Falldarstellung

Die […] erhobenen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler zur Lebensweise von Schnecken wurden angelehnt an die Auswertungsmethode der Grounded Theory (Strauss & Corbin 1996) kategorisiert. Diese Methode eröffnet die Möglichkeit, in Bezug auf die offene Fragestellung, eine ‚gegenstandsverankerte Theorie‘ zu entwickeln, „die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welche sie abbildet:“ (Strauss & Corbin 1996, S. 7ff.)
Folgende Fragen waren für die Analyse leitend:

  • Welche Vorstellungen haben Schülerinnen und Schüler zum Lerngegenstand ‚Schnecke‘?
  • Inwiefern lassen sich in diesen Vorstellungen Aspekte ästhetischer Sensibilitäten festmachen?

Im Folgenden soll anhand eines Ausschnitts aus der Sequenz zur Frage ‚Kann eine Schnecke hören?(1) die Vielfalt der erhobenen Vorstellungen verdeutlicht und der Frage nachgegangen werden, ob hier Dimensionen ästhetischen Denkens und Handelns festgemacht werden können. Die Schüler/innen überprüfen mit Hilfe verschiedener Musikinstrumente, Pfeifen und Glocken, ob eine Schnecke hören kann. Sie sind sich nicht sicher in dieser Situation, ob die Schnecke diese Fähigkeit besitzt, da diese nicht auf die Geräusche in der Weise reagiert, wie sie es vermutet haben und beginnen, an der Schnecke Ohren‘ zu suchen:

Karsten: Da, meine Schnecke ist fertig. () Ich hab das Ohr eingekreist.
[deutet auf seine Zeichnung]
[…]
Karsten: So sieht meine Schnecke aus.
I: Ah, ok.
Karsten: Da hab ich das rot eingekreist, damit man weiß, da ist das Ohr.
I: Zeig mal bei deiner Schnecke, die auf der –
Karsten: Da ist nämlich sooo, so ’n Gnubbel [deutet auf die lebendige Schnecke]
I: Ach so, ja jetzt seh ich ihn auch. Und damit hört die Schnecke?
Karsten nickt.
[…]
I: Woran hast du das denn gesehen? Dass sie damit hört?
Karsten: Weil woanders hat sie nicht so was.

Karsten unterstellt der Schnecke die Fähigkeit zu hören, obwohl er nicht festmachen kann, dass diese wirklich eine Reaktion auf die von ihm gemachten Geräusche gezeigt hat. Um seine Feststellung zu untermauern, deutet er Hautfalten (‚Gnubbel‘) als ‚Ohren‘ und schreibt ihr damit die Fähigkeit zu, hören zu können.

Für Eva stellt sich die Situation anders da. Sie ist sich sehr unsicher in ihrer Beobachtung und geht zunächst davon aus, dass eine Schnecke hören kann, diese aber in der gegenwärtigen Situation die von ihr produzierten Klänge und Geräusche überhört. Damit unterstellt sie der Schnecke menschliche Verhaltensweisen:

Eva: Eigentlich weiß man, ähm, sie hört das vielleicht, aber vielleicht überhört sie das ähm­-

Sie überprüft im weiteren Verlauf mit Hilfe eines Musikinstruments das Hörvermögen und kommt schließlich zu folgendem Ergebnis:

I: Eva, was meinst du jetzt, hast du‘ ausprobiert?
Eva: [klopft] Komm her. [an die Schnecke gewandt]
I: Hört deine Schnecke? […]
Eva: Ja, sie kommt. [schlägt die Klangstäbe aneinander] […]
Eva: Jetzt schreib ich hierhin, sie hört. (2) Sie hört?

Hier wird deutlich, dass Eva sich nicht sicher ist. Sie erfährt ihre eigene Widersprüchlichkeit, indem sie zunächst sicher glaubt, dass Schnecken hören können, denn das wisse man ja. Kurz darauf stellt sie ihre eigenen Ergebnisse aber wieder in Frage. In der Auseinandersetzung mit dem natürlichen Phänomen wird sie in ihren Deutungen auf sich selbst zurückgeworfen und ringt nach einer sie befriedigenden Lösung. Zunächst vermutet sie, dass diese Schnecke hier nicht reagiere, nicht hören könne, weil sie taub sei.

Eva: Vielleicht ähm ist sie taub.

Schließlich zieht sie eine Parallele zum menschlichen Hörvermögen und entwickelt folgenden Gedankengang:

Eva: Oder vielleicht hört sie, ihr Ohr ist versteckt ganz.
I: Meinst du sie hat ein Ohr versteckt und damit hört sie dann?
Eva: Ja, weil das man denn. Karsten, hast du bei dem großen oder bei dem kleinen das Ohr entdeckt?
Karsten: Beim großen.
Eva: Ja vielleicht hat das kleine das ja so, dass das irgendwie hier unter versteckt hat, unter sein Körper oder so, weil vielleicht kann man das ja drehen sein Körper so’n bisschen. Und dann versteckt er das manchmal
I: Mmh.
Eva: Weil unter unseren Haaren können wir ja auch manchmal die Ohren verstecken, aber man weiß ja, dass wir hören.

Sie entwickelt eine weitere Idee und bezieht das Haus der Schnecke in ihre Erklärungen mit ein:

Eva: Vielleicht könnte sie ja, ähm, denn, das ähm sie hören und das würde dann darauf weiter leiten; denn würde das man richtig [deutet auf das Haus der Schnecke] laut hören.
[…]
I: Ach so.
Eva: Sonst beim Tunnel, wenn da ja keiner ist, dann hört man das ja auch, wenn man da ein Echo macht.

Die an der Erscheinungsweise der Schnecke erfahrene eigene Widersprüchlichkeit fordert die Schülerin heraus, die natürlichen Erscheinungen im Sinne Seels korresponsiv zu interpretieren. Sie versucht, die wahrgenommenen Erscheinungen in Bezug auf ihre eigene Lebenswelt zu deuten und entwirft somit verschiedene Vorstellungsbilder. Seel zufolge ist die Herstellung einer solchen sinnlich-sinnhaften Korrespondenz ein wesentlicher Grundzug ästhetischer Praxis: „Ästhetische Praxis orientiert sich dabei an Gestaltungen, die bestimmte Lebensmöglichkeiten oder Lebensvorstellungen, sei es zum Ausdruck bringen, sei es konturieren, sei es erzeugen“ (Seel 1993, S. 402). Die hier festgemachte ästhetische Sensibilität im Umgang mit einem natürlichen Phänomen stellt zum einen die vielfältigen inhaltlichen Differenzierungen in der Vorstellung der Schülerin dar, zum anderen verweist sie auf die qualitative Ausformung dieser Vorstellungsbilder, die einen qualitativ anderen Zugang zu den Phänomenen impliziert, damit diese Perzepte im Sachunterricht zur Sprache kommen. Denn die Vorstellungen sind vorhanden und beeinflussen den Lernprozess, auch wenn sie nicht immer explizit geäußert werden.

Fazit

Ästhetische Zugangsweisen im Sachunterricht fördern eine spezifische Aufmerksamkeitshaltung gegenüber den Gegenständen, die es den Schüler/innen ermöglicht, an diesem Lerngegenstand etwas zu erfahren, was ihnen bislang so noch nicht widerfahren ist. Das implizit Ästhetische eines Gegenstandes wird selbst im Unterricht thematisiert und beschreibt einen Weg, neben den kognitiven auch die emotional besetzten Vorstellungen von Kindern in Bezug auf das Phänomen zu erheben. Anhand der Untersuchungen von Ulrich Gebhard (vgl. hierzu Gebhard 1992) und Gerhard Hard (2003) kann aufgezeigt werden, dass insbesondere Naturphänomene von Träumereien und Phantasien begleitet werden, die, auch wenn sie nicht explizit im Unterricht zur Sprache kommen, den Lernprozess beeinflussen. „Da ist etwas Außenweltliches der Innenwelt kongruent“ (Hard 2003, S. 396) und motiviert die Schüler/innen im Besonderen, sich mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen.

Fußnoten

(1) Die Molluskenforschung ist sich noch nicht sicher, ob Schnecken hören können. Bislang konnte ihnen aber lediglich ein Tast- und Lichtsinn sowie ein chemischer Sinn nachgewiesen werden; (vgl. hierzu Kilias 1995).

Literatur

Gebhard, Ulrich (1992): Träumen im Biologieunterricht. In: Unterricht Biologie, H.172, S. 44-46.

Hard, Gerhard (2003): Szientifische und ästhetische Erfahrung in der Geographie. Die verborgene Ästhetik einer Wissenschaft. In: ders. (Hrsg.): Dimensionen geographischen Denkens. Aufsätze zur Theorie der Geographie. Band 2, Göttingen, S. 387-403.

Kilias, Rudolf (1995): Die Weinbergschnecke. Über Leben und Nutzung von Helix pomatia. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Seel, Martin (1993): Zur ästhetischen Praxis der Kunst. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Wilhelm Fink, S. 398-416.

Strauss, Anselm & Juliet Corbin (1996): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.


Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.

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