Falldarstellung

(Beschreibung einer Szene aus dem gleichnamigen Unterrichtsfilm „Der Phantasievogel“ von Christa Weitzel, entstanden im Rahmen unserer Arbeit zur Konzeptualisierung und Modularisierung der Schulpraktischen Studien an der Justus-Liebig-Universität Giessen 1998)

Frau Winter steht vor der Klasse. Nach einigen Bemerkungen zur vorherigen Stunde sagt sie: „Heute habe ich euch was ganz Besonderes mitgebracht.“ Sie zieht aus ihrer Jackentasche eine Tüte mit bunten Federn. „Die habe ich heute früh in meinem Garten gefunden…von wem die wohl sind?“ Die Kinder staunen, beugen sich in die Richtung, nicht alle haben die Szene mitbekommen. Frau Winter geht gemächlich durch die Klasse und beginnt Federn an die Kinder zu verteilen. Die Kinder spielen sofort damit, pusten sie durch die Gegend, streichen sie über die Wangen (…) die anderen die noch keine Federn haben recken ihre Arme und Finger in die Höhe mit teilweise lauten Ah- und Eh- Rufen. „Die sind von einem Papagei.“ Frau Winter geht weiter „Nein“. Dann wird das Melden heftiger und die Rufe lauter (lautes Flüstern). „Ah, ich weiß … jetzt weiß ich, die sind von einem Buntspecht.“ Ein anderes Kind sagt: „Kanarienvogel“ – „Der kann doch nicht im Garten sein.“ – „Der Papagei dann aber auch nicht“. Frau Winter geht weiter und verteilt die Federn. Das Raten und Melden geht weiter, kommentiert vom schlichten „Nein“. Parallel entwickelt sich ein anderes Thema: „Frau Winter, ich will eine rote!“ – „Ich auch!“ – „Ich will eine blaue!“ Frau Winter sagt etwas genervt: „Das ist doch egal welche Farbe … jeder kriegt eine“. Nachdem alle Kinder eine Feder haben und das Raten um den richtigen Vogel und das Betteln um die gewünschte Farbe immer lauter wird, verkündet Frau Winter: “Das sind die Federn von einem Phantasievogel.“ Enttäuschtes Erschlaffen der vorher so eifrigen Gesten. Ein Kind bleibt noch gefangen in dem Frage-Antwort-Spiel: „Ich hab’s doch gewusst!“ ruft es ärgerlich in die Klasse.

Interpretation

Es ist klar, dass diese Szene nur an einer Schule stattfinden kann. Die Akteure rekurrieren in vielfältiger Weise auf schulische Handlungsrepertoires. Dies spitzt sich an einigen Stellen soweit zu, dass die Szene zu einer Persiflage auf Schule wird. Es werden beispielsweise Antworten auf eine Frage gegeben, die nicht als Wissensfrage gestellt wurde („Von welchem Vogel sind diese Federn?“). Es sind Antworten auf eine Frage, bei der die Kinder sicher sind, dass die Lehrerin die richtige Antwort weiß, und dass es darauf ankommt zu zeigen, dass man selber die Antwort weiß (und sagt). Mit ihren Antworten auf eine ‚normalerweise‘ erwartbare ‚Lehrer‘-Frage zeigen die SchülerInnen ihr Wissen um die schulische Rollenverteilung und ihr Bemühen um die Einhaltung schulischer Regeln: Lehrer stellen Fragen und wissen die Antworten – Schüler geben Antworten und zeigen dadurch ihr Wissen oder Nicht-Wissen. Und: die Lehrerin muss bemerken, wer was weiß oder nicht weiß.

Eine nicht-schulische Umgehensweise kommt allerdings ins Spiel, wenn Kinder darauf bestehen eine Feder bestimmter Farbe zu bekommen. Für die schulische Aufgabe ist das egal – das wissen wahrscheinlich auch die Kinder – für sie aber nicht und darauf bestehen sie und bringen damit die Inszenierung erheblich aus den Fugen, ähnlich wie die ratenden Kinder, die etwas erraten wollen, was es jetzt nicht zu erraten gibt.

Aber: Was sollten sie denn tun? Nach Vorstellung von Frau Winter galten die Federn als mehr oder weniger „stummer Impuls“ der zum kindgerechten Handeln mit der Feder auffordern sollte.

Diese Szene macht deutlich, wie die Schülerinnen sich bemühen, der Inszenierung der Lehrperson einen normalen schulischen Sinn zu geben. Dazu greifen sie auf Teile eines spezifisch schulischen Handlungsrepertoires zurück: sich melden, eine Frage richtig beantworten etc. Sie verstehen die Federn und die (erfundene oder erlogene?!) Geschichte dazu nicht als eine Referenz an ihr Kindsein, sondern als eine Schulaufgabe.

An der Stelle, an der die Lehrerin Kindorientierung nicht geplant hat, kommt es zu Störungen des Ablaufs: Die Kinder finden die Farbe der ihnen überlassenen Feder wichtig. An der Stelle, an der die Lehrerin Kindorientierung geplant hat, kommt es ebenso zur Störung des Ablaufs: Die Kinder antworten auf eine Lehrerfrage, die als solche nicht gestellt wurde.

Ein vorläufiges Resümee: Das Austarieren zwischen ‚Kindorientierung‘ und ‚Schulorientierung‘ findet täglich auf beiden Seiten der Akteure statt. Es kommt in diesem (wie in anderen) Fällen zu einem Verwirrspiel über die situativ ‚richtige‘ Praxis schulischen Handelns auf beiden Seiten.

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