Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sicht der SchülerInnen

Welche Erwartungen und Anforderungen SchülerInnen an sich selbst bzw. ihre SchülerInnen-Identität stellen, bzw. wie sie diese definieren, wird anhand folgender Passagen deutlich:

23.09.02 dritte Stunde, neue Aula
I: Welchen Stellenwert hat Schule in Deinem Leben?
Jan: Sechs Stunden am Tag.

Die Identität der SchülerInnen wird vor allem von ihrer bereits thematisierten, durch Passivität gekennzeichneten KonsumentInnen-Rolle geprägt. Schule ist demzufolge „sechs Stunden am Tag“, die Jan versucht, möglichst angenehm zu verbringen.

30.09.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Hast Du irgendwelche Lieblingsfächer?
Anton: Sport unn BK, abber net weil ich gut bin, sondern weil´s… weil´ ma sich da einfach mehr unterhalte kann, ohne daß ma gleich ne Strafarbeit kriegt, odder so.

Anton konkretisiert in exemplarischer Weise, was zuvor mit „möglichst angenehm“ beschrieben wurde: Nicht die Inhalte der Fächer sind für Anton entscheidend, sondern die Möglichkeiten zur Unterhaltung mit anderen SchülerInnen, die sich ihm im Unterricht bieten.

11.11.02
Conny fehlt heute schon wieder. Am Donnerstag hatte die Klasse ausgerechnet, daß sie schon 39,6% der bisherigen Schulzeit nicht anwesend war.

Auch Conny zeigt hier deutlich ihre Auffassung von „möglichst angenehm“: nach nur vier Wochen von Schuljahresbeginn an bereits ca. 40% der Unterrichtszeit gefehlt zu haben, kommt fast einem „halben Deputat“ als SchülerIn gleich. Hierzu ist zu sagen, dass Conny in dieser Zeit keineswegs krank war. Die Klasse hat dieses gehäufte Fehlen als ungewöhnlich und nicht „richtig“ kommentiert. Anderseits hat bei einigen leider nicht wörtlich protokollierten Äußerungen der Eindruck entstehen können, dass einzelne Schüler Neid darüber empfunden haben, dass da eine Mitschülerin ungeniert Schule schwänzt, was man sich selbst nicht traut.

22.01.03
Am Ende der Stunde lernte Herr Hofstätter mit Hilfe der kranken Schüler, die am Sportunterricht nicht teilnehmen konnten, die Namen der anderen Schüler auswendig. Er sagte, daß es gerade im Sport schwierig sei alle mit Namen zu kennen. „Ich selber habe es als Schüler als Diskriminierung empfunden, wenn ein Lehrer mich nicht mit Namen angesprochen hat. Man sozusagen nicht zu den Besten gehört – nicht wahrgenommen wird.
Oder noch schlimmer, wenn man nur mit dem Nachnamen angesprochen wurde.“

Herr Hofstätter beschreibt in der Erzählung aus seiner eigenen Schulzeit, dass er es als Diskriminierung empfunden hat, von LehrerInnen nicht mit Namen angesprochen zu werden. Es ist sicher ein verständlicher Vorgang, wenn die eigene Schulerfahrung als Schüler in die aktuelle Situation als Lehrer einfließt, auch wenn dies in vielen Fällen eine unzutreffende Projektion sein wird. Die Aussage macht besonders deutlich, dass der Lehrer hier seinen Schülern einen Ehrgeiz unterstellt, der sicher nicht durchgängig vorhanden ist.(1)
Es ist aber ein sehr schöner Zug dieses Lehrers, dass er den Wunsch hat, seinen Schülern „Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen und egal wie sinnvoll die Maßnahme im Einzelnen sein mag, so wird der Versuch und die Mühe, die sich der Lehrer macht, allemal von den SchülerInnen anerkannt. Auch wenn der Lehrer in dem Versuch, seine Schüler auf einer Seins-Ebene wirklich kennenzulernen zwangsläufig überfordert sein wird – dass er sie persönlich ansprechen kann, ist sicher ein guter Anfang.

14.10.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Würdest Du sagen irgendein Lehrer kennt Dich? Micha: … Nee.

Michas Eindruck, dass es nicht einen Lehrer bzw. eine Lehrerin gibt, die ihn in der Gesamtheit seines Seins wahrnimmt und versteht, wird von Torben und Boris geteilt:

30.09.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Würdest Du sagen, daß ein Lehrer, oder mehrere Dich kennen. (hustet) Also so richtig?
Torben: Persönlich oder was?
I: Mmh.
Torben: Ähm, ne eigentlich net.

14.10.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Gibt´s ´n Lehrer, der dich kennt, ganz und gar, deine Persönlichkeit? Boris: Nee, gibt´s eigentlich net. Es gab, es gab mal än Lehrer. Der Herr Pilari hat des gerafft, daß ich net ganz bescheuert bin und halt bloß den Scheiß im Unterricht mach.

Im Alltag der Schule gibt es immer wieder Momente, in denen Aspekte des Seins auch im Lehrer-Schüler-Verhältnis berührt werden (2). Außer Herrn Pilari hat es laut Boris kein Lehrer bzw. keine Lehrerin „gerafft, daß ich net ganz bescheuert bin“. Er schätzt Herrn Pilari, weil er sich von ihm verstanden fühlt.
Über den Wissenserwerb hinausgehende Bildung und Erziehung werden auf außerschulische Bereiche – wie Familie und Freunde – verlagert. Persönlichkeit ist kein Zielobjekt schulischer Ausbildung. Manuela bedauert die Reduktion des Lehrer-Schüler-Verhältnisses auf die Rollen-Identität, durch die auch das gegenseitige Verständnis verloren geht. LehrerInnen „wissen eigentlich nix von den Schülern“ und SchülerInnen eigentlich nichts von LehrerInnen. Aber wie soll unter diesen Umständen ein Bildungsprozess als gegenseitige Erfahrung, durch die sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen persönlich profitieren, möglich sein?

07.10.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Hast Du das Gefühl, daß man in der Schule ganzheitlich gebildet wird, also ich mein auch die Persönlichkeit irgendwie?
Manuela: Nö, denk´ ich net.
I: Wo macht man des dann?
Manuela: Ich denk´ in der Familie und auch von Freunden der so Einfluß odder so. I: Würdest Du sagen, daß ein Lehrer dich kennt?
Manuela: Nein.
I: Wie würdest Du des Lehrer-Schüler-Verhältnis beschreiben?
Manuela: Ich denk´ net gut. Ich denk´ die wissen eigentlich nix von den Schülern so privat odder so. Ich denk´ da sollten sie sich irgendwie mehr kümmern, weil ich denk´ dann kann ma auch besser reinschau´n odder so und die mehr versteh´n, wenn sie jetzt da irgendwie gereizt drauf reagiere odder so – ich find´s net gut.

Fußnoten:

1. Möglicherweise gibt es einen oder mehrere Schüler, die Schulsport ablehnen und kein Interesse daran haben, überhaupt gesehen, geschweige denn mit dem Namen angeredet zu werden. (“Thomas hängt wieder am Reck und bekommt die fette Wampe nicht über die Stange.”)

2. vgl. Kapitel VI.5.2 (Sympathie: Begegnungen auf der Seins-Ebene) und VI.5.6. (Antipathie: Begegnungen auf der Seins-Ebene)

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