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Breidenstein, Georg/Meier, Michael: Die Ethnografin nennt Olga eine Streberin

Breidenstein, Georg/Meier, Michael: Tutorenstunde

Falldarstellung

(…) Wir greifen im Folgenden (…) Szenen für eine detaillierte Analyse heraus, die für die interaktive Handhabung des Streber-Motivs besonders aufschlussreich sind. (…) Die folgenden Textauszüge entstammen einer Gruppendiskussion mit fünf Mädchen derselben Klasse, in welcher die Szene mit Olgaspielte. Diese Klasse gilt als leistungsstark – und das innerhalb eines sehr angesehenen Gymnasiums, das die Möglichkeit hat, sich seine Schülerschaft mittels eines eigenen Aufnahmeverfahrens auszuwählen. Bei einer insgesamt relativ ungebrochenen Leistungsorientierung in dieser Klasse werden dennoch Unterschiede gemacht und anhand des „Streber“-Etiketts verhandelt. Chrissie, Katja, Louise und Fabienne, die im Folgenden das Streber-Thema bearbeiten, sehen sich selbst als Freundinnen-Gruppe im Rahmen der Schulklasse an. Der Modus der Auseinandersetzung ist wieder, wie schon in der ersten Szene der des Spaßes und des Neckens unter Freundinnen. Und doch wird in diesem Gesprächsprotokoll deutlich, wie an dem Problem des „Strebertums“ zentrale normative Orientierungen und Positionierungen verhandelt werden.

(1) Ethnograph: Ist das mit den Cliquen auch ein Unterschied wie ihr mit Schule umgeht?
Chrissie: Ja, ich glaub schon, ich meine (unverständlich)
Katja: Ja gut, also wir sind die totalen Streber in der Klasse.
(2) ?: Danke schön! (Lachen)
Chrissie: Schön dass du dich jetzt so abseits stellst.
Katja: Ja klar, als ob ich Streber bin.
?: Hm.
(3) Chrissie: Ich denk schon, dass du schon mal was für die Schule getan hast, ne?
Katja: Ja, und ich meine, Marilyn und so, die sehn das ja alles total cool
(2 Sekunden Pause)
?: Überhaupt keene Streber (unverständlich, kichern)
Katja: Ihr seid die Guten in der Klasse.
(4) Louise: Ja toll, aber Unterschied, ob wir einfach so gut sind oder: ob wir Streber
Chrissie: (unterbricht) Ich tu nur das Nötigste, ich lern nie unnütz (sehr betont).
?: (mehrere) Nein! (lachen) Du doch nicht.

Interpretation

(1) Der Ethnograph fragt in sehr abstrakter Form und etwas verunglückter Formulierung nach dem Zusammenhang zwischen der Cliquenstruktur der Schulklasse und der Differenzierung des Umgangs mit „Schule“. Chrissie setzt zur Beantwortung an, bricht aber ab. Interessant ist dann, wie Katja, die sich mit einem „ja gut“ auf den Ethnographen einlässt, das Streber-Etikett bemüht, um die eigene Clique „in der Klasse“ zu kennzeichnen. „Strebertum“ scheint diese, ihre eigene Gruppe markant von anderen Cliquen in der Klasse zu unterscheiden. Ist es doch möglich, sich affirmativ auf Strebertum zu beziehen? Handelt es sich um die Zitierung der Außensicht auf die Gruppe? Auf jeden Fall erscheint diese Selbstbezichtigung als „Streber“ – zumal in der Dramatisierung durch den Zusatz „total“ – derart drastisch, verkürzt und überzogen, dass sie Widerspruch oder zumindest Nachfragen hervorrufen muss.

(2) Die nächste Sprecherin reagiert auf die Provokation Katjas mit ironischem Dank. Chrissies Beitrag verwundert, denn Katja hatte sich ja in dem „wir“ eingeschlossen und nicht etwa „abseits gestellt“. Doch Chrissies Unterstellung, dass Katja sich nicht wirklich mit gemeint haben kann, wird von Katjas Antwort bestätigt. Es scheint klar, dass Katja nicht selbst von dem Streber-Stigma betroffen ist. Präsentierte sie es deshalb so locker und provokativ?

(3) Das Streberthema steht immer noch im Raum und zwingt die Anwesenden zur Positionierung. Chrissie ergreift das Wort, wobei sie versucht, den Streber-Vorwurf zu entkräften, indem sie darauf hinweist, dass wohl jeder „schon mal was für die Schule getan“ hat. Der Begriff des Strebers erfährt in dieser Fassung von Chrissie eine Definition, die ihn derart ausweitet, dass sich sowohl die frotzelnde Katja – aber auch jede und jeder andere – in der Strebergemeinschaft wiederfände. Katja jedenfalls lässt sich von Chrissies Versuch, sie doch noch in das Strebertum einzuschließen, nicht irritieren. Sie bleibt bei ihrem Thema der Kontrastierung von verschiedenen Gruppen und rekurriert mit „Marilyn und so“ auf das Gegenstück zu den Anwesenden, das darin besteht, „alles total cool“ zu sehen. In der Bestätigung und dem Kichern der nicht identifizierten Sprecherin kommt zum Ausdruck, dass der Streber-Begriff in Bezug auf diese Gruppe tatsächlich abwegig wäre. Katja wendet sich dann wieder der eigenen Gruppe zu, sich diesmal allerdings ausschließend, und konstatiert nüchtern: „Ihr seid die Guten in der Klasse“. Sie versachlicht gewissermaßen die Debatte und benennt den objektivierbaren Ausgangspunkt des Streber-Vorwurfs: Jede mit guten Noten gerät in den Streberverdacht.

(4) Louise ergreift erstmalig das Wort und besteht auf einer Differenz zwischen „Gut-Sein“ und „Streber-Sein“. Bemerkenswert ist Louises Botschaft, die sie hier Chrissie gegenüber vertritt: Wenn herausragende schulische Leistungen auf‘ ‚Begabung‘ beruhen, sind sie legitim. Für gute Noten, die einem gewissermaßen (qua Natur) ‚zufallen‘, kann man auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden, insofern man sie nicht zu verantworten hat. Legitimationsbedürftig hingegen erscheint jegliche eigene Anstrengung, jedes eigene Tun, das auf gute Noten zielt. Chrissie unterbricht Louise – sie scheint unter besonderem (Rechtfertigungs-) Druck zu stehen. Sie gibt eine proklamatorische Selbstauskunft über ihr Verhältnis zu schulischem Lernen. Die Transkription beschreibt die besondere Betonung und damit das besondere Gewicht, das Chrissie ihrer Aussage verleiht. (Man assoziiert unwillkürlich eine Aussage vor Gericht, gesprochen auf der Anklagebank.) Interessant ist die Formulierung Chrissies, die ja dazu dienen soll, den Streber-Vorwurf zu entkräften. Sie kennzeichnet zu diesem Zweck ihren Umgang mit Schule in charakteristischer Weise: nur „das Nötigste“ zu tun und nicht „unnütz“ zu lernen. Sie kann sich hier offenbar auf einen normativen Konsens beziehen, der das erforderliche, das „nötige“ Lernen legitimiert. Aber was wäre „unnützes“ Lernen? Vermutlich dasjenige, das über das unmittelbar verlangte, das „Nötige“ im Sinne nachweisbarer Verpflichtungen hinausginge. Die lachend-ironische Reaktion der anderen bestreitet bezeichnenderweise nicht die Legitimationsfigur als solche, sondern Chrissies Versuch, sie für sich in Anspruch zu nehmen: Es gibt zwar legitimes Lernen, aber die anderen sind nicht bereit zu bestätigen, dass Chrissies Verhalten den Kriterien dafür entspricht. Chrissie soll nicht (so schnell) aus dem Streber-Vorwurf und der daraus resultierenden moralischen Notlage entlassen werden. Wir lassen es an dieser Stelle bei der Interpretation der Gruppendiskussion bewenden, denn die Grundstruktur des Streber-Diskurses ist bis hierhin deutlich geworden: Gute Noten sind ein erstes – notwendiges, nicht hinreichendes – Kriterium für den Verdacht des Strebertums. Für gute Noten ist man aber nicht unbedingt verantwortlich. (Wenn sie auf Begabung beruhen, gelten sie als legitim.) Entscheidendes Kriterium für den Streber-Vorwurf ist die jeweilige Praxis, die hier mit „lernen“ bzw. „etwas für die Schule tun“ umschrieben ist. Dieses muss (erkennbar) im Rahmen des unbedingt Erforderlichen (des „Nötigsten“) bleiben.

Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlages

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