Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Folgende Fälle liegen dem Vergleich zugrunde:

Im Folgenden wird ein Vergleich der dargestellten Interpretationen von den ausgewählten zwei Episoden vorgenommen. Im Forschungsprojekt selbst wurde zur Komparation noch eine weitere Episode aus dem musisch-ästhetischen Bereich hinzugezogen. Die vorzustellenden Ergebnisse beziehen sich an einigen Stellen auch auf diese dritte Episode. Im Text verweisen wir auf diese Erweiterungen.

Die Rezipienten und das Rezipientendesign
Die ersten Dekompositionsversuche zum Rezipientenstatus wurden im Rahmen der Analyse der Episode „dreizehn Perlen“ unternommen. Ausgangspunkt war, dass die Lehrerin den Schüler Jarek aufgrund seiner unerwarteten Antwort „sieben minus null“ nach vorne „an die Tafel“ ruft und ihn zur Demonstration seiner Lösung an der Rechenkette auffordert. Diese Szene führte dazu, den Begriff der „Podiumsdiskussion“ einzuführen. Die Situation setzte sich dabei aus

  • den Gesprächspartnern auf dem Podium
  • ihren aufmerksamen Zuhörern und
  • den Bystandern

zusammen. Auf dem Podium agierten zunächst die Lehrerin und Jarek. Zumindest aus Sicht der Lehrerin sollte in dieser dyadischen Interaktion Jarek nicht nur ihr seinen Lösungsweg darstellen und ihr damit die Gelegenheit geben, ihn gegebenenfalls auf einen Fehler in seinen Überlegungen hinzuweisen. Vielmehr sollte in diesem Gespräch von ihr und Jarek stellvertretend für die „Klasse“ die Richtigkeit der Lösung „sieben minus null“ überprüft werden. Diese empirisch vorgefundene Konstellation führte dazu, bei der von uns als Podiumsdiskussion beschriebene Interaktionsstruktur zwischen den genannten drei Formen des Rezipienten zu unterscheiden.

Der partizipationsanalytische Vergleich dieser Szene mit anderen aus derselben Episode erbrachte, dass diese podiumsbezogene Aufteilung des Interaktionsraums auftrat, als Jarek eine ungewöhnliche Antwort gab und erhöhter Erklärungsbedarf eingefordert wurde. In den vorhergehenden, gleichsam „erwartungsgemäß“ verlaufenden Partizipationssequenzen konnte ein solches Podium nicht ausgemacht werden: Die Schüler gaben aufgefordert additive Zerlegungen der Zahl 13. Sie mussten diese Zerlegungen nicht begründen und wurden deswegen auch nicht auf das Podium nach vorne geholt. Des Weiteren öffnete sich die Podiumsdiskussion mit Jarek anschließend für einen größeren Diskutantenkreis, der lokal gesehen aber nicht das Podium ausmachte: Es wurden Widerreden gehalten, und ein mehrsträngiger Argumentationszyklus emergierte, in dem Schüler aus dem Zuhörerraum zu Worte kamen.

Es wird also möglich, eine differenziertere Analyse des Rezipientendesigns im lehrergelenkten Unterricht vorzunehmen. Das umfassendere Design bezeichnen wir als das „Klassengespräch“. Problemlos kann hierfür der Begriff des Bystanders übernommen werden: Es gibt wohl immer im lehrergelenkten Unterricht einige Schüler, deren Art der Beteiligung am Klassengespräch unbestimmbar, oszillierend oder äußerst niedrig ist. Viele Schüler haben offenbar in diesem Interaktionsraum die Möglichkeit, in diesem Status zumindest zeitweise relativ sanktionsfrei zu verweilen, ebenso wie sie allem Anschein nach auch die Möglichkeit haben, diesen Status aufzugeben und sich engagierter dem Klassengespräch zuzuwenden.

In diesen Klassengesprächen konnte ebenfalls ein Kreis von aufmerksamen Zuhörern identifiziert werden. Aus ihm rekrutierten sich gewöhnlich die Gesprächspartner der Lehrerin im Klassengespräch. Sie sind potentiell Mitredende im Unterricht. Sie können sich gelegentlich wohl auch als vormalige Bystander in diesen Status begeben. Im Gegensatz zur Podiumsdiskussion fluktuiert der Kreis der Mitredenden, und jeder von ihnen erhält in der Regel nur eine begrenzte Anzahl von Redebeiträgen (gewöhnlich nur einen). Anschließend kehrt ein solcher Mitredender entweder in den Kreis der aufmerksamen Zuhörer oder den der Bystander zurück. Gewöhnlich verlässt er für seinen Redebeitrag nicht seinen Platz.

Im vom lehrergelenkten Unterricht aufgespannten Interaktionsraum lassen sich somit zumindest zwei Rezipientendesigns identifizieren: das Klassengespräch und die Podiumsdiskussion. Sie stehen aus unserer Sicht in einem Inklusionsverhältnis: Das verbreitetere oder üblichere Rezipientendesign ist das Klassengespräch. In besonderen Fällen kann es sich zu einer Podiumsdiskussion weiterentwickeln. Hier gibt es dann nicht mehr eine fluktuierende Anzahl von Mitredenden, sondern eine relativ klar bestimmbare kleine Anzahl von Gesprächspartnern. Podiumsdiskussionen können aus einem Klassengespräch emergieren, wenn unerwartete Schüleräußerungen auftreten und diese ausführlicher besprochen werden sollen.

Diese Differenzierung war aus dem Vergleich von drei Szenen aus der Episode „dreizehn Perlen“, also gleichsam aus einer intra-episodären Komparation, gewonnen worden. Die inter-episodäre Gegenüberstellung ergibt nun noch weitere Differenzierungen und Modifikationen.

In der Episode „lautliches Erfassen B“ wurde das Rezipientendesign des Klassengesprächs über den gesamten Verlauf relativ homogen perpetuiert. Dies erlaubte, die MEHANsche Mikrosequenz Initiation-Reply-Evaluation (MEHAN 1979) wiederzufinden und hierdurch diese Unterrichtsepisode in den weithin bekannten Rahmen des „fragendentwickelnden“ Unterrichtsstils einzuordnen (vgl. BAUERSFELD 1978, 1982; KRUMMHEUER 1995a; MAIER & VOIGT 1989; VOIGT 1984). Zugleich wurde aber im Vergleich mit der Episode „dreizehn Perlen“ deutlich, dass die Schüler bei der sich fragend-entwickelnd voranschreitenden Themenkonstitution in der Episode zum Schriftspracherwerb häufiger mit relativ geringem Aufmerksamkeitsaufwand „mitreden“ konnten: Durch die Strategie der „minimalen Veränderung“ (Ball, Fußball, Basketball …) zuvor genannter, richtiger Worte konnten beispielsweise selbst Kinder, die zuvor im Bystanderstatus verweilten, spontan erfolgversprechend am Klassengespräch partizipieren.

Diese Strategie könnte auch in der Rechenstunde teilweise zum Zuge gekommen sein. Nur hatte man in dieser Episode den Eindruck, dass es dort die Strategie von aufmerksamen Zuhörern und nicht die von Bystandern war. Für die Möglichkeit dieser Unterscheidung spielten wohl zwei Gesichtspunkte eine Rolle:

  • In der Deutschstunde gab es relativ viele Zwischenrufe. Viele der Antworten, die von aufgerufenen Schülern gegeben worden sind, waren zuvor bereits in die Klasse gerufen worden.
  • In der Deutschstunde wurden Ergebnisse an der Tafel notiert. In der Mathematikstunde verblieb die gesamte Kommunikation im Verbalen. Dies erzeugte zum einen eine gewisse Flüchtigkeit hinsichtlich der als richtig ratifizierten Antworten. Zum anderen erforderte dies von den Mitwirkenden eine höhere Aufmerksamkeit.

In der Stunde zum Schriftspracherwerb wurde somit die Grenze zwischen aufmerksamen Zuhörern und Bystandern teilweise aufgehoben. Dies wurde für die Episode aus dem musisch-ästhetischen Unterricht noch durchgängiger rekonstruiert. Es wurde ein Klassengespräch mit der „fairen“ Möglichkeit zur Partizipation von „allen“ hervorgebracht. Die Mathematikstunde dagegen grenzte deutlicher die Bystander von der Möglichkeit der aktiven Partizipation am Klassengespräch aus.

Abschließend und überleitend soll noch darauf hingewiesen werden, dass der Diskurs in allen Episoden seine Lebendigkeit u. a. auch dadurch erfuhr, dass er unerwartete und „kreative“ Schülerbeiträge zuließ und fast immer argumentativ aufgriff.

Argumentationen und Rationalisierungspraxen
Die Argumentationsanalysen konzentrierten sich auf die Rekonstruktion von Merkmalen der in den Episoden emergierenden Rationalisierungspraxen. Hierbei konnten vor allem die folgenden drei Merkmale identifiziert und genauer beschrieben werden:

  • die in der Interaktion (implizit) formulierte Erwartung an die Explikation von Gründen zu einer vertretenen Meinung,
  • die Komplexität der hervorgebrachten Argumentationen (Tiefe, Mehrsträngigkeit) und
  • die im Interaktionsprozess emergierende Standardisierung und Routinisierung der Argumentation.

Im Hinblick auf eine Komparation der Rationalisierungspraxen in den Episoden scheint vor allem der erste Punkt, also die Art der Anforderung an eine Explikation von Gründen ein geeignetes Merkmal zur Unterscheidung darzustellen. Sie kann als ein tertium comparationis herangezogen werden, das die beiden anderen Punkte zu integrieren vermag:

  • In der Episode „dreizehn Perlen“ bestand eine solche Explikationsanforderung offenbar nur dann, wenn die Lehrerin das von einem Schüler hervorgebrachte Ergebnis für (fachlich) inakzeptabel hielt (7 minus 0 als Zerlegung von 13 Perlen). Hier initiierte sie eine Podiumsdiskussion, in der Jarek seine Begründung in mehreren Redebeiträgen darlegen konnte. Es entstand in der Folge ein Argumentationszyklus, in dem die einzelnen Argumentationsstränge z. T. bis in die explizite Darlegung von Garanten und Stützungen reichten. Von Seiten der Lehrerin wurden Routinisierungen der Argumentationen im Sinne der Befolgung von Argumentationsformaten angestrebt. Zumindest Jareks Darstellungen ließen sich nicht in derartige Muster integrieren.
  • In der Episode zur Einführung des Buchstabens B wurde dagegen eine Rationalisierungspraxis etabliert, die auch Begründungen von offensichtlich nicht strittigen Fällen einfordern konnte: Es ließen sich Routinisierungstendenzen in den Schülerbeiträgen erkennen. Jedoch zeigte sich hier, dass durch die immer wieder auftretenden ungewöhnlichen Schülerantworten diese Routinisierung nicht zu einer Standardisierung der Antworten hinsichtlich des unterlegten Argumentationsschemas führten. So wurden spontan Argumentationen generiert, die sich in ihrer Überzeugungskraft gleichsam appellativ auf den Topos des genaueren Hinhörens beriefen, in fachlicher Hinsicht jedoch nicht haltbar waren (z. B. im Fall „gelb“). In späteren, hier nicht dargelegten Unterrichtsabschnitten ließen sich kaum noch inhaltliche Auseinandersetzungen ausmachen.

Insgesamt zeigte sich, dass sich die Partizipationsmöglichkeit für viele Schüler an den jeweilig rekonstruierten Rationalisierungspraxen offenbar verbesserte, wenn eine Standardisierung der Redebeiträge und eine Routinisierung des Argumentationsablaufs eingetreten waren. Dies korrespondierte jedoch mit einem Verlust an argumentativer Tiefe (Garanten, Stützungen) und argumentativer Auseinandersetzung (Argumentationsstränge, Widerreden). Diese Einschätzung basiert sehr stark auch auf unserer Analyse der musisch-ästhetischen Unterrichtsepisode. In dieser sollten die Kinder im Rahmen einer Bildbesprechung Gründe für ihre Bildauswahl („Welches Bild finde ich besonders schön?“) nennen. Die genannten Gründe waren letztlich austauschbar und nicht mehr auf das jeweilige Bild bezogen.

Literatur

Bauersfeld, H. (1978): Kommunikationsmuster im Mathematikunterricht. Eine Analyse am Beispiel der Handlungsverengung durch Antworterwartung. In: ders. (Hrsg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel.

Bauersfeld, H. (1982): Analysen zur Kommunikation im Mathematikunterricht. In: Bauersfeld, H./ Heymann, H. W./ Krummheuer, G.; Lorenz, J. H. & Reiss, V.: Analysen zum Unterrichtshandeln. Köln: Aulis.

Krummheuer, G. (1995a): Der mathematische Anfangsunterricht. Anregungen für ein neues Verstehen früher mathematischer Lehr-Lern-Prozesse. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 2. Auflage.

Maier, H. & Voigt, J. (1989): Die entwickelnde Lehrerfrage im Mathematikunterricht, Teil 1. In: mathematica didactica 12 (1): 23-55.

Mehan, H. (1979): Learning lessons. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Voigt, J. (1984): Der kurztaktige, fragend-entwickelnde Mathematikunterricht – Szenen und Analysen. In: mathematica didactica 7: 161-186.

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