Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Falldarstellung

Schüler einer 10. Klasse sitzen im Rahmen einer beobachteten Computer-AG in für sie vertrauter Gruppenzusammensetzung vor ihrem Computer. Sie sollen die folgende Aufgabe bearbeiten.

„Nehmt irgendeine Zahl. Nennen wir sie U(0).
Dann läßt sich daraus eine Folge von Zahlen bestimmen, nämlich z.B. so:

U(1) = 6/(5 – U(0))

U(2) = 6/(5 – U(1))

U(3) = 6/(5 – U(2))

Eure Aufgabe:

1. Erstellt ein Programm, mit dem man eine solche Folge von Zahlen berechnen kann.
2. Verändert den Anfangswert U(0). Vergleicht die verschiedenen Zahlenfolgen. Steckt eine Regel dahinter?“
(vgl. Krummheuer 1989, 62-64)

Zu Beginn der Bearbeitung setzen die Schüler auf einem Blatt Papier einige Zahlen ein
und berechnen die sich daraus ergebenden nächsten Folgeglieder:

U(1)      U(0)

6 = 6 : (5 – 4)

-6 = 6 : (5 – 6)

11 = 6 : (5 + 6)

1 D: Paß ma auf, das ist U null. Das ist das da. Und fünf mi-
2 nus vier ist eins, richtig. Ne’ und sechs durch eins ist
3 sechs.
4 A: Mmmh .. ja
5 D: Und sechs ist U eins. Und jetzt solln wir hier hinten,
6 dann diese U eins hinsetzen. Also das, die Zahl, kommt
7 jetzt hier hin, Dann kommt da die sechs, hin, da is die
8 fünf minus eins
9 C: Ja.. dann gibt es minus sechs
10 3: Was, was kommt denn da raus?
11 C: Minus sechs
12 D: Und sechs durch eins sind minus sechs. So solln wir das
13 praktisch machen.
14 C: Ja dann laß uns doch erstma nen Programm schreiben.

Als Programm entwickeln sie daraufhin

99 DIM U(100)

100 INPUT „U VON 0“; U(0)

110 FOR I = 1 TO 100

120 U(I) = 6/(5 – U(I-1))

125 PRINT “ „U(I)

130 NEXT I

Dies Programm lassen sie nun mit verschiedenen Startwerten laufen. Nach mehreren Zahleneingaben erkennen die Schüler, dass die Zahlenfolgen der Zahl 2 zustreben. Z.B. erhalten sie die folgenden Zahlen auf ihrem Bildschirm, wenn sie die Zahl 4 für den Startwert U(0) eingeben.

U (0) = 4 26 1. 999947
1 6 27 1. 999965
2 -6 28 1. 999977
3 .5454546 29 1. 999984
4 1. 346939 30 1. 99999
5 1. 642458 31 1. 999993
6 1. 787022 32 1. 999995
7 1. 867426 33 1. 999997
8 1. 915358 34 1. 999998
9 1. 94512 35 1. 999999
10 1. 964071 36 1. 999999
11 1. 976331 37 1. 999999
12 1. 984344 38 2
13 1. 989617 39 2
14 1. 993102 40 2
15 1. 995412 41 2
16 1. 996946 42 2
17 1. 997966 43 2
18 1. 998645 44 2
19 1. 999097 45 2
20 1. 999398 46 2
21 1. 999599 47 2
22 1. 999733 48 2
23 1. 999822 49 2
24 1. 999881 50 2
25 1. 999921

Sie sprechen davon, dass die Folge ein „Näherungswert“ für 2 ist. Nun kommt die Frage auf, ob das auch mathematisch stimmt. Die Gruppe kehrt zurück zu ihren schriftlichen Aufzeichnungen (siehe oben) und diskutiert:

100 C: laßt uns mal überlegen.. hier ist vier (bezieht sich auf
101 die schriftlichen Aufzeichnungen) es kommt fünf plus
102 sechs… (…) sechs durch elf, sechs durch elf’
103 D: Sechs durch drei muß ja kommen also muß hier, zwei raus
104 ..Klar, wenn hier einmal die zwei ist,..dann kommt immer
105 wieder fünf minus zwei, ne. Ist drei, sechse.
106 C: Moment. Zwei, das ist immer wieder die drei.
107 B: Na klar, wollen wir gucken, ob es bei ganz großen Zahlen
108 auch klappt? Kann sein, daß es mehr sind, eine Millionen.

(Die Schüler lassen das Programm laufen mit U(0)=1000000)

U(0) = 1000000
1 -6.00003E-06 26 1.999974
2 1.199999 27 1.999983
3 1.578947 28 1.999988
4 1.753846 29 1.999992
5 1.848341 30 1.999995
6 1.903759 31 1.999997
7 1.937834 32 1.999998
8 1.959397 33 1.999999
9 1.973293 34 1.999999
10 1.982352 35 1.999999
11 1.988304 36 2
12 1.992233 37 2
13 1.994835 38 2
14 1.996563 39 2
15 1.997711 40 2
16 1.998475 41 2
17 1.998984 42 2
18 1.999323 43 2
19 1.999549 44 2
20 1.999699 45 2
21 1.9998 46 2
22 1.999866 47 2
23 1.999911 48 2
24 1.999941 49 2
25 1.99996 50 2
109 D: Er kommt sofort auf die Zahl.
110 C: Wenn es die zwei ist, durch drei, sind zwei. Also kommt
111 er immer wieder
112 D: Er kommt praktisch…
113 C: Natürlich, ist ja logisch
114 D: Das muß so

In dieser Episode wird eine strukturell andere Art der Mensch-Computer Interaktion von den Schülern hervorgebracht. Die Computerorientierung ist nicht mehr total. Auch eine am traditionellen Mathematikunterricht orientierte Sichtweise wird hier aktualisiert. Zwischen diesen beiden Orientierungen versuchen die Schüler argumentativ zu vermitteln. Die zunehmend engere Koordination zwischen den beiden Perspektiven führt zu einer, die einzelnen Deutungen systematisch überschreitenden Argumentation, die schließlich bei den Schülern subjektive Überzeugung erlangt (13, 14).

Interpretation

Die Schüler haben zunächst mit ihren vertrauten, mathematischen Verfahren mehrere Folgenglieder ausgerechnet. Hierzu holen sie ein Blatt Papier und ein Schreibgerät aus ihren Taschen, um die benötigten Berechnungen vornehmen zu können. Alles zusammen führt offensichtlich bei den Schülern zu einer vorübergehenden Klärung: sie deuten die Situation in einer von ihnen gemeinsam geteilten mathematischen Weise. Erst jetzt wird der Ruf nach dem Computer laut, was dann auch einen Wechsel zu einer computerbezogenen Handlungsorientierung mit sich bringt.

In dem wiedergegebenen zweiten Transkriptausschnitt wird die sich anschließende Phase nach der Programmerstellung und -erprobung dargestellt. Die Schüler haben mehrere Programmdurchläufe mit verschiedenen Startwerten absolviert und an den Computerausdrucken erkannt, dass trotz verschiedener Startwerte zum Schluss eines Ausdrucks nur noch die Zahl 2 erscheint. C holt die vorliegenden schriftlichen Berechnungen aus der ersten, oben wiedergegeben, eher traditionell mathematisch orientierten Phase wieder hervor. Er identifiziert den Startwert vier (in 100) und springt dann in die letzte vorliegende Zeile ihrer Berechnungen (in 102). Die Formulierung „sechs durch elf“ (102) deutet darauf hin, dass er das nächste anstehende Folgenglied berechnen möchte. Dabei scheint er die bei der Interpretation des ersten Transkriptausschnittes erwähnte mathematische Inkorrektheit der dritten Rechenzeile stillschweigend richtig zustellen. Der Schüler C gerät ins Stocken. Der Bruch 6/11 ist nicht mehr so einfach zu berechnen. Das fragende Anheben seiner Stimme zum Ende der Transkriptzeile 102 verdeutlicht möglicherweise dieses Problem. Zugleich eröffnet er damit die Diskussion.

Schüler D ergreift das Wort in 103 und führt eine neue Argumentation vor: Der Quotient 6 / (5 – U(n-1)) müsse von irgendeinem Folgenglied U(n) an gleich 2 sein. Dies zeigten die Computerausdrucke. Der Schüler D versucht nun nicht, die Folgenglieder solange nachzuberechnen, bis auch sie zu einer solchen 2 als Ergebnis kommen würden – dies scheint er möglicherweise als die unterschwellige Absicht seines Mitschülers C anzunehmen. Vielmehr übernimmt er dieses „Computerergebnis“ und entwickelt auf dieser Grundlage seine Argumentation weiter: Kommt als Folgenglied eine 2, dann muss sie darstellbar sein durch den Quotienten 6 / (5 – U(n-1)). Dieser Quotient kann nur den Wert 2 erhalten, wenn der Divisor 5 – U(n -1) den Wert drei hat, also 6/3 dort steht. Diese Argumentation wird dem Schüler D in 103 unterstellt. Weiter ergibt sich dann mathematisch völlig einwandfrei: „wenn hier einmal die zwei ist, dann kommt immer wieder fünf minus zwei [als Divisor] ..ist drei, sechse [als Quotient]“.

Der Schüler C scheint in 106 dieser Argumentation zuzustimmen, indem er das entscheidende Teilargument wiederholt. Auch B stimmt zu, schlägt aber vor, diese Argumentation noch einmal durch eine große Zahl am Computer auf ihre Haltbarkeit hin zu überprüfen. Die Eingabe der Zahl 1000000 führt schließlich auch zu der Zahl 2. Dies stellt D in 109 fest. C fühlt sich bestätigt und wiederholt in 110/111 noch einmal ihre zuvor gewonnene mathematische Argumentation im Kurzstil. D pflichtet ihm möglicherweise in 112 bei, wenngleich es den Anschein hat, als wolle er noch einmal auf den Computer zu sprechen kommen. C nennt in 113 ihre Argumentation „natürlich“ und „logisch“. D pflichtet ihm wohl anschließend (in 114) bei.

In diesem gesamten Bearbeitungsprozess werden interaktiv zwei verschiedene Deutungsweisen koordiniert. Zunächst geschieht dies noch in deutlich abgegrenzten Phasen: Zuerst wird mit Bleistift und Papier unter der üblichen mathematisch orientierten Perspektive ein gemeinsames Verständnis der Aufgabenstellung erzeugt. Sodann wird deutlich hervorgehoben diese Sichtweise gewechselt und ein Programm entwickelt. Nach den Programmdurchläufen freilich werden diese Sichtwechsel zunehmend schneller und flüssiger vorgenommen. Interaktiv scheinen hierzu nur noch marginale Hinweise nötig, wie z.B. Wechsel der Blickrichtung oder Identifizierung des Computers durch das Personalpronomen „er“ (vgl. Weingarten 1988) usw.

Im Vergleich zum ersten Analysebeispiel werden hier also Computer-bezogene Handlungsstränge durch Computer-unabhängige ergänzt, eingebettet und erweitert. Unter den Schülern wird eine Koordination zwischen diesen beiden alternativen Aktivitätsformen mit zunehmend flüssigeren Übergängen erreicht. Die kollektiven Bearbeitungsprozesse verlaufen somit nicht mehr einspurig entlang den Strukturierungsprozessen des automatisierten Trichter-Musters. Eine qualitativ andere Form von Mensch-Computer Interaktion wird hierbei zugleich realisiert. Sie ist

  • interaktional relativiert („distributed“) durch gleichzeitige Herstellung einer alternativen, Computer-unabhängigen lnteraktionsform zwischen den Schülern,
  • sprachlich elaboriert durch Vorabsprachen unter den Schülern über vorzunehmende Computereingaben und
  • funktional reduziert auf faktisch vom Computersystem leistbare Handlungen.

Hinsichtlich der Förderung mathematischen Lernens durch Initiierung einer Mensch-Computer Interaktion scheint hier die Herstellung und Aufrechterhaltung einer derartigen Mensch-Computer Interaktion hilfreicher ais die Realisation des automatisierten Trichtermusters (s.o.).

Literaturangaben:

Krummheuer, G. (1989): Die menschliche Seite am Computer. Studien zum gewohnheitsmäßigen Umgang mit Computern im Unterricht. Weinheim.

Krummheuer, G. (1989a): Die Veranschaulichung als „formatierte“ Argumentation im Mathematikunterricht. In: mathematica didactica 12(4), S. 225-243

Weingarten, R. (1988): Typisierungen technisierter Kommunikation. In: Weingarten, R./Fiehler, R. (Hg.): Technisierte Kommunikation. Opladen.

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