Falldarstellung

Situation: Begleitworkshop zum erziehungswissenschaftlichen Schulanfangspraktikum
Aufgabe: Die Studierenden haben in der zweiten Schulwoche das „Leere Blatt“ (Hüttis-Graff/Baark 1996, S. 133) erprobt. Die Auswertung in der dazugehörigen Veranstaltung sieht folgende Schritte vor: Jede/r StudentIn notiert einen Auszug aus den Verschriftungen eines Kindes an der Tafel. Parallel dazu sind die Phasen bzw. Strategien der Schriftsprachentwicklung (nach Raschendorfer 2004) projiziert. Sie sind in der Woche zuvor eingeführt und erläutert worden. Jetzt soll das Nebeneinander von theoretischen Modellbegriffen und Schriftproben eine Transferleistung der Studierenden ermöglichen. Dabei ergänzen die Studierenden bei Bedarf Beobachtungen und Gespräche aus der jeweiligen Unterrichtssituation. Benjamin M. berichtet Folgendes:

Kommentiertes Gedächtnisprotokoll:

Maja (6;11 J.) schreibt:  <MAMA> <PAPA> <OPA> <OMA> und Namen von Familienmitgliedern
Student vermutet, dass Maja ihr längst vertraute Wortschemata reproduziert. Da er Majas Leistungsvermögen höher einschätzt, lockt er sie mit folgender Frage:
Kennst du noch andere Wörter?
Maja schreibt: <EI> <EIS>
Student hält auch diese Worte für reproduzierte Wortschemata und möchte Maja motivieren, Wörter zu konstruieren. Er gibt den Impuls:
Schreibe Wörter, die du noch nicht geschrieben hast.
Maja: Kannst du mir kurze Wörter nennen?
Student: Hahn
Maja: <HNA>
Student: Tiger
Maja: <TEIGA>
Student: Wasser
Maja: <WASA>
Student: Bär
Maja: <BER>
Student: See
Maja: <SE>
Student: Auto
Maja: <ATO> Interpretation

In der Analyse der von Benjamin M. beschriebenen und mit der Schriftprobe belegten Situation kann mit den StudentInnen erarbeitet werden, welche Prozesse der Wahrnehmung, Deutung, des Leistungszutrauens und der Impulsgebung in der Interaktion zwischen Student und Schülerin möglicherweise zum gewünschten Erfolg geführt haben:

1. Kontext : Die Aufgabe des „Leeren Blattes“ – das weiß der Student – sollte der Erhebung schriftsprachlicher Fähigkeiten der Schülerin dienen. Er hat Vorwissen bezüglich der in der Sprachdidaktik diskutierten Phasen bzw. Strategien der Schriftsprachkompetenz. Benjamin M. nimmt sich deshalb vor: Ich will etwas über die schriftsprachlichen Fähigkeiten Majas herausfinden. Wie sich zeigen wird, ist er beseelt von der Idee, Majas Fähigkeiten dabei zu fördern.

2. Wahrnehmung, Deutung und Leistungserwartung: Benjamin M. sieht die Wörter, die Maja zuerst geschrieben hat. Er deutet sie als Wortschemata, die Maja wohlvertraut sind. Er schätzt ihre Kompetenz höher ein als ihre aktuelle Performanz (von Saldern 199, 33-35). Benjamin M. traut Maja zu, dass sie jenseits ihr vertrauter Wortschemata unbekannte Wörter aktuell konstruieren kann. Es ist sein im Moment und aus einer generellen (nicht an systematischer Beobachtung differenzierten) Leistungswahrnehmung des Kindes heraus gesetztes Ziel, Maja das zu „beweisen“. Damit überschreitet er die „reine“ Diagnosesituation „Was kann das Kind alleine?“ und entschied sich für eine Intervention zugunsten der Frage „Was kann das Kind aufgrund expliziten und operationalisierten Zutrauens?“.

3. Impulsgebung: Benjamin M.s erster Impuls, die Zone der nächsten Entwicklung zu eröffnen, tritt sozusagen auf der Stelle und führt in die erneute Reproduktion bekannter Wortschemata – wenig herausfordernd für Maja, wie dem Studenten scheint. Schaut man den Impuls genau an – „Kennst du noch andere Wörter?“ – scheint klar, dass Maja daraufhin erneut auf Wortschemata zurückgreift: Hier wird Wissen abgerufen. Benjamins zweiter Impuls – „Schreibe Wörter, die du noch nicht geschrieben hast.“ – wirkt erfolgreicher: Hier eröffnet er einen Gestaltungsraum, den Maja noch nicht betreten hat. Die Aufforderung ist klar operationalisiert: Erstens: Maja sollte Wörter schreiben – eine überschaubare Angabe, die allerdings voraussetzt, dass sie den Begriff verstanden hat. Da die reproduzierten Wortschemata mit Wortlücken niedergeschrieben sind, ist davon auszugehen. Zweitens: Maja soll Wörter schreiben, die sie noch nicht geschrieben hat. Diese Formulierung tastet sich ganz nah heran an einen Möglichkeitsraum; „noch nicht“ unterstellt, dass sie es grundsätzlich kann.

4. Aufgabenübernahme: Diesen Impuls macht Maja sich zur Aufgabe. Sie verwandelt in diesem Dialog den objektiven Anspruch in einen individuellen (Langeveld 1968, S. 51- 53). Sie investiert ihre Leistungsbereitschaft, indem sie sich dem Anspruch der Sache öffnet. Dabei lässt sie sich auf Konsequenzen ein, die sie nicht übersehen kann: Wird ihr die Wortkonstruktion gelingen? Und schon befindet sie sich mitten in der Schreibaktivität, in der sie jetzt Regieanteile übernimmt und dabei die Konsequenzen für sich überschaubar macht: Sie fragt nach kurzen Wörtern. Mit dieser Präzisierung möchte sie sich wohl ihren Erfolg sichern. Gleichzeitig offenbart Maja eine Einsicht in ihr schriftsprachliches Metawissen: Sie hat ein Wortkonzept ausgebildet, sie kann Wörter unabhängig von ihrer semantischen Bedeutung betrachten. Und offenbar hat sie die Vorstellung, dass kurze Wörter leichter zu schreiben sind, weil – so ist zu vermuteten – der Durchgliederungsüberblick bei der Lautanalyse leichter zu behalten ist. Der zweite Impuls gewährt – in Überschreitung der „reinen Diagnosesituation“ – Benjamin M. zusätzlich weitere diagnostische Einblicke in Majas Schriftsprachkompetenz.
Beide sind jetzt aktiv mit dem Schriftproduktionsprozess befasst. Die „Zone der nächsten Entwicklung“ wird hier – wie Lompscher es beschreibt – „unter Bedingungen der Kooperation mit und der Anleitung durch Erwachsene diagnostiziert“ (1996, S. 1).
Benjamin M.s Unterricht fördert Majas Entwicklung, indem er ihr nicht hinterherläuft, sondern ihr vorausgeeilt ist (ebd.).

Literatur:

Hüttis-Graff, Petra/Baark, Claudia: Die Schulanfangsbeobachtung. Unterrichtsaufgaben für den Schrifterwerb, in: Dehn, Mechthild u.a. (Hg.): Elementare Schriftkultur. Schwierige Lernentwicklung und Unterrichtskonzept, Weinheim und Basel (Beltz) 1996.

Langeveld, Martinus J.: Schule als Weg des Kindes, Braunschweig (Westermann) 1968.

Lompscher, Joachim: Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten – Lernen und Lehren in Zonen der nächsten Entwicklung. Übersetzung eines Referats auf dem Symposium „Die Zone der nächsten Entwicklung: Beziehungen zwischen Erziehung und Entwicklung“ im Rahmen der 2. Internationalen Konferenz zur soziokulturellen Forschung, Genf, 11.-15.9.1996, www.opus.kobv.de/ubp/volltexte/2005/502/pdf/AUFSTEIG.pdf (2005).

Raschendorfer, Nicola: LRS – Legasthenie: Aus Fehlern wird man klug. Förderdiagnostik auf der Basis freier Texte, Mühlheim an der Ruhr (Verlag an der Ruhr) 2004.

Röbe, Edeltraud: Die Aufgabe als Brücke zur Leistung, in: Leistungen fördern und bewerten. Die Grundschulzeitschrift, Heft 135-136, Juni/Juli 2000, 14. Jahrgang, Hannover-Seelze, S. 12-17.

Saldern, Matthias von: Schulleistung in Diskussion. Baltmannsweiler (Schneider Hohengehren) 1999.

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