Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Falldarstellung (mit interpretierenden Abschnitten)

Die (…) Beispiele entstammen einem Beobachtungsmaterial zur Gruppenarbeit im Mathematikunterricht der Grundschule (genaueres s. KRUMMHEUER 1997). Entsprechende Schüleraktivitäten werden in regulären Unterrichtsstunden mit der Videokamera aufgezeichnet. Für relevant erachtete Episoden werden transkribiert und mit dem Verfahren der Interaktionsanalyse ausgewertet.

Die Schülergruppe Daniel, Slawa und Stanislaw aus einer dritten Klasse wird in der Darstellung von Trikotnummern mit den ersten vier Gliedern zweier Zahlenfolgen konfrontiert und soll jeweils das fünfte Element bestimmen. Die beiden Zahlenfolgen lauten:

A: { 3 – 8 – 15 – 24 – ? } und

B: {3-2-4-3-?}

Im weiteren Verlauf werden nur Ergebnisse der Interaktionsanalyse zum ersten Aufgabenteil vorgestellt. Zur ersten Folge kommt Slawa relativ schnell mit dem richtigen Lösungsvorschlag (Transkriptionsregeln sind am Ende des Textes wiedergegeben):

47 Slawa (auf das Bild zeigend) Hier kommt fünf, hier kommt sieben’..
49 Slawa hier kommt (.) neun’
52 Slawa Er kriegt ne elf­-
53 Daniel Warum ne elf’
54 Stanislaw Warum’
55 Slawa Ne elf. kuck’, (unsicher flüsternd) wieviel plus drei, kuck’, an der der
56 Zahl . fünf­-
57< Daniel Ja, von drei bis acht sind fünf .
58< Slawa (an Daniel gewandt und immer noch auf das Bild zeigend) Hier
59 kommt schon mal sieben’, sieben­-
60 Daniel Sieben­-
61 Slawa Neun’ (.) elf .
62 Stanislaw (undeutlich) ha ja,
63 Slawa Elf plus vierundzwanzig. zu dem hier. dann gibts (rechnet etwa 2
64 sec) fünf­-
unddreißig.

Unter analytisch-argumentativer Perspektive sind diese Aufgaben nicht eindeutig zu lösen. Jede Zahl kann die nächste sein, da man aus der Vorgabe einer endlichen Anzahl von Folgegliedern nicht auf die Definition der Folge schließen kann. Aus dieser Sicht machen solche Aufgaben dann wenig Sinn. Dennoch sind sie fester Bestandteil des Aufgabenkanons im Mathematikunterricht der Grundschule. Im Unterrichtsalltag werden sie in der Regel nicht dazu verwendet, um über das mathematisch interessante Problem der Eindeutigkeit von Lösungen zu diskutieren. Hier gehen die Beteiligten wohl meistens davon aus, dass es bei diesen Aufgaben eine und nur eine richtige Lösung gibt.

In mathematischer Terminologie kann man in Slawas Lösungsfindung ansatzweise die Thematisierung zweier neuer Objekte hineinsehen: den Begriff der Differenzenfolge allgemein und die ersten vier Glieder der speziellen Differenzenfolge {5 – 7 – 9 – 11}. Der Junge gibt ihnen keine Namen, er definiert sie nicht explizit, und in gewisser Weise redet er auch nicht über sie, sondern durch sie. Seine beiden Mitschüler können ihm an dieser Stelle gedanklich nicht folgen. Slawa gerät hier zunächst unter Erklärungszwang; er reagiert darauf im Wesentlichen in der oben beschriebenen Weise: Er nennt die vier Elemente der Differenzenfolge, z. B. in folgender Szene:

77< Slawa Dann gibts fünf. hier (zeigt auf das Blatt) kommt sieben’, hier
kommt neun
78< Daniel Fünf (murmelt unverständlich) acht bis fünfzehn sind sieben’
79 Slawa sind immer zwei also dazu.
82< Slawa Dann kommt hier elf, Daniel (zeigt auf die Zahlenreihe) elf dazu.
83 Zu der Zahl
84< Daniel sieben’
85 ja von, ja von fünfzehn bis vierundzwanzig sinds neun .
86 Slawa Also kommt fünfunddreißig. (unverständlich) fünfunddreißig.
87 Stanislaw Ha ja­
88 Daniel Ja, neun’

Man erkennt, wie Daniel in <78, 84 und 88> den Zahlenwerten 5, 7 und 9 als Differenzen zwischen den ersten Gliedern der Ausgangsfolge zustimmen kann. Er und auch Stanislaw begreifen aber die Aufzählung der Zahlen konzeptionell nicht als Elemente einer Zahlenfolge, die aus Differenzbildung entsteht. Sie rekapitulieren gleichsam sukzessive die von Slawa vorgeführten Differenzbildungen. Selbst Slawas „Meta-Kommentar“ über das Bildungsgesetz dieser Differenzenfolge in <79>, also sein Hinweis auf das „System“ hinter seinen Rechnungen, kann hier nicht weiterhelfen. Slawa erzählt im Grunde wiederholt, wie er zu seiner Lösung gekommen ist. In gewisser Hinsicht erklärt er hierdurch auch seinen Lösungsansatz. Zumindest uns wird hierdurch sein Vorgehen verständlicher und wir können sein damit „mitgeliefertes“ Argument akzeptieren bzw. ablehnen. Seine Begründung funktioniert in der Weise, dass er uns seine Geschichte darüber erzählt, was passiert ist, damit es gerade zu diesem Ergebnis gekommen ist. Dies ist ein Phänomen, dem ich die Eigenschaft „narrativ“ zuweise.

Um Slawas narrative Argumentation zu verstehen, muss man aus seinen Erzählungen zum einen das Phänomen einer Differenzenfolge und zum anderen die sie definierende Eigenschaft „mit 5 beginnend immer zwei dazu“ in den von ihm wiederholt aufgezählten Zahlen 5, 7, 9, 11 erkennen. In diesem Fall sind weiterführende Lernerfolge zu erwarten. Wer dies nicht aus den wiederholten Aufzählungen der Zahlen erschließen kann, versteht auch nicht den Sinn seiner Erzählung bzw. die ihr unterliegende Rationalität. In diesem Fall, der offensichtlich in der Episode vorliegt, erscheinen die erzeugten Lernbedingungen für die Schüler weniger günstig.

Insgesamt wird an diesem Beispiel deutlich, wie in derartigen narrativ geprägten Interaktionsprozessen spezifische Lernbedingungen von Schülern für Schüler her­vorgebracht werden. Im vorliegenden Fall kann Slawa nicht überzeugen. Dies weist auf prinzipielle Schwächen narrativen Argumentierens (…). Slawas Insistieren auf diese Argumentationsweise mag hier als Indiz für ihre Existenz und auf die von ihm unterstellte Erfolgsaussicht genommen werden.

Transkriptionsregeln

Das Transkript enthält, soweit rekonstruierbar:
– die verbalen Äußerungen der Beteiligten und
– die nonverbalen Aktivitäten, wie z. B. auffällige Körperhaltungen, auffallende Blickrichtungen, Zeichnungen auf der Tafel usw.

Linguistische Zeichen:
(a) Identifizierung des Sprechers:

L   Lehrer
S   Schüler
S 1   Kennzeichnung der Schüler, wenn eine Unterscheidung zwischen verschiedenen nicht genauer identifizierbaren Schülern nötig wird
Max   Kennzeichnung eines mit Namen identifizierten Schülers

(b) Charakterisierung der Äußerungsfolge:

Wegen der häufig im Unterricht auftretenden gleichzeitigen bzw. zeitlich nur leicht verschobenen Äußerungen wird im Bedarfsfall eine Partiturschreibweise verwendet. Die zueinander verschobenen Äußerungen geben ihre „Einsätze“ in Relation zu den anderen Äußerungen an. Das Zeichen „<“ nach der Zeilennummerierung weist auf diese Partiturleseweise hin, z. B.:

4 < L: die Fläche eines Rechteckes
5 < Sl: Uaach
6 < S2: Länge mal Breite
7 < S3: Fläche oder oder Inhalt
8 < S4: Flasche
9 < S5: Länge mal Breite
10 < S6: Ja mein ich doch

Paralinguistische Zeichen:

, kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung
(.) kurze Pause (max. 1 sec.)
(..) kurze Pause (max. 2 sec.)
(…) längere Pause (max. 3 sec)
(4 sec) Pause mit Angabe der Länge
. Senken der Stimme am Ende einer Äußerung
– Stimme bleibt in der Schwebe am Ende einer Äußerung
‚ Heben der Stimme am Ende einer Äußerung

Unterstreichung für auffällige Betonung
gebrochene Unterstreichung für Dehnung des Wortes

Charakterisierung der non-verbalen Aktivitäten:
Non-verbale Aktivitäten werden in die transkribierten Äußerungen eingeklammert eingefügt und durch einen anderen Schrifttyp zusätzlich gekennzeichnet.

Literaturangaben:

Krummheuer, Götz (1997): Narrativität und Lernen. Mikrosoziologische Studien zur sozialen Konstitution schulischen Lernens. Weinheim.

Vollmer, N./Krummheuer, Götz (1997): Anfangen – Machen – Helfen. Zur Beziehung zwischen Arbeitsteilung und Aufgabenverständnis während einer Partnerarbeit im Mathematikunterricht. In: Journal für Mathematikdidaktik 18 (2/3): 217-244

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