Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Falldarstellung

Die (…) folgenden transkribierten Unterrichtsausschnitte stammen aus einer Untersuchung zum Unterricht über algebraische Termumformungen in der Sekundarstufe I. Die beobachtete Klasse ist der gymnasiale Zweig der 8. Jahrgangsstufe einer additiven Gesamtschule. Sie wurde über 27 Stunden Mathematikunterricht beobachtet, in denen Lehrer und Schüler das Kapitel „Termumformungen“ behandelten. Die darzustellenden Interpretationen der zwei Unterrichtsausschnitte sollen exemplarisch einige Analyseergebnisse verdeutlichen, die sich aus der Analyse aller 27 Stunden ergeben haben (genaueres siehe Krummheuer 1983a und 1984). Das Interesse der Analyse bei den folgenden zwei Ausschnitten lässt sich in der Frage formulieren: Wie versuchen Lehrer und Schüler zu einer Verständigung darüber zu kommen, was in der jeweiligen Aufgabensituation getan werden soll? Es empfiehlt sich, bereits beim ersten Durchlesen der wiedergegebenen Transkripte diese Fragestellung zu berücksichtigen.

In der Klasse werden seit ca. 14 Tagen „Termumformungen“ behandelt. Nach einer Einführung in die Begriffe des „Terms“ und der „Gleichwertigkeit von Termen“ wurden die einzelnen Termumformungsregeln besprochen, z.B.: „Man addiert (subtrahiert) gleichartige Glieder, indem man die Zahlfaktoren addiert (subtrahiert). 7a+5a=12a. 14x-6x=8x“ (aus Mathematik heute 8, S.11). In dem folgenden Unterrichtsausschnitt bearbeiten die Schüler, einzeln oder in Gruppen, ein ausgegebenes Übungsblatt. Die in dem Ausschnitt angesprochene Aufgabe heißt: 3 * a * b – 3 * a * b. Die Schülerin Martina signalisiert, dass sie mit den Aufgaben nicht zurechtkommt, und der Lehrer geht an ihren Tisch:

1 M: ich weiß nicht, wie ich das rechnen soll. … Also ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll mit den b’s da.

2 L: … wir müssen versuchen, auch mit solchen Zahlen umzugehen. Kannst du dich vielleicht daran erinnern, dass wir hier versucht haben, eine Formel dafür zu finden, wie wir die Materialoberfläche bei dem Rechteck berechnen?

3 M: und die Klammer? (bezieht sich auf eine andere Aufgabe)

4 (Der Lehrer führt nun aus, wie bei der Berechnung der Größe und Oberfläche eines Quaders erkannt wurde, daß die Terme 2ab + 2ac + 2bc und 2(ab + ac+ bc) gleichwertig sind, ohne daß man hierzu mit Zahlen für a, b und c hätte rechnen müssen. Sodann fährt er fort:)

5 L: … wir wollen jetzt nicht bestimmte Zahlen einsetzen. Sondern, dieses a und dieses b, das ist halt Platzhalter für eine Zahl, für jeweils verschiedene Zahlen. Wir wollen keine Zahl da jetzt einsetzen.

6 M: Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich da jetzt drei mal a, eh, mal b minus drei mal a und b rechnen oder wie?

7 L: Ja, überleg mal ganz genau, was könnte denn da rauskommen?

8 M: Weiß ich ja nicht. Weiß ich ja nicht, was das ist, b….

9 M: Da ich nicht weiß, welche Zahlen eingesetzt werden, weiß ich auch nicht, was rauskommt.

(Im weiteren Gesprächsverlauf läßt sich der Lehrer darauf ein, Zahlen für a und b einzusetzen. Zugleich macht er aber deutlich, daß bei dieser Aufgabe gerade nicht mit konkreten Zahlen gerechnet werden soll; vgl. die Zeilen 343-381, S. 97 in Krummheuer 1983b.)

Interpretation

Allem Anschein nach können Martina und der Lehrer sich hier nicht darüber verständigen, was bei der Aufgabe 3 * a * b – 3 * a * b gemacht werden soll. Als außenstehender Dritter ist man möglicherweise spontan betroffen von der schwachen Leistung der Schülerin, die eine so „einfache“ Aufgabe nicht zu lösen imstande ist. Möglicherweise fallen einem solchen Dritten spontan noch viele andere methodische Wege für den Lehrer ein, so dass man das Vorgehen des Lehrers nicht „gut“ findet. Zudem erkennt man möglicherweise die stoffliche Schwierigkeit, dass in diesem kurzen Gesprächsausschnitt die drei wesentlichen Aspekte des Variablenbegriffs, der „Gegenstandsaspekt“, der „Einsetzungsaspekt“ und der „Kalkülaspekt“ (vgl. hierzu z.B. Fischer/Malle 1985, S. 41ff) nur unklar auseinandergehalten werden.

Neben diesen Erklärungsversuchen für das offenkundige Scheitern einer Verständigung zwischen Martina und dem Lehrer, soll hier dieses Gespräch unter der bereits genannten Fragestellung noch einmal aufgerollt werden: Wie versuchen sich der Lehrer und Martina darüber zu verständigen, was bei der Aufgabe 3 * a * b – 3 * a * b gemacht werden soll? Martina macht nicht viel Federlesens, sondern kommt in Äußerung (1) sogleich zu ihrem Problem: sie weiß nicht, wie sie rechnen soll, und sie weiß nicht, was sie mit den Variablen zumindest aber mit der Variable b machen soll. Der Lehrer versteht Martina wohl so, als wolle sie ihm signalisieren, dass sie grundsätzliche und nicht nur auf diese spezielle Aufgabe bezogene Verständnisprobleme habe. In den Äußerungen (2), (4) und (5) versucht der Lehrer die Aufgabenstellung in einer Sicht darzustellen, wie in den letzten Stunden nach seiner Auffassung darüber gesprochen worden ist. Er versucht, diese Weise der Deutung, diese „Rahmung“ der Situation in Erinnerung zu rufen. Den jetzt erneut von Martina vorzunehmenden „Rahmungsvorgang“, d. h. das Aktivieren der vom Lehrer zugrunde gelegten Deutungsweise, versucht der Lehrer durch für diese Rahmung typische Signalwörter zu initiieren: Er erinnert an eine Formel (die Oberflächenformel des Quaders) und gibt in (4) noch weitere Signalwörter aus den letzten Stunden wieder. Er versucht, Martina gleichsam auf die „Sprünge“ zur angemessenen Rahmung der Aufgabensituation zu helfen (siehe hierzu auch Krummheuer 1983a).

Zugleich wird hiermit auch in Konturen die Rahmung der Aufgabensituation durch den Lehrer erkennbar: nicht „kurzsichtig“ das Finden des Ergebnisses zur vorliegenden Aufgabe 3 * a * b – 3 * a * b ist für ihn jetzt wichtig, sondern eine auf „Durchblick“ zielende Reflexion des Variablenbegriffs (zumindest eines Aspektes davon; vgl. Äußerung (5)). Diese „algebraisch didaktische Rahmung“, unter der dies geschehen soll, hat der Lehrer in den Äußerungen (2), (4) und (5) herzustellen versucht (zum Begriff „algebraisch didaktische Rahmung“ siehe z.B. Krummheuer 1984).

Martina freilich übernimmt diese Rahmung nicht. Möglicherweise ist ihr diese Deutungsweise von Aufgaben (noch) zu neu oder zu schwer. Ihre gewohnte Rahmung scheint das „Ausrechnenkönnen“ zu sein. Sie möchte Hinweise erhalten, die es ihr ermöglichen, von ihr beherrschte Rechenschemata einzusetzen. So wird sie hier in der Äußerung (6) verstanden. Um dies „machen“ zu können, in Martinas Verständnis „rechnen“ zu können, benötigt sie Zahlen. Mit Buchstaben kann sie offensichtlich (noch) nicht rechnen. Ihre, wie wir sagen, „algorithmisch-mechanische Rahmung“ fußt (noch) auf den Rechenverfahren für konkretere Zahlen (zu dieser Rahmung vgl. z.B. Krummheuer 1984). Die Frage des Lehrers in (7) ist unter Martinas algorithmisch-mechanischen Rahmung gänzlich unverständlich. Unter dieser Rahmung muss man nicht „genau überlegen“, wie der Lehrer empfiehlt, sondern „genau rechnen“.

Die Verständigung ist für diesen Moment gescheitert. Unverrückbar treffen hier die Deutungen der Aufgabensituation unter einer algebraisch-didaktischen Rahmung mit denen unter einer algorithmisch-mechanischen Rahmung aufeinander. Die Möglichkeit der Verständigung scheint in dieser Szene vertan: Der Unterschied der Rahmungen der Situation durch den Lehrer und die Schülerin wird nicht überbrückt.

Die Analyse der Beispiele Verständigungsprobleme I – Algebra und Verständigungsprobleme II – Distributivgesetz zeigt ein Paradox auf: Hält der Lehrer streng eine mathematische Sichtweise durch – dann stellt sich keine Verständigung ein: Die Kommunikation bricht zusammen aufgrund einer nicht überbrückten Rahmungsdifferenz. Kommt dagegen eine Verständigung zustande – dann verändert (moduliert) er seine algebraische Sichtweise: Die Kommunikation kann fortbestehen trotz einer Rahmungsdifferenz (…).

Literaturangaben:

Andelfinger, B.: Didaktischer Informationsdienst Mathematik. Thema: Arithmetik, Algebra und Funktionen. Soest: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1985

Barth, F.: (Un-)Zeitgemäße Bemerkungen zum Algebraunterricht. In: Didaktik der Mathematik 4 (1978), S. 289-295

Bauersfeld, H.: Ergebnisse und Probleme von Mikroanalysen mathematischen Unterrichts. In: Dörf­ler, W./Fischer, R. (Hrsg.): Empirische Untersuchungen zum Lehren und Lernen von Mathematik. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1985

Bauersfeld, H./Yoigt, J.: Den Schüler abholen, wo er steht! Inszenierung oder Verwirklichung eines didaktischen Prinzips? In: Jahresheft IV „Lernen“. Velber: Friedrich 1986, S. 18-20

Fischer, R./Malle, G.: Mensch und Mathematik. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1985

GAMMA 8, herausgegeben von Hayen, J./Vollrath, H.-J./Weidig, J. Stuttgart: Klett 1982

Jahner, K: Methodik des mathematischen Unterrichts. Heidelberg: Quelle & Meyer 1978

Krummheuer, G.: Das Arbeitsinterim im Mathematikunterricht. In: Bauersfeld, H. u. a.: Lernen und Lehren von Mathematik. Köln: Aulis 1983 (a)

Krummheuer, G.: Transkripte zum Projekt „Algebraische Termumformungen in der Sekundarstufe I“. Bielefeld: Manuskript am IDM der Universität Bielefeld 1983 (b)

Krummheuer, G.: Ein Fall von Unterrichtskommunikation in der Diskussion mit Mathematiklehrern. In: Fischer, D. (Hrsg.): Lernen am Fall. Konstanz: Faude 1983 (c)

Krummheuer, G.: Zur unterrichtsmethodischen Dimension von Rahmungsprozessen. In: Journal für Mathematikdidaktik 5 (1984) 4, S. 285-306

Malle, G.: Variable. In: Mathematiklernen 15 (1986), S. 2-8

Mathematik heute 8, herausgegeben von Athen, H./Griesel, H., Hannover: Schroedel 1980

Voigt, J.: Interaktionsmuster und Routinen im Mathematikunterricht. Weinheim: Beltz 1984 (a) V oigt, J.: Die Kluft zwischen didaktischen Maximen und ihrer Verwirklichung im Mathematikunter­richt. In: Journal für Mathematikdidaktik 5 (1984) 4, S. 265-282 (1984 b)

Vollrath, H.-J.: Didaktik der Algebra. Stuttgart: Klett 1974

Wallrabenstein, H.: Die Musterlektion -Darstellung einer Lehr-Lern-Situation und Kommentar. In: Bauersfeld, H. (Hrsg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel 1978

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