Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Detig, Laura: Lernen beobachten – Lukas

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

[1] Die Kinder sitzen an vier Gruppentischen, die im Quadrat vor der Tafel angeordnet sind. Ich sitze an Tisch vier, rechts vor der Tafel, dort sitzen: Lukas, Ahmed, Lena, Lisa, Karin und Sandra (wobei Karin und Sandra während des erstens Protokolls wegen Krankheit gefehlt haben).
Im hinteren Teil des Klassenraums gibt es den sogenannten ‚Bananenkreis’ (Schaumstoffkissen, die zu einem Kreis geformt sind), mit anschließender‚Klassenbücherei’. Dort finden der Morgenkreis, das Lesen von Geschichten, Diskussionen etc. statt. Daneben ist die Computerecke mit zwei Computern.
Wenn Frau W. vorhat, etwas eingehend an der Tafel zu erklären, sagt sie den Kindern, dass diese in den ‚Kinositz’ kommen sollen, d.h. alle nehmen ihre Stühle und setzen sich in drei bis vier Reihen vor die Tafel.
Durch die ganze Klasse sind Wäscheleinen gespannt, an denen Babykleider hängen (später erfahre ich, dass das Anschauungsmaterial für den Sexualkunde Unterricht ist, der in der dritten Klasse auf dem Stundenplan steht).
Weitere Besonderheiten sind der Klassentiger Kurti, ein Kuscheltier, das mit den Kindern vor drei Jahren eingeschult worden ist und den Frau W. manchmal als „Negativbeispiel“ benutzt (er ist der schlechteste „Schüler“ der Klasse). Des Weiteren wird von halb- bis kurz nach zehn Uhr zusammen in der Klasse gefrühstückt. Während dieser Zeit ist es üblich, dass ein bis zwei Kinder der restlichen Klasse etwas vorstellen können, was sie von zu Hause mitgebracht haben. Um diese Zeit komme ich immer in die Klasse.

Protokoll (Februar ’ 05):
[2] Ich komme wieder während des Frühstücks in die Klasse. Die Kinder begrüßen mich. Frau W. fängt an, eine Geschichte aus der ‚Klassenbibliothek’ vorzulesen. Lisa starrt ihr Brötchen an, isst aber nur die Krümel, die darum verstreut liegen. Frau W. liest die ‚Kindernachrichten’ (von Samstag) aus der Frankfurter Rundschau vor. Lisa zerlegt währenddessen ihr Brötchen und isst Salat, Käse und Brötchen getrennt voneinander. Ich habe die FR von heute dabei und werde aufgefordert, die Kindernachrichten’ aus dieser vorzulesen.
Danach will Frau W. Mathe machen und sagt den Kindern, sie sollen ihr Frühstück wegräumen. Lisa fragt mich:

„Wollen Sie auch eine Lehrerin werden?“

Ich sage ihr, dass ich das eigentlich nicht vorhabe und dass sie mich nicht siezen muss, so alt sei ich noch nicht. Sie fragt mich, wie alt ich denn sei. Ich sage ihr, ich sei 22. Sie schaut mich verwundert an.

Lisa: „Aber da wird man doch schon gesiezt!“

[3] Ich stimme ihr zu und sage ihr, dass es mir lieber sei, mit ‚Du’ angesprochen zu werden. Ich sehe ihr an, dass sie mit meiner Antwort nicht ganz zufrieden ist, aber Frau W. will jetzt ein Mathespiel machen.
Drei Kinder stellen sich an das eine Ende der Klasse und Frau W. stellt Kopfrechenaufgaben (z.B.: 5×7-9). Das Kind, das die Lösung als erstes sagt, darf einen Schritt vorgehen. Wer zu erst am anderen Ende der Klasse angekommen ist, hat gewonnen. Lisa knetet sich die Lippen und bewegt sie lautlos. Sie meldet sich auch für die nächste Runde nicht und knetet weiter an ihren Lippen.
Frau W. sagt, nachdem auch diese Runde beendet ist, die Kinder sollen sich im ‚Kinositz’ vor die Tafel setzten. Sie fragt, auf was man beim schriftlichen Plus rechnen aufpassen müsse. Sedef meldet sich und sagt, man müsse aufpassen, dass die Zahlen richtig untereinander stehen, Frau W. nickt und holt sich Kurti den ‚Klassentiger’ zur Hilfe. „Dieser“ schreibt eine Aufgabe an die Tafel und rechnet sie aus:

153
8 5
12
_____
12538

[4] Die Kinder lachen und Lisa schüttelt heftig den Kopf, meldet sich aber nicht, als Frau W. fragt, was denn daran falsch sei. Melanie schreibt die Zahlen richtig untereinander und rechnet die Lösung aus. Danach üben die Kinder die krank waren noch ein bisschen mit der Hilfe von den anderen an der Tafel. Lisa sieht aus, als würde sie zuhören beteiligt sich aber nicht. Dann zeigt Frau W. zwei Aufgaben im Mathebuch, die nun jeder für sich lösen soll. Die Kinder schieben ihre Stühle zurück an ihre Plätze. Lisa packt ihr Heft und ihr Mäppchen aus und schaut ins Mathebuch. Sie meldet sich. Frau W. übersieht sie, deswegen steht sie auf und geht zu ihr. Ich kann nicht hören, was sie sagt, Frau W. schüttelt den Kopf, Lisa geht wieder zu ihrem Platz. Frau W. bittet um Ruhe und sagt, die Kinder müssten die 100er, 10er,1er- Tabelle nicht mit abschreiben sondern nur die Aufgaben. Lisa schreibt die erste Aufgabe ab, in der einen Hand den Bleistift in der anderen ein Lineal. Mir fällt auf, dass sie mit Links schreibt. Die rübergezogenen Einer schreibt sie mit rot. Sie sieht sehr konzentriert aus und macht keine „unnötigen“ Bewegungen. Frau W. sagt, sie sollen bitte das Lineal benutzten.

Lukas: „Ich habe kein Lineal dabei.“

Lena zieht ein Gesicht.

Lisa: „Sei still!“

[5] Sie schiebt aber trotzdem ihr Lineal in die Mitte vom Tisch, so dass Lukas drankommt. Frau W. fragt die Klasse, (oder sich) welche Tischgruppe es wohl schaffe gar nicht zu schwätzen. Lisa zählt mit den Fingern und bewegt den Kopf dazu. Ich bin erstaunt, wie konzentriert der ganze Tisch ist, mindesten eine viertel Stunde findet keine Interaktion statt. Lisa schreibt, schüttelt manchmal den Kopf, radiert, fährt mit dem Bleistift die Zahlenreihen entlang und schreibt neu. Frau W. kommt an den Tisch und schaut Sandra und Karin über die Schulter, beide waren krank. Dann guckt sie kurz in Lisas Heft und fragt wo sie ist.

Lisa: „Bei der 3f.“

Frau W. staunt wie schnell sie ist. Lisa nickt. Frau W. geht zu ihrem Tisch, sagt sie hätten noch 3 Minuten Zeit, die restlichen Aufgaben sollen zu Hause erledigt werden. Mir kommt es vor als würde Lisa noch etwas schneller werden. Die Eieruhr klingelt und die Ergebnisse werden miteinander verglichen. Lisa meldet sich durchgehend.

Analyse
[6] Lisa ist die einzige die den Hintergrund meiner Anwesenheit (zumindest soweit ich das mitbekommen habe) hinterfragt. Sie ordnet mich „gesellschaftlich“ richtig ein: Sie weiß, dass ich keine Lehrerin bin, siezt mich aber. Mit meiner Bitte das nicht zu tun, verwirre ich sie spürbar in ihrer kindlichen Identität; ich bin kein Kind mehr, will aber wie eines angesprochen werden.

  • Ihre „Aktionen“ (lautloses Lippenbewegen etc.) beim Mathespiel, lassen erkennen, dass sie mitrechnet .
  • Ihr heftiges Kopfschütteln als „Kurti“ die Zahlen falsch untereinander schreibt, verraten, dass sie die Regeln des Untereinanderrechnens verstanden hat.
  • Auch ihre Frage ob die 1er-10er und 100er-Tabelle mit abgeschrieben werden soll, zeigt ihre Mitarbeit.
  • Das zeigt auch ihr konzentriertes Arbeiten danach. Sie macht nur sehr „sparsame“ Bewegungen und weist Lukas zurecht, als dieser die Stille unterbricht.
  • Erst als die Aufgaben ausgerechnet vor ihr liegen und die Lösungen verglichen werden sollen, meldet sie sich.

Im Verlauf der Mathestunde erlebe ich sie meistens überlegt und konzentriert – bis auf das Ende, als die Lösungen verlesen werden arbeitet sie weder aktiv mit, noch „stört“ sie den Unterricht – ob sie in diesen Phasen auch teilweise mit anderen, inneren Prozessen beschäftigt ist, kann ich nicht ausschließen – glaube es aber nicht.
Oft scheint es mir als würde sie Zwiesprache mit sich selbst halten.

Protokoll (März’05):
[7] Die Kinder frühstücken wieder als ich die Klasse betrete, Sie begrüßen mich einstimmig mit meinem Nachnamen. Frau W. liest wieder die Kindernachrichten aus der Rundschau vor. Lisa isst ihr Brot, indem sie zuerst die Rinde Drumherum abisst und dann das innere der Brotscheibe. Dann will Frau W., dass aufgeräumt wird und sich die Kinder im ‚Kinositz’ vor die Tafel setzen. Lisa setzt sich in die dritte Reihe. Frau W. öffnet die Tafel. Dort sieht man eine Tabelle, auf der einen Seite steht als Überschrift„Erwachsene“ und auf der anderen „Babys“. Auf der Seite der „Erwachsenen“ sind Körperteile aufgelistet (Kopf, Arm, Bein, Nase usw.), die andere Spalte ist leer. Frau W. fragt, ob Babys diese Körperteile auch haben

Ahmed: „Ja, aber kleiner…“

Frau W. bestätigt das und fragt, wie man das denn, der Körpergröße gerecht schreiben könne. Lisa meldet sich zögernd und kaut auf ihrer Lippe.

Lisa: „…Köpfchen.“

[8] Frau W. nickt und schreibt einen Merkspruch an die Tafel: „-chen und -lein machen alle Sachen klein.“ Die Kinder sollen den Spruch noch mal zusammen sagen. Nachdem die Tabelle vervollständigt worden ist, löst Frau W. den ‚Kinositz’ auf und teilt ein Arbeitblatt aus. Die Kinder sollen die abgebildete Geschichte von der Katze Mia umschreiben, so dass sie auf ein Kätzchen zutrifft, d.h. Verniedlichungen bzw. passende Adjektive einfügen und diese rot unterstreichen. Lisa reicht Lukas ungefragt einen Rotstift. Frau W. geht den Text zuerst gemeinsam mit den Kindern durch. Das Mädchen meldet sich durchgehend und schaut dabei immer wieder zu mir herüber. Danach gehen sie den Text noch mal durch, diesmal sollen die Kinder ihn so verändern, dass er auf eine ausgewachsene Katze zutrifft. Nachdem sie beide Varianten mündlich durchgegangen sind, sollen sie diese verschriftlichen.
Lisa schreibt mit einem Füller-ähnlichen Stift. Da sie Linkshänderin ist, verschmiert sie leicht ihre Schrift. Um das zu verhindern, schiebt sie ein Löschblatt, immer wenn sie mit einem Wort fertig ist, in Richtung Ende der Zeile, über das bereits Geschriebene. Ab und zu hebt sie das Löschblatt hoch um den vorhergegangenen Text lesen zu können. Dann packt sie das Löschblatt wieder an seinen Platz, am Ende vom Heft.

Lukas: „Uh, die ist schon fertig, ich bin erst beim dritten Satz.“

Auch Ahmed schaut erstaunt von seinem Heft auf. Lisa liest sich das Geschriebene noch mal durch und zeigt es dann Frau W. Sie grinst mich an als sie zu ihrem Platz zurück kommt und heftet das Arbeitsblatt in ihren Ordner. Dann schreibt sie den Merksatz und die Tabelle von der Tafel ab, scheinbar hatte Frau W. ihr das aufgetragen. Sie tut das wie vorher unter Zuhilfenahme des Löschblatts. Inzwischen ist auch Lena fertig. Sie gehen zusammen nach vorne und Frau W. sagt Lisa anscheinend, dass sie einpacken kann. Nachdem sie das getan hat, setzt sie sich mit einem Buch in die Leseecke.

Analyse
[9] Im Gegensatz zur letzten Stunde in der ich Lisa beobachtet habe, beteiligt sie sich heute sichtbar am Unterrichtsgeschehen. Ich habe den Eindruck, die erste richtige Antwort motiviert sie.

  • Ohne dass Lukas etwas sagt, gibt Lisa ihm den benötigten Rotstift und dieser nimmt ihn ohne Verwunderung an. Diese (selbstverständliche?) Interaktion fand auch schon in der letzten Stunde statt, als Lukas feststellte, dass er sein Lineal nicht dabei hatte und Lisa ihm zwar sagte, er solle still sein, aber trotzdem, ohne ein Wort zu sagen, ihr Lineal in die Mitte schob.
  • Ich merke, Lisa weiß, dass ich sie beobachte und frage mich ob ihre gesteigerte Mitarbeit heute oder ihre Ruhe in der letzten Stunde etwas mit diesem Wissen zu tun haben könnte.
  • Sie ist als erste fertig, reagiert aber nicht auf Lukas‘ erstaunten Ausruf. Ihr Grinsen, nachdem sie vom Lehrertisch zurückkommt verrät dann aber doch ihre Freude

[10] Ich hatte den Eindruck, dass Lisa von dem Inhalt dieser Stunde eigentlich bereits vorher eine Vorstellung hatte. Der Lernprozess liegt wahrscheinlich darin, aus dieser (vagen) Vorstellung etwas Begriffliches, Sinnhaftes und Widererkennbares gemacht zu haben.
Lisas Methode mit dem Löschblatt ihr Problem – die verschmierte Schrift – zu lösen ist wahrscheinlich ein schon abgeschlossener Lernprozess. Sie wirkt sehr routiniert und es beeinträchtigt sie weder zeitlich noch mechanisch. Es ist ein gutes Beispiel für das Gehirn als „Problemlöseorgan“ (Zitat: Scholz).

Interpretation (zusammenfassend)

[11] Vorab soll erwähnt werden, dass ich Frau W. als sehr engagierte und den Kindern zugewandte Lehrerin erlebt habe. Sie macht sich viele Gedanken um ihre SchülerInnen und sucht nach kindgerechten Methoden, um die zu vermittelnden Lerninhalte zu transportieren.
Hier möchte ich auf eine von ihr angewandte Methode – die „Wettkampfspiele“ – eingehen, und zwar weil diese für mich sehr gut den Charakter von Schule verdeutlicht: Anpassung und Selektion.
Frau W. verknüpft die Vermittlung von Lernzielen mit Spielen, bei denen immer dazugehört, gewinnen zu können. Sie versucht die SchülerInnen auf diesem Weg zu motivieren. Das scheint ihr zunächst auch zu gelingen. Eine Folge dieses Angebots ist aber, dass es auch Verlierer gibt.
Gewinnen und Verlieren ist stets mit persönlicher Anerkennung oder persönlicher Abwertung verbunden. Die, die verlieren, müssen in diesen Lernphasen zweierlei können: Sie müssen die Lerninhalte trotzdem beherrschen und sie müssen ihr „Versagen“ verarbeiten. Ein Kind mit einem geringeren Selbstwertgefühl, dessen Wünsche nach Anerkennung und Akzeptanz in großen Teilen unerfüllt sind, gerät während der „Lernspiele“ schneller unter Stress. Es verhält sich fahriger und unkonzentrierter – für es steht der Aspekt „gewinnen“ höher als das Lernen und Verstehen der Aufgaben. Und so erfüllt sich, unbeabsichtigt „hinter dem Rücken“ der Lehrerin, ein zweites Lernziel (der ‚heimliche Lehrplan’ ): „Um Beachtung zu erhalten, muss ich andere Mittel einsetzten als Lernen, denn darin sind die anderen besser. Ich bin ein Loser.“

[12] Ganz anders bei Lisa. Schon wissend um ihre Fähigkeiten, anerkannt als gute Schülerin, versetzt sie eine Prüfungssituation wie ein „Lernspiel“ nicht in Aufregung. Sie arbeitet konzentriert und zügig. Auch ihre Linkshändigkeit, die eine aufwendigere Form des Schreibens erfordert, hindert sie nicht daran stets zu „den Ersten“ zu gehören. Für sie ist es auch nicht wichtig, sich für die Spiele zu melden. Sie braucht die Anerkennung, „die Erste“ zu sein, nicht. Das macht sie auch für soziales Verhalten frei. Sie schiebt Lukas den Rotstift zu, im Voraus wissend, dass er wieder keinen dabei hat. Sie ist die einzige, die mich fragt warum ich hier sei. Sie hinterfragt eine für sie neue Situation.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.