Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

SchülerInnen als KonsumentInnen

17.01.03
Als ich Herrn Merkel nach der Stunde auf die offensichtliche Außenseiterrolle von Charly, einem Jungen mit dem AD-Syndrom, ansprach, sagte er, daß er sich am Anfang fast zu viel um ihn gekümmert habe und er eigentlich nicht viel machen konnte, denn der Unterricht stehe nun mal im Zentrum. „Das ist dann schon Arbeit für einen Sozialarbeiter.“

In dieser Feldnotiz dokumentiert sich, dass der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin dem Unterricht, „der nun mal im Zentrum stehe“, untergeordnet ist. Der Unterricht, der sozusagen als Prozess der Produktion gilt, wird von LehrerInnen organisiert, die den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten haben. SchülerInnen kommt dabei lediglich die Rolle von KonsumentInnen zu, die die im Unterricht produzierten Lerninhalte aufnehmen. Ein Schüler, der beispielsweise wie Charly an ADS leidet, ist demzufolge in erster Linie ein Störfaktor des Produktionsvorganges.
Die Aussage von Herrn Merkel, „er habe sich am Anfang fast zu viel um ihn gekümmert“ wird begründet mit „denn der Unterricht stehe nun mal im Zentrum“. Wo die Seins-Ebene SchülerInnen zu Individuen macht, die über ihre SchülerInnen-Rolle hinaus Raum beanspruchen, da streut sie Sand ins Getriebe der Produktion. Unangenehm für den Produktionsprozess – aber auch für den Sand. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es neben einer solchen leistungs- und wirtschaftskonformen „Realbildung“ in der Schule nicht doch möglich sein könnte, SchülerInnen als Menschen mit ihren Schwächen und Begabungen ernst zu nehmen und in einem umfassenden undogmatisch-humanistischen Sinn zu bilden – anstatt auszubilden. Oder ist das dann auch schon „Arbeit für einen Sozialarbeiter“?

06.12.02
Im Lehrerzimmer redete Herr Hofstätter mit Frau Langhans über Conny. Er erzählte ihr, daß er mit Connys Mutter geredet habe, und daß das so nicht weiter gehe. Es sei natürlich schwerwiegend, daß sie Probleme Zuhause habe (Eltern geschieden etc.), aber das entschuldige nicht ihre patzige Art. In all den Jahren habe er gelernt, daß es darum gehe, den Laden am Laufen zu halten und es gäbe eben SchülerInnen, die müssen kein Abitur machen.

Mit der Aussage „in all den Jahren habe er gelernt, daß es darum gehe den Laden am Laufen zu halten“ bestätigt Herr Hofstätter die Existenz des Produktivitätsprinzips. Dem Lehrer bzw. der Lehrerin kommt dabei die Überwachung eines reibungslosen Ablaufs der Produktion zu.
SchülerInnen wie Charly oder wie Conny mit ihren individuellen Problemen, die in ihrer jeweiligen biographischen Geschichte begründet liegen, stören diesen Prozess. Sind die Störungen konstant und langanhaltend wie im Fall von Conny, so sehen LehrerInnen die Produktion gefährdet. Indem Herr Hofstätter sagt „es gebe eben SchülerInnen, die müssen kein Abitur machen“, macht er deutlich, dass es nicht darum geht jeden Schüler bzw. jede Schülerin auf eine dessen bzw. deren Entwicklung und Persönlichkeit berücksichtigende Art und Weise zu fördern, sondern darum, von jedem Schüler bzw. jeder Schülerin die Anpassung an eine fest vorgegebene standardisierte Lernleistung zu fordern. SchülerInnen sollen „Wissen“ konsumieren, nicht Störungen oder Probleme produzieren.

11.02.03
In der großen Pause unterhielten sich zwei Lehrer im Lehrerzimmer über einen Schüler aus der achten Klasse, der durch sein Verhalten negativ auffiel (lud im Computerraum Pornos aus dem Internet, griff ausländische Mitschüler verbal an etc.). Herr Berger sagte dazu: „Da ist man als Lehrer irgendwie hilflos. Ich mein, ich kenn´das Elternhaus nicht. Aber was kann man schon großartig machen. Man schreibt einen Brief, redet mit den Eltern und dann fliegt er. Damit ist ihm auch nicht geholfen.” Der andere Lehrer stimmte ihm zu, wußte aber auch keinen Rat.

Diese Sequenz zeigt deutlich, dass beide Lehrer durchaus den Wunsch haben, ihrem Schüler zu helfen, aber keine Möglichkeit sehen, diesen Wunsch zu erfüllen. Das Handlungsrepertoire von LehrerInnen bzw. der erforderliche Zeitrahmen, der für das Handlungsrepertoire nötig wäre, erschöpft sich offensichtlich sehr schnell. Die Verhältnisse, in denen der Schüler lebt, sind offensichtlich genauso unbekannt wie die Gründe des Schülers für sein Verhalten („ich kenn das Elternhaus nicht“). Erzieherisches Handeln, das über die ausgesprochene Ermahnung und Strafe hinausgeht, wird als Option nicht in Erwägung gezogen. Der unmittelbare Kontakt zu dem Schüler, ein oder mehrere intensive Gespräche zwischen Schüler und Lehrer, findet nicht statt.
Dies verbleibt als Aufgabe bei den Eltern, auch wenn im voraus angenommen werden muss, dass diese Maßnahmen keinen Nutzen haben werden – vielleicht weil die Eltern sowieso von der Situation überfordert sind, vielleicht auch weil sie kein Interesse an den Schwierigkeiten ihrer Sohnes haben oder in eigenen Problemen stecken: „ Man schreibt einen Brief, redet mit den Eltern und dann fliegt er.“

28.03.03
Der zweite Teil der Stunde fand in der Halle statt, weil Herr Hofstätter mit der Klasse noch Basketball spielen wollte. Herr Hofstätter drohte Charly an, nicht Basketball mitspielen zu dürfen, wenn er sich nicht beim Anziehen beeile, weil er wie immer der Letzte sei. Nach der Stunde sagte er bezüglich Charly zu mir: „Vielleicht sollte ich nicht immer so ein Aufsehen darum machen, sondern einfach so tun, als wäre das alles normal. Aber das geht manchmal einfach nicht, weil ich muß ja die Umkleidekabinen abschließen. Und die ganze Klasse steht da und wartet auf Charly.“

Auch Herr Hofstätter ist mit Charly überfordert, bei dem das ADS diagnostiziert wurde. Er würde gerne einfach so tun, als wäre das alles (Charlys Verhalten) normal, „aber das geht manchmal einfach nicht“, weil der „Produktionsablauf“ dadurch gestört wird: „die ganze Klasse steht da und wartet auf Charly“. Der Lehrer reagiert gegen seinen eigenen Wunsch Charly normal zu behandeln und folgt formalen Prinzipien des Schulunterrichts, die eben Priorität haben. Charlys Verhalten entspricht nicht der Norm, er ist zu langsam, darf aber nicht zurückbleiben, weil die Produktionsstandards von jedem Schüler bzw. jeder Schülerin zur gleichen Zeit die gleiche Leistung abverlangen. Schon die strukturellen Voraussetzungen der Schule erlauben keine Abweichung („ich muß ja die Umkleidekabinen abschließen“). Herr Hofstätter muss als Lehrer im Auftrag der Schule und somit zugunsten der fließbandartigen rationalisierten Produktionsstandards handeln.

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