verbindlichkeit bzw. Kritik einher. Denn wir müssen davon ausgehen, dass das in Rede stehende Austauschverhältnis in eine formalisierte bzw. rollenförmig definierte Verbindlichkeit eingelagert ist.
(2) Der Sprecher prätendiert, im Namen eines Kollektivs zu sprechen. Er wird damit zum Sprecher des Kollektivs, in dessen Namen er den Rückgabetermin erfragt und für das er entweder Verbindlichkeit herstellt oder Versäumniskritik erteilt. Greifen wir wieder auf das Beispiel des Kreditgeschäfts zurück, so könnte ein Ehepartner etwa sagen: Wann geben Sie uns das Geld wieder? Darin käme zum Ausdruck, dass die Kreditvergabe die Ehegatten bzw. die Familie betrifft.

Konfrontieren wir nun die bisher vorgenommenen Überlegungen mit dem Kontextwissen, dass es sich um eine Schülerfrage handelt.

Unmittelbar aufschlussreich ist der Gebrauch des vergemeinschaftenden uns. Der fragende Schüler macht sich damit zum „Klassensprecher“. Nicht (nur) in seinem eigenen Interesse erfragt er den Rückgabetermin einer Klassenarbeit. Er tut dies auch im Namen seiner Mitschüler. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, mit welchem Recht er dies tun kann. Warum fragt der Schüler nicht: Wann geben Sie mir meine Klassenarbeit wieder? Diese Möglichkeit verweist auf ein Strukturmerkmal schulunterrichtlicher Interaktion. Der Schüler, der diese Frageform wählte, geriete unabdingbar in den Verdacht einer inadäquat-egoistischen Orientierung. Im Rahmen schulischer Interaktion würde sich dieser Schüler der Unterstellung aussetzen, sich unsolidarisch den Mitschülern gegenüber zu verhalten. Er wäre tendenziell zum Außenseiter geworden. Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht den strukturellen Zwang der klassenverbandlichen „Peer-group“-Orientierung. Die schulklassenförmige Vergemeinschaftung, die ja schon in dem Terminus Klassenarbeit zum Ausdruck kommt, stellt in sich eine spezifische Voraussetzung schulischer Interaktion dar, die – so können wir die vorliegende Äußerung interpretieren – der Artikulation eines Eigeninteresses des Schülers Grenzen setzt. Insofern liefert uns das vorliegende Interaktionsprotokoll einen Hinweis auf die Problematik der strukturellen Unmöglichkeit einer Lehrer-Schüler-Dyade. Die dyadische Lehrer-Schüler-Beziehung ist immer eingespannt in die klassenverbandliche Orientierung, und zwar sowohl aus der Perspektive des Schülers wie auch aus der Perspektive des Lehrers.

Wir müssen also dem Sprecher unterstellen, dass er nicht anders kann, als seine Frage im Namen auch der Mitschüler zu artikulieren. Gehen wir nun aber auf den spezifischen Inhalt der Frage ein: Es geht um die Rückgabe von Klassenarbeiten. Damit sind wir zunächst auf die durch die Institution „Klassenarbeit“ vermittelte Reziprozitätsrelation zwischen Lehrer und Schüler verwiesen. Die Klassenarbeit stellt einerseits ein Element des schulischen Universalismus der individuellen Leistungserbringung dar. Sie konfrontiert den Schüler mit einer unpersönlichen Leistungsanforderung und stellt insofern eine „Zumutung“ dar, als das noch nicht voll sozialisierte Subjekt besonders eindrücklich mit einer eigenverantwortlichen und bedingt folgenreichen Zuschreibung konfrontiert wird. Der Leistungsbeurteilung ausgesetzt zu sein verlangt dem Schüler also schon die jenseits der „ganzen Person“ liegende spezifische Rollenanforderung der Erwachsenenwelt der „bürgerlichen Gesellschaft“ ab. Umgekehrt korrespondiert der Konfrontation mit einer universalistisch-unpersönlichen Beurteilung das Recht auf diese. Der Schüler muss sich nicht nur der Leistungsbeurteilung aussetzen, er hat auch das Recht, gemäß seiner Leistung benotet zu werden. Auf das vorliegende Problem übertragen: Die Klassenarbeit impliziert die individuelle Schülerleistung ebenso wie die Beurteilung dieser Leistung durch den Lehrer in Berufung auf universalistische Kriterien. Darin ist jene materiale Reziprozitätsrelation zu sehen, auf die sich ein Schüler mit der Frage: Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder, berufen kann.

In diese Reziprozitätskonstellation eingebettet, können wir nun entsprechend der bisherigen Interpretation drei Lesartenvarianten unterscheiden:

(1) Der Schüler stellt die Frage zum Zeitpunkt der Abgabe einer Klassenarbeit. Er äußert ein Interesse an der Kenntnis des Rückgabetermins. Indem er den Lehrer zu einer Antwort auffordert, verpflichtet er ihn zugleich auf die praktische Verbindlichkeit dieser Auskunft. Im schulischen Kontext allerdings wäre die artikulierte Fraglichkeit erklärungsbedürftig. In der Regel finden wir hier verlässliche Routinen, die zwar nicht eine taggenaue Prognose des Rückgabetermins erlauben, aber doch ein hinreichend präzise konturiertes wechselseitiges Erwartungssystem bezüglich der Rückgabe einer Klassenarbeit konstituieren. Von „hinreichend“ können wir deshalb sprechen, weil zwar einerseits das Interesse an einer zeitigen Rückgabe der Arbeit nicht kritisierbar ist, es dabei andererseits aber nicht „auf den Tag“ ankommt. Diese Lesartenvariante muss also eine wie auch immer zu konkretisierende, situativ bedingte Fraglichkeit des Rückgabezeitpunkts unterstellen.

(2) Der Schüler stellt die Frage zu einem Zeitpunkt, zu dem die Rückgabe überfällig ist. Wie am Beispiel des Kreditgeschäfts gezeigt, stellt die Schülerfrage in diesem Fall eine Kritik des Adressaten, also des Lehrers, dar. Sie ist dann gleichsam eine informelle „Dienstaufsichtsbeschwerde“. Übergebührlich lange müssen die Schüler schon auf die Beurteilung ihrer Leistung warten. Die Reziprozität der Prüfungssituation, daß nämlich der zu erbringenden Prüfungsleistung eine Beurteilungsleistung korrespondiert, wäre von Seiten des Lehrers unterlaufen. Die Fraglichkeit, auf die sich der Schüler in diesem Fall beruft, betrifft nicht nur den zukünftigen Rückgabezeitpunkt, sondern auch die Geltung der ursprünglichen Reziprozitätsrelation.

(3) Die Annahme einer hinsichtlich des Äußerungszeitpunkts dritten Variante erscheint problematisch. Gehen wir nämlich davon aus, dass der Schüler seine Frage nicht unmittelbar bei Abgabe der Klassenarbeit stellt, sondern zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem aber andererseits noch keine Säumigkeit angenommen werden kann, so ist die Frage sachlich inadäquat. Sie zeugte von einer gesteigerten und erklärungsbedürftigen Ungeduld des Schülers. Die Frage änderte damit ihre performative Funktion. Sie stellte eine an den Lehrer gerichtete Aufforderung dar, sich mit der Korrektur zu beeilen. Gerade weil keine Säumigkeit vorliegt, erhielte diese Frageform einen drängend-querulatorischen Charakter.

Dabei ist zu beachten, dass die Unterstellung einer gesteigerten Ungeduld auch in Dissonanz zu der Tatsache steht, dass der Schüler für das Klassenkollektiv spricht. Seine sachlich nicht gerechtfertigte – und deshalb „persönlich“ motivierte – Ungeduld artikulierte er als Befindlichkeit der Gesamtheit der Mitschüler. Um diese Lesart in Anschlag bringen zu können, müssten wir dem Sprecher also nicht nur ein erhebliches, ungeduldiges Drängen, sondern auch eine inadäquate Äußerungsform unterstellen.

(…)

Schüler: Wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder?
Lehrer: Nächste Woche.

Die Antwort nächste Woche stillt das Informationsbedürfnis, das der Schüler stellvertretend für die Klasse geäußert hatte, und legt den Lehrer selbst fest. Er nennt einen verbindlichen Rückgabetermin. Eine Säumigkeit kann nicht angenommen werden. Denn jeglicher Hinweis auf eine Entschuldigungsgeste fehlt der Lehreräußerung. Angesichts der Antwort können wir alle möglichen Motive der Schülerfrage annehmen, nicht jedoch das Motiv des Einklagens eines versäumten Rückgabetermins.

Gerade weil uns die Antwort des Lehrers keinerlei Hinweis auf die vom Schüler aufgeworfene Fraglichkeit gibt, erscheint die vorliegende Interaktion fast artifiziell. Dem Lehrer selbst scheint die Fraglichkeit nicht einsichtig zu sein. In diesem Falle hätten wir nämlich Antworten wie: diesmal wird es wohl bis nächste Woche dauern u. ä. erwarten müssen: Demgegenüber gibt der Lehrer eine kurz und bündig informierende Antwort und lässt damit die Motive der Schülerfrage außen vor. Warum auch immer der Schüler seine Frage stellt; die Rückgabe der Klassenarbeiten erfolgt nächste Woche.

Damit ist die Interaktion gleichsam zu ihrem Ende gekommen. Die Schülerfrage ist beantwortet, und der Unterricht im engeren Sinne kann beginnen:

Schüler: Oh, Sie haben sie doch schon drei Wochen.

Der Unterricht im engeren Sinne beginnt nicht. Vielmehr insistiert der Schüler. Er hat zwar eine eindeutige Antwort erhalten; diese stellt ihn aber nicht zufrieden. Das erscheint angesichts der Kontextinformation, die wir der Schüleräußerung entnehmen können, nur als allzu verständlich. Denn tatsächlich lässt die Antwort des Lehrers, nächste Woche erfolge die Rückgabe, nicht vermuten, dass die Arbeiten sich schon drei Wochen in seinen Händen befinden. Im Gegenteil: Die Antwort nächste Woche unterstellt gerade, es liege keine Säumigkeit vor. Gerade diese aber reklamiert der Schüler.

Gehen wir davon aus, dass die Zeitangabe des Schülers zutreffend ist, dann hätten wir tatsächlich erwarten müssen, dass der Lehrer die Frage nach dem Rückgabetermin nicht einfach mit nächste Woche beantwortet, sondern die beachtliche Zeitspanne zumindest kommentiert. Indem er dies nicht tut, gibt er dem Schüler erst Anlass, dieses Thema weiter zu verfolgen. Mehr noch: Nachträglich, auf der Folie der faktisch vorliegenden Säumigkeit nämlich, zwingt der Lehrer den Schüler geradezu zu einer „Eskalation“. Die vormals implizite Kritik wird jetzt zur expliziten Beschwerde. Wenn der Schüler sich treu bleiben will, wenn er sich nicht schon durch die bloße Weigerung des Lehrers, die implizite Kritik, die in der ersten Schülerfrage lag, in irgendeiner Form anzuerkennen, abschrecken lassen will, dann muss er nun „deutlich“ werden.

Damit erscheint die Antwort des Lehrers: nächste Woche, in neuem Licht. Sie stellt den Schüler nämlich vor die Alternative, ein legitimes Ansinnen entweder vor der „Autorität“ des Lehrers fallenzulassen oder es gegen den Lehrer aufrechtzuerhalten, sich also entweder duckmäuserisch oder renitent zu verhalten. Die „vernünftige“ Zwischenform hat der Lehrer durch sein Antwortverhalten bereits ausgeschlossen. Die sich im Nachhinein als berechtigt herausstellende Kritik: wann geben Sie uns die Klassenarbeiten wieder, wird durch die Antwort: nächste Woche, zum Machtkampf.

Spätestens jetzt also müssten wir erwarten, dass der Lehrer in sachlicher Weise sein Versäumnis eingesteht. Der Schülerhinweis auf den beträchtlichen Zeitraum des Ausbleibens der Rückgabe der Klassenarbeit könnte der Lehrer jetzt dazu nutzen, seine Haltung zu korrigieren. Akzeptiert er nämlich im Folgenden die Schülerkritik, dann wird seine vormalige Zurückweisung (nächste Woche) entschärft. Dass der Lehrer zunächst seine Säumigkeit verleugnete, könnte dann als bloße Vermeidung eines unter Umständen unangenehmen Eingeständnisses interpretiert werden. Alleine ein: ja, das stimmt, aber…, reichte schon hin, das ursprüngliche Schüleranliegen als solches ernst zu nehmen.

Tatsächlich beantwortet der Lehrer die Schülerbeschwerde folgendermaßen:

Lehrer: Und wenn ich sie fünf Wochen hätte.

Der Lehrer ist nun in doppelter Weise säumig: Er ist nicht nur mit der Rückgabe der Klassenarbeiten, sondern auch mit seiner Entschuldigung in Verzug. Aber statt diese erneute Gelegenheit zu nutzen, seine Säumigkeit gegenüber den Schülern wenigstens durch eine entschuldigende Geste anzuerkennen, führt er die reine Willkürlichkeit ins Feld. In seiner Äußerung unterläuft er nun explizit jedweden Anspruch des Schülers auf zeitige Rückgabe der Klassenarbeit. Damit wird der Schüler exemplarisch zum „Entrechteten“. Eine solche Äußerung können wir uns auch schwerlich in anderen Kontexten vorstellen als in „totalen Institutionen“ oder in extremen Konflikten. Interessant ist hierbei die zeitliche Dimension der Lehreräußerung. Denn die Antwort wird damit doppeldeutig. Einerseits könnte sie heißen: Es spielt keine Rolle, wie lange die Klassenarbeit zurückliegt. Ihr bekommt sie nächste Woche zurück. Tatsächlich spricht der Lehrer aber von fünf Wochen. Darin ist eine interessante zeitliche Implikation enthalten. Der angekündigte Rückgabetermin (nächste Woche) bedeutet, dass die Arbeit insgesamt vier Wochen in Händen des Lehrers ist. Von diesem Termin, den der Lehrer nun in Aussicht stellt (nächste Woche), hat er sich abermals entbunden. Indem er auf fünf Wochen verweist, dementiert er den gerade erst angekündigten Rückgabezeitpunkt. Die Ankündigung nächste Woche wird damit völlig ihrer Verbindlichkeit beraubt.

Wir sind also mit einer Immunisierungsbewegung konfrontiert. Unmissverständlich und in einer gleichsam kunstvoll-überdeterminierten Gestalt gibt der Lehrer seinem Schüler zu verstehen, dass jedweder artikulierte Schüleranspruch auf der Folie der Lehrerwillkür verdampft.

Was kann der Schüler jetzt noch tun? Er hat es sich erlaubt, den Lehrer – sachlich gerechtfertigt – zu kritisieren. Diese Kritik war zunächst sehr zurückhaltend in eine Frage gekleidet. Nachdem der Lehrer auf die Kritik nicht eingegangen ist und damit deren Anspruch unterlaufen hat, wird der Schüler explizit. Dies wird von dem Lehrer mit einer expliziten Zurückweisung beantwortet. Auf einem sehr harmlosen Feld lässt der Lehrer die Karikatur: „§1: Der Lehrer hat immer recht. §2: Sollte dies nicht zutreffen, siehe §1“ , wirklich werden. Es bleibt dem Schüler eigentlich nur Rückzug oder offene Rebellion:

Schüler: Meine Mutter denkt schon, ich hab‘ die weggeschmissen.

Tatsächlich finden wir in der Schüleräußerung Elemente des Rückzugs. Denn nun erscheint das Interesse an der zeitigen Rückgabe nicht genuin als das eigene, sondern als dasjenige der Mutter. Dem Schüler selbst bedeutet die Rückgabe der Klassenarbeit als solche nichts. Nur vermittelt über die lästigen Fragen der Mutter wird es zu seinem eigenen Anliegen. Von dem ursprünglichen Anspruch einer zeitigen Rückgabe bleibt nichts mehr übrig. Gleichzeitig gibt der Schüler die Rolle des „Klassensprechers“ auf. Denn das nunmehr geäußerte Interesse ist auf die Mitglieder der Schulklasse nicht übertragbar. Es handelt sich nicht um eine verallgemeinerbare, sondern um eine bloß an die familiale Beziehung gebundene Interessenartikulation. Ist der Schüler zunächst als „Klassensprecher“ aufgetreten, gibt er sich nun als „ Muttersöhnchen“.

Dieser Rückzugsbewegung steht eine rebellische Komponente gegenüber. Sie artikuliert sich in der Figur implizit bleibender Drohung und Verachtung.

Die Tatsache, dass nun die Mutter ins Feld geführt wird, bedeutet dem Lehrer, dass als potentielle Kontrollinstanz seiner dienstlichen Pflichterfüllung nicht nur die gleichsam gerontokratisch „beherrschte“ Schulklasse, sondern auch die Eltern der Schülerinnen und Schüler in Frage kommen. Hat sich die Berufung auf die Geltung der Regeln des sozialen Austauschs im schulischen Kontext als nicht tragfähig erwiesen, so stützt der Schüler sich nun auf seine „Schutzmacht“ innerhalb der Erwachsenenwelt, die Eltern. Insofern beinhaltet die Schüleräußerung auch die drohende Frage an den Lehrer: Würden Sie Ihren Standpunkt auch Erwachsenen gegenüber vertreten? Damit beantwortet der Schüler die Verweigerung des Lehrers latent mit einer Drohung, ohne dass sich diese als solche zu erkennen gibt. Denn der Schüler hat ja eben nicht gesagt: Ich berichte dies meinen Eltern, und dann werden Sie schon sehen. In äußerst geschickter, weil nicht angreifbarer Weise setzt sich der Schüler also gegen die Machtwillkür des Lehrers zur Wehr.

Daneben drückt er in dem Gebrauch des Verbs wegschmeißen auch implizit seine Verachtung der Klassenarbeit und ihrer Korrektur und Benotung durch den Lehrer aus. Von der ursprünglich material in Anspruch genommenen Reziprozität der Verpflichtung des Schülers zur Leistungserbringung in Form einer Klassenarbeit und der komplementären Verpflichtung des Lehrers, diese ernst zu nehmen, bleibt nichts übrig. An Ihrer Beurteilung meiner Klassenarbeit liegt mir nichts, Ich ziehe grundsätzlich sowieso in Betracht, die Klassenarbeiten wegzuschmeißen.

Auch diese Aufkündigung sozialer Kooperation vollzieht sich nicht in offener Auflehnung, sondern implizit, gleichsam „durch die Blume“.

Zusammenfassung der Interpretation

(1) Sehen wir die vorliegende Interaktionssequenz als schulspezifisch und schultypisch an, so bleibt festzuhalten, dass wir vor einer bemerkenswerten Logik der kommunikativen Selbstbehauptung stehen. Wir sind ja einerseits Zeugen einer ausgedehnten Form der Heteronomie von Schule, insofern das hier beobachtbare Lehrerhandeln die Grenze einer institutionell gestifteten Heteronomie überschreitet. Die Inanspruchnahme eines absoluten Willkürregimes des Lehrers bezüglich der Rückgabe von Klassenarbeiten ist mit dem Hinweis auf die Asymmetrie der Lehrer-Schüler-Beziehung nicht erklärt. Denn der Machtanspruch (und wenn ich sie fünf Wochen hätte) ist nicht nur durch den berufsrollenförmig institutionalisierten Machtbereich des Lehrers nicht gedeckt, sondern steht sogar in explizitem Widerspruch zu Berufsrollenstandards. Inhaltlich macht der Lehrer die Schule zu einer „totalen Institution“. Andererseits sind wir Zeugen einer sehr selbstbewussten und strategisch erfolgreichen Behauptung des Schülers gegen das lehrerseits prätendierte Willkürregime. Gäbe es in der interpretierten Situation „Lacher“, so wären sie auf Seiten des Schülers. Auf der Folie seines unverschüchterten Beharrens auf materialer Verbindlichkeit der Klassenarbeitsrückgabe und seiner Beweglichkeit im Rahmen strategischer Interaktion gerät die prätendierte Willkürherrschaft des Lehrers und die damit versuchte Definition der Institution Schule zur Karikatur. Die Unterwerfungsversuche misslingen, und statt Unterwürfigkeit sind wir mit einer beeindruckenden Durchsetzungsfähigkeit des vermeintlich Unterworfenen konfrontiert. Die Bedrängung, der sich der Schüler gegenüber sieht, verschafft ihm objektiv die Gelegenheit zur Bewährung und Behauptung. Und es wäre von hier aus zu fragen, ob die Institution Schule nicht auch und gerade verstanden werden muss als Praxisraum systematisch erzeugter Bewährungs-, Behauptungs- und Durchsetzungsszenarien.

(2) Uns geht es hier aber nicht primär um eine interaktionstheoretische Betrachtung der Institution Schule, sondern vor allem um Lehrerhandeln, also um schulpädagogische Intervention. Wir lesen das Protokoll wesentlich unter der Perspektive berufsspezifischer Dispositionen und Handlungsorientierungen. Dabei scheinen mir folgende Dimensionen bemerkenswert:

a) Die Spannungen, mit denen uns der Interaktionsverlauf konfrontiert, sind durch das Lehrerhandeln hervorgerufen. Insofern wir davon ausgehen müssen, dass tatsächlich eine Säumigkeit der Rückgabe der Klassenarbeit vorliegt, stellt die Schülerfrage eine Aufforderung zur Anerkennung der Säumigkeit und damit eine Aufforderung zur Anerkennung der prinzipiellen Geltung der Verpflichtung zur zeitigen Rückgabe dar. Diese material nicht kritisierbare Anerkennung verweigert der Lehrer. Erst dadurch entsteht ein Problem. Wir sind hier also nicht mit der Situation konfrontiert, in der die Autonomiezumutungen des „Erziehers“ an der Uneinsichtigkeit des nicht voll sozialisierten Zöglings ihre Grenze finden. Wir stehen hier nicht vor der Vermittlungsproblematik, „wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“ (Kant 1803, S. 711), oder der eines gescheiterten oder misslungenen „sich negierenden Gewaltverhältnisses“ (Benner i991, S. 187 ff.) als schwer zu bewältigendes pädagogisches Handlungsproblem. Es gibt keinen äußeren Anlass, keine situativ erzwungene oder nahegelegte Motivierung für die Handlungsweise des Lehrers. Er steht vor keinem sachlichen Problem.
Auch die uns vertrauten berufs- und professionstheoretischen Modelle lassen sich hier nicht anwenden. Wir stehen hier nicht vor einer Situation, die dem Lehrer in einem kategorial widersprüchlichen Handlungsraum eine nur schwer zu bewältigende pädagogische Intervention abverlangt (vgl. Reinhardt 1972; Koring 1992; Terhart 1992; Helsper 1996). Von einer „professionalisierungsbedürftigen“ Handlungsanforderung (Oevermann 1996) ist hier nichts zu sehen.

b) Damit eng zusammenhängend muss festgehalten und hervorgehoben werden, dass die Spannung der Interaktion nicht durch ein Festhalten an institutionell definierten Merkmalen der Berufsrolle erzeugt wird, sondern durch ein Verlassen des rollenförmig angezeigten Handlungsrahmens. Der Lehrer hat also nicht nur das Problem erzeugt, sondern er hat es durch eine Entgrenzung des Berufsrollenhandelns erzeugt. Hätte er die Beantwortung der Schülerfragen an alltäglichen Reziprozitätsregeln und beruflichen Pflichten orientiert, wäre ein spannungsreiches Wortgefecht erst gar nicht entstanden.

c) Nun mag man die Ansicht vertreten, dass eine wie auch immer als positiv gedachte Qualität des pädagogischen Handelns geradezu auf eine solche Entgrenzung der Berufsrolleneinengung angewiesen ist. Wir sind dazu geneigt, die spezifisch pädagogische Leistung institutionalisierter Sozialisation jenseits der Berufsrolle zu verorten und zu vermuten. Pädagogisches Pathos ist nicht nur in der Institution Schule und der komplementären Lehrerrolle nicht enthalten, sondern muss gleichsam dagegen arbeiten. Institutionelle und berufliche Nüchternheit geraten leicht zu pädagogischen Feindbildern. Das angeführte Interaktionsbeispiel weist demgegenüber mindestens darauf hin, dass Entgrenzungen, sollten sie tatsächlich im schulunterrichtlichen Kontext auch problemlösend sein können, eben auch problemstiftende Potentiale hegen. In diesem Fall käme eine nüchterne Berufsrollenorientierung keinesfalls der schulischen Inkarnation der „Kälte“ der bürgerlichen Gesellschaft (Gruschka 1994) gleich. Im Gegenteil: Die Beschränkung auf institutionalisierte Berufsrollenstandards könnte hier geradezu als Paradebeispiel einer schulunterrichtlich realisierten und pädagogisch zu würdigenden Ethik der Anerkennung interpretiert werden.

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