Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Falldarstellung

Häufig wird im Algebraunterricht die Äquivalenz (a + b) (c + d) = ac + ad + bc + bd mit Hilfe des zuvor zu besprechenden Distributivgesetzes a(b + c) = ab + ac herzuleiten versucht. So auch im folgenden Unterrichtsausschnitt. Der Lehrer greift dabei auf ein schon im Unterricht mehrfach verwendetes und erprobtes Manipulieren mit Styroporflächen zurück: Auf die feuchte Tafel wird angeheftet:

Die Schüler haben gelernt, dies zu

zu erweitern. Auf diese Styroporflächen werden mit einer Stecknadel Karteikärtchen befestigt, auf denen Terme stehen. Der Lehrer eröffnet die Stunde mit:

1 L: An dieser Stelle des Quadrats hatten wir noch nie eingesetzt eine … Summe. a plus zwei anstelle dieses Quadrates das haben wir noch nie eingesetzt. … Das wollen wir heute machen und rausfinden, wie wir damit umgehen. [Der Lehrer steckt auf die Styroporflächen

Wenig später antworten die Schüler Ulrich und Joachim:

2 U: Also vielleicht a mal sieben plus zwei mal b.

3 J: Plus zwei mal sieben plus a mal b plus zwei mal b.

4 L: Kümmern wir uns erst mal um den Vorschlag von Joachim. Erst mal, um dahinterzusteigen, was hat er gemacht.

5 J: Also ich hab die a mal der sieben und der b, der b genommen.

6 L: Also a mal sieben.

7 J: Und mal b und plus, mal, äh, plus a mal b

8 L: Und a

9 J: Und dann hab ich gerechnet, zwo mal sieben plus zwo mal b.

10 L: Ganz toll, der Joachim hat auf den ersten Blick sofort die komplette Regel nicht nur gefunden, sondern auch im Grunde genommen erklärt. Das ist genau richtig.

Interpretation

Offensichtlich ist hier zwischen dem Lehrer und dem Schüler Joachim ein Einverständnis über die Deutung der Aufgabensituation hergestellt worden (vgl. Äußerung 10). Dieser Gesprächsausschnitt soll noch einmal von vorn aufgerollt werden, um zu sehen, wie Lehrer und Schüler zu dieser Verständigung gelangt sind.

Ulrich vermutet in (2) als Ergebnis a * 7 + 2 * b. Dies Ergebnis ist mathematisch falsch, wenngleich unter algorithmisch-mechanischer Rahmung das Rechenschema durchaus plausibel sein kann: die Ähnlichkeit zum schematischen „Ausrechnen“ von Termen der Form a * (b + c) nach dem Distributivgesetz erscheint hinreichend groß. Möglich ist auch, dass Ulrich noch mehr sagen wollte, aber von Joachim in (3) unterbrochen wird. Joachim macht dort einen anderen Vorschlag, den er in (5), (7) und 9 noch einmal wiederholt. Zumindest in dieser Wiederholung ist die Klammer des Terms (a + 2) * (7 + b) mathematisch richtig aufgelöst worden. Joachim hält zunächst a im ersten Term fest und kombiniert dann a * 7 + a * b (in 5 und 7) und dann wechselt er zur 2 im ersten Term und bildet die analogen Kombinationen: 2 * 7 + 2 * b (in 9). Der Lehrer lobt Joachim in (10) wegen der genannten bzw. verwendeten Regel und behauptet, dass Joachim diese sogar „erklärt“ hätte. Unter einer algebraisch-didaktischen Rahmung hätte man für das gestellte Problem freilich eine andere Erklärung erwartet:

Wegen 

ergibt sich für die aufgesteckten Teilterme

(I) (a + 2) * (7 + b)=(a + 2) * 7 + (a + 2)* b

Die Summanden (a + 2) * 7 + (a + 2) lassen sich wegen des Kommutativgesetzes der Multiplikation umdrehen zu

(II) 7 * (a + 2) + b * (a + 2)

Auf diese beiden Teilterme lässt sich wieder einzeln das Distributivgesetz (aus Styropor) anwenden, so dass sich schließlich ergibt

(III) 7 * a + 7 * 2 + b * a + b * 2

Zum Vergleich dieses Lösungs- und Erklärungsweges mit Joachims Äußerungen ist vor allem die Zeile (I) wichtig. Die zugrunde gelegte Styroporflächenstruktur lässt nur diese in (I) wiedergegebene Umformung zu. Das Styroporquadrat (a + 2) bleibt zunächst erhalten. Joachim dagegen löst aber diesen Term zu allererst auf (vgl. (5)) und betrachtet den Styroporausdruck

zunächst als Ganzes. Kurzum: Joachim löst die Aufgabe richtig und verdeutlicht auch sein Lösungsverfahren, aber er beruft sich dabei nicht auf die zugrunde gelegte Äquivalenz der Styroporausdrücke


Joachim nennt eine mathematisch akzeptable Regel zum Auflösen von Klammern, behält aber dennoch seine algorithmisch-mechanische Rahmung bei:

An diesem Beispiel kann man erkennen, was sich in der Gesamtanalyse von 27 Unterrichtsstunden wiederholt bestätigt:

1. Die Handlungen der Schüler bleiben weitgehend algorithmisch-mechanisch gerahmt, wenngleich diese Rahmung durch Einbezug des „Buchstabenrechnens“ in Richtung auf ein algebraisches Deuten von Termen verändert, „moduliert“ wird (vgl. Krummheuer 1983a, 1984).

2. Der Lehrer besteht in diesem Fall nicht auf der strengen Einhaltung einer algebraisch-didaktischen Rahmung. Er moduliert diese Rahmung ebenfalls: Die Herleitung bzw. „Erklärung“ des Lösungsweges durch Joachim im Sinne der Nennung eines Klammerauflösungs-Mechanismus wird in Richtung auf ein algorithmisches Rechnen gerahmt.

Offenkundig ist zwischen Lehrer und Schüler eine Verständigung über das, was in der Aufgabensituation gemacht werden soll, erreicht worden. Diese Verständigung beruht, wie die Gesamtanalysen zeigen, auf der Entschärfung der Rahmungsdifferenz zwischen einer algebraisch-didaktischen und einer algorithmisch-mechanischen Rahmung. Die Entschärfung erfolgt durch Modulation der jeweiligen Rahmung: Joachim moduliert durch Einbeziehen des Buchstabenrechnens seinen algorithmisch-mechanischen Rahmen in Richtung auf die Algebra. Der Lehrer moduliert durch verstärkte Betonung von Rechenmechanismen einen algebraisch-didaktischen Rahmen in Richtung auf das Rechnen „nach Schema F“ (vgl. hierzu den Begriff des „Arbeitsinterim“ bei Krummheuer 1983a und 1984). Verständigung kommt zustande, indem man sich auf das Formale einigt. (…)

Die Analyse der Beispiele Verständigungsprobleme I – Algebra und Verständigungsprobleme II – Distributivgesetz zeigt ein Paradox auf: Hält der Lehrer streng eine mathematische Sichtweise durch – dann stellt sich keine Verständigung ein: Die Kommunikation bricht zusammen aufgrund einer nicht überbrückten Rahmungsdifferenz. Kommt dagegen eine Verständigung zustande – dann verändert (moduliert) er seine algebraische Sichtweise: Die Kommunikation kann fortbestehen trotz einer Rahmungsdifferenz (…).

Literaturangaben:

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Krummheuer, G.: Transkripte zum Projekt „Algebraische Termumformungen in der Sekundarstufe I“. Bielefeld: Manuskript am IDM der Universität Bielefeld 1983 (b)

Krummheuer, G.: Ein Fall von Unterrichtskommunikation in der Diskussion mit Mathematiklehrern. In: Fischer, D. (Hrsg.): Lernen am Fall. Konstanz: Faude 1983 (c)

Krummheuer, G.: Zur unterrichtsmethodischen Dimension von Rahmungsprozessen. In: Journal für Mathematikdidaktik 5 (1984) 4, S. 285-306

Malle, G.: Variable. In: Mathematiklernen 15 (1986), S. 2-8

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Voigt, J.: Interaktionsmuster und Routinen im Mathematikunterricht. Weinheim: Beltz 1984 (a) V oigt, J.: Die Kluft zwischen didaktischen Maximen und ihrer Verwirklichung im Mathematikunterricht. In: Journal für Mathematikdidaktik 5 (1984) 4, S. 265-282 (1984 b)

Vollrath, H.-J.: Didaktik der Algebra. Stuttgart: Klett 1974

Wallrabenstein, H.: Die Musterlektion -Darstellung einer Lehr-Lern-Situation und Kommentar. In: Bauersfeld, H. (Hrsg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel 1978

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