Falldarstellung

Ein wörtlicher Protokollausschnitt vom Anfang einer Unterrichtsstunde im 2. Schuljahr:

L (schreibt an die Tafel): Wie funktioniert das Thermometer?

Michael: Wenn die warme Luft, geht es dann hoch. Wenn’s warm ist, geht Flüssigkeit auch hoch.

L: Ja. Könnte sein, dass es damit zu tun hat.

Moritz: Da ist doch oben Luft drin, wenn es warm wird, wird es hochgedrückt.

L: Mhh, könnte auch sein.

Marius: Es ist Wasser mit Kugeln, es steigt, wenn es wärmer wird.

L: Gut.

Johanna: Zum Beispiel, wenn Alkohol, vielleicht hat er sowas, wenn’s warm ist steigts, wenn kalt …

Christine: Wenn’s heißer wird bläst auf und steigt hoch …

L: Christine, was meinst du? Du meinst, da drin platzt irgendwas auf?

Johannes: So wie ein Wetterfrosch. Wenns warm ist, geht er hoch, wenns kalt ist, geht er runter.

L : Hmh, Hmh.

Die Lehrerin schreibt an die Tafel: Wie funktioniert das Thermometer?Interpretation

In der Folge stellen die Kinder etliche Vermutungen zu dieser Frage an, die alle unpräzise bleiben, meistens Richtiges und Falsches vermischt enthalten. Die Lehrerin reagiert darauf vage. Sie sagt auch einmal „gut“, jedoch gibt es dafür keinen einsichtigen Grund.
Und dann äußert ein Junge das Folgende: „So wie der Wetterfrosch. Wenns warm ist, geht er hoch, wenns kalt ist, geht er runter.“
Was geschieht hier? Dieser Junge versucht, die Funktionsweise des Thermometers durch eine Assoziation aus seiner Lebenswelt zu erklären, durch einen Vergleich mit dem Wetterfrosch, den er kennt oder von dem er gehört hat. Die Äußerung zeugt von Mitdenken und von dem Versuch, den Unterrichtsstoff mit seinen persönlichen Vorstellungen oder Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Der Junge ist der einzige, der das mit dieser Intensität tut oder jedenfalls der einzige, der es so vorbringt. Sein Vergleich ist einleuchtend, anschaulich und sehr kreativ. Allerdings ist er falsch. Oder sagen wir genauer: physikalisch ist er falsch; auf einer bildhaften Ebene bleibt er natürlich richtig.
Und wie würdigt die Lehrerin diese schöne, wenn auch falsche Leistung? Sie sagt: „Hmh, hmh“. Sie geht also auch auf diese kreative Äußerung lediglich in vager und zudem nur äußerst knapper Form ein. Ja, sie würdigt sie weniger als die Äußerungen vorher, die sie sicherlich so oder ähnlich antizipiert hatte. Die Äußerung dieses Jungen hatte sie offenbar nicht antizipiert. Auf seinen Gedanken lässt sie sich überhaupt nicht ein: Weder fragt sie den Jungen, wie er das gemeint habe, noch erklärt sie den Sachverhalt oder stellt ihn richtig. Und sie fragt das Kind auch nicht, wo es dieses Frosch-Verhalten beobachtet hat und ob es vielleicht selber einen Frosch zuhause hat. Die Lehrerin möchte nämlich in ihrem Unterricht fortschreiten und sagt „Wir wollen die Gradanzeige untersuchen mit einem kleinen Versuch.“ Dabei impliziert ‚wir wollen’ ‚die Kinder sollen’. Ein Arbeitsblatt wird ausgeteilt. Es läuft nach Plan; die Kinder erledigen alles willig.
(…)

Ich möchte abschließend Zinnecker zitieren: „Pädagogische Ethnographie wird verfasst, wenn den Pädagogen Befremdliches begegnet“ (Zinnecker 1995,S. 26).

Befremdlich war es für mich bei meinen Unterrichtsbesuchen der letzten Jahre, wie wenig die Kinder mit ihren Sichtweisen der Welt im Unterricht zum Zuge kommen. (…) Deswegen sei das sich abzeichnende Bild vom Sachunterricht zumindest noch angedeutet: Was die Sache ist, bestimmt die Lehrperson. Die Kinder dürfen sich natürlich äußern und sie nutzen dies, um ihre lebensweltlichen Sichtweisen zu formulieren. Diese Sichtweisen bleiben jedoch nahezu konsequenzlos für den Fortgang der Dinge. Kinder erscheinen ausschließlich „im Fadenkreuz didaktischer Modelle“, wie Zinnecker moniert (a.a.O., S. 21) und der „fremde Blick“ auf das „fremde Kind“ bleibt ein Desiderat (ebd.). Es erscheint fast verwunderlich, dass Kinder sich dennoch immer wieder auf diesen Vorgang einlassen. Und wenn Zinnecker ferner pädagogische Ethnografie als „Teil opponierender pädagogischer Bewegungen“ (a.a.O., S. 26) bezeichnet und damit als Möglichkeit, Veränderungen zu initiieren, so ist damit auch mein Ziel beschrieben. (…)

Literatur

Zinnecker; Jürgen (1995): Pädagogische Ethnographie. Ein Plädoyer. In: Behnken, I./ Jaumann, O. (Hg.): Kindheit und Schule. Weinheim u.a.

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