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Falldarstellung

Den 22 Kindern der 1. Klasse wird im Stuhlkreis Schrift unterschiedlichster Typografie, Größe und Zusammensetzung (einzelne Buchstaben, Wörter verschiedener Länge, Texte verschiedener Art) gezeigt. Geschwungene Schriftzüge, Schreibschrift und geradlinige Druckschrifttypen sind gleichermaßen vertreten. Eine Zeitungsspalte ist ebenso vorhanden wie ein ganzer mehrspaltiger Zeitungstext. Ein dreistrophiges Gedicht kann gefunden werden, ein fünfzehnzeiliger Brief und eine Seite aus einem Buch. Die Ebene der Buchstaben ist neben »normalen« Druckschriftvarianten (groß und klein) vertreten durch farbenfrohe Beispiele aus dem sogenannten „Schmetterlingsalphabet“, fotografiert von Kjell B. Sandved.

So weit, so simpel. Eine Besonderheit der Materialaufbereitung liegt nun jedoch darin, dass es auf den Ebenen von Buchstaben, Wörtern und Texten jeweils Beispiele gibt, die den Kindern ¸ganz´ im Sinne von ¸unversehrt´ angeboten werden, während andere Beispiele zerschnitten in zwei Hälften dargeboten sind, so dass eine Lesbarkeit bei Buchstaben und Wörtern gar nicht mehr und bei Texten nur noch eingeschränkt, auf Kosten des vollständigen Inhalts möglich ist.

Zu Beginn des Unterrichtsgesprächs wird den Kindern mitgeteilt, dass es sich bei dem, was auf den Schnipseln zu sehen ist, um „Schrift“ handelt. Der Aufforderung etwas zu zeigen, das „man lesen kann“, kommen vier Kinder dadurch nach, dass sie einzelne Buchstaben oder auch Buchstabenhälften aus dem insgesamt 30-teiligen Arrangement auswählen. Die Buchstaben des „Schmetterlingsalphabets“ sind die ersten, die geholt werden, gefolgt von einem kleinen druckschriftlich gesetzten <m>, das im Rahmen des kurz zuvor begonnenen Fibellehrgangs bereits eingeführt wurde.

Als Immo ein quer zerschnittenes großes <O> holt, erntet er spontanen Protest: „Das kann man gar nicht lesen“ und „Das ist kaputt“ sind Stellungnahmen anderer Kinder. Immo wirkt irritiert. Auf meine Frage, ob er das denn lesen könne, sagt er: „Nein. Aber Große, die können das.“ Wieder Protest bei einigen MitschülerInnen: „Das ist doch gar kein richtiger Buchstabe“ ist zu hören und: „Da fehlt was“. Immo möchte seinen Schnipsel am liebsten loswerden. Erst als eine Mitschülerin ihn darauf hinweist, dass in der Mitte ja noch so eine Karte läge, die man dazulegen müsse, damit es ein „richtiger“ Buchstabe werde, fasst er wieder Mut, holt die gezeigte Karte und legt sie richtig an seine an. „Jetzt ist es ein <O>“, sagt die Mitschülerin, die ihm den Tipp gegeben hat, und Immo freut sich vernehmlich: „Wie bei Immo“, sagt er und lehnt sich entspannt zurück.

Auf meine Frage hin, ob jetzt einmal absichtlich Schnipsel geholt werden könnten, die man nicht lesen könne, holen einige Kinder wiederum zerschnittene Buchstaben und verweisen dabei zumeist spontan auf die ergänzende Hälfte, unabhängig davon, ob sie den geholten Buchstaben benennen können oder nicht.

Auch wenn die Frage-/Aufgabenstellung es zugelassen hätte, werden Wörter und Texte von den Kindern zunächst ausgelassen.

Julia ist die erste, die auf den erneuten Wechsel in der Aufforderung – „Jetzt mal wieder etwas, das man lesen kann“ – einen unzerschnittenen Text holt. Sie versucht sich im Entziffern einzelner Wörter innerhalb des von ihr geholten Brieftextes. Dann kapituliert sie: „Nee, das kann ich doch nicht“, sagt sie. „Ja, bist du denn sicher, dass man das, was du geholt hast, überhaupt richtig lesen kann?“, frage ich. „Ja, klar, das is´n Brief“, gibt Julia mir zur Antwort.

Als nächstes holt Tim den Schnipsel eines diagonal zerschnittenen vierspaltigen Zeitungstextes. Das könne man sehr wohl lesen, sagt er auf die Anmerkungen seiner MitschülerInnen, dass dieser Text doch zerschnitten sei. „Hier ist noch was heil“, sagt er und zeigt auf eine unversehrt gebliebene Spalte, „und hier auch. Hier sind Wörter, die sind nicht kaputt, die kann man lesen.“ Ob jemand, der diesen Text lesen würde, denn damit zufrieden sein würde, will ich wissen. „Nein“, sagt Tim, „da fehlt ja was.“ Der ergänzende Schnipsel ist schnell geholt und richtig angelegt. Wo man einen solchen Text denn finden könne? „In der Zeitung“, sagt Tim sofort, und viele Kinder signalisieren, dass auch sie diese Antwort hätten geben können.

Motiviert durch die mehrmalige erfolgreiche Benutzung des Wortes „Text“ frage ich: „Wer kann denn nun mal einen Text nehmen, den man lesen kann?“ Imra holt das handgeschriebene Wort <Weihnachten> aus der Kreismitte. „Das kann man lesen“, sagt sie und ich gebe ihr Recht. Es sei allerdings „wohl kein Text“, gebe ich zu bedenken und erneuere meine Aufforderung. Murat holt das dreistrophige Gedicht und bekommt, noch ehe er zurück an seinem Platz ist, von Imra zu hören: „Das kann man aber gar nicht lesen. Das sieht total komisch aus!“ „Kann man wohl“, gibt der Angegriffene zurück, „das ist ein Gedicht.“

Nach dem Kreisgespräch wird den Kindern Gelegenheit gegeben, selbst mit Schrift zu experimentieren: Sie bekommen ein 20-teiliges Arrangement aus Schnipseln ausgehändigt, bei dem – den zerschnittenen Beispielen der Kreismaterialien entsprechend -jeweils zwei Teile zusammenpassen. Es lassen sich legen: zwei Texte, vier Wörter, vier Buchstaben. Bei den Textbeispielen handelt es sich um zwei verschiedene Seiten ohne Überschrift aus ein und demselben Buch, die in genau gleicher Weise längs zerschnitten sind, so dass ein richtiges Zusammenlegen der Teile nur durch genaues Acht geben auf die einzelnen Wörter und/oder Leerzeilen möglich ist. Bei den quer zerschnittenen Wörtern gibt es zwei problemlos zusammenzulegende Beispiele (eines ist in großer Druckschrift gesetzt, das andere in geschwungener Schreibschrift). Zwei weitere Beispiele sind verwechslungsintensiver. Es handelt sich um zwei gleich lange Wörter in artefiziell-geschwungener Druckschrift, bei der eine falsche Puzzelkombination nur durch genaues Hinsehen falsche Linienführungen offenbar werden lässt. Die Ebene der Buchstaben ist durch zwei große und zwei kleine Druckbuchstaben vertreten.

Die Kinder beginnen sofort mit dem Zusammenlegen. Es ist zu beobachten, dass auch bei diesen Materialien auffallend häufig zuerst nach den Buchstabenteilen gegriffen wird. Sie machen ihnen keine größeren Probleme. Auch die Wörter in großer Druckschrift und in geschwungener Schreibschrift bereiten keine Schwierigkeiten. Die beiden anderen Wörter jedoch werden von vielen Kindern falsch zusammengelegt. Erst auf direkte Nachfrage gibt Julia mir gegenüber zu, dass das von ihr Zusammengelegte „irgendwie komisch“ aussehe. Beim gegeneinander Austauschen der Puzzelteile finden sie und ihre Partnerin die passende Kombination und stellen fest, dass es erst jetzt „richtige Buchstaben“ sind.

Die im Vergleich zu Buchstaben und Wörtern größten Schwierigkeiten haben die Kinder mit den Textschnipseln. Während ich hinter Hannah und Sabina stehe, kann ich folgende Szene beobachten, die sich an zwei falsch zusammengelegten Textschnipseln entzündet:

Hannah: Das passt nicht.
Sabina: Doch, das passt.
Hannah: Nein, das ist falsch.
Hannah will die angelegte Hälfte wegnehmen, aber Sabina schlägt ihre Hand darauf.
Hannah (wird ungehalten): Sieht man hier doch, guck! Hannah zeigt auf eine durch einen Absatz entstandene Leerzeile in der einen Texthälfte, die in dem angelegten Text keine Fortsetzung erfährt.
Hannah: Hier is´ der Satz zu Ende, guck, und hier is´ was (zeigt auf die auf gleicher Zeilenhöhe liegende Zeile des angelegten Textschnipsels).
Sabina ist verunsichert, lässt Hannah die Texthälften austauschen und betrachtet kritisch das Ergebnis.
Sabina: Ja, passt.

(Klasse 1, September 2002, Gedächtnisprotokoll)

Interpretation

Das Beispiel macht deutlich, dass die Kinder offensichtlich buchstaben- und wortübergreifende Kategorien haben, mit denen sie die Schriftstücke betrachten. Zwar spricht Hannah vom Satz, wenn sie die Zeile meint, entscheidend aber ist, dass sie solche Ausdrücke beim Umgang mit Texten in dieser frühen Phase des Schrifterwerbs überhaupt gebraucht. Ähnlich verhält es sich mit den Tatsachen, dass Kinder Buchstabenformen kennen, auch wenn sie die Grapheme häufig noch nicht benennen können, dass sie eine Vorstellung davon haben, dass ein Wort aus Buchstaben besteht und dass sie auch ohne Lesefähigkeit Aussagen über eine prinzipielle Lesbarkeit oder Nicht-Lesbarkeit machen können.

Im Interesse der Entwicklungsorientiertheit des Unterrichts muss dieses ihre individuellen Schemata ausmachende implizite Wissen und Können der Kinder in ein Wechselspiel gestellt werden mit dem, was zu Beginn des Schriftspracherwerbs explizit angeboten wird. Nur dann, wenn die Lehre sich wegbewegt, von der entwicklungstheoretischen Vorstellung, die Kinder müssten (sach-)systematisch und außengeleitet von einer Stufe zur nächsten gebracht werden, kann der Unterricht dorthin gelangen, den Kindern Räume zur Verfügung zu stellen, innerhalb derer sie Möglichkeiten finden, ihre auf Schriftsprache bezogenen Schemata zu modifizieren.

Immer dann, wenn den Kindern im Anfangsunterricht über die Laut-Buchstabe-Beziehung hinausgehend gezeigt wird, was sie eigentlich schon können, eröffnet sich ihnen ein solcher Raum.
(…)
Gedicht- oder Liedtexte beispielsweise üben auch auf Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, eine besondere Faszination aus. Das oben beschriebene Unterrichtsexperiment lässt darüber hinaus erkennen, dass gerade das Wissen um die Besonderheiten der Form lyrischer Texte zum impliziten Wissen einiger Kinder gehört. „Das ist ein Gedicht“, sagt Murat und hat dabei sowohl im Kopf, dass ein Gedicht ein „Text“ ist – dieser Begriff war Bestandteil meiner auffordernden Frage gewesen -, als auch dass es ein Text in besonderer Form ist, denn dieses ist das einzige Wahrnehmungskriterium, das ihm ohne Erschließung der Semantizität zugänglich ist.
(…)

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