Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Produktivität vor Interesse

23.09.02
Ein paar Mädchen redeten über die gestrige Bundestagswahl. Im katholischen Religionsunterricht äußerte Thomas die Bitte im Unterricht über die Wahl zu sprechen, aber Frau Hepperle lehnte ab. Als eine Schülerin bezüglich der Frage, wie Politik die Schule beeinflusse, sagte, daß Bundeskanzler Schröder gegen eine PISA-Studie für LehrerInnen sei und daß sie das total unfair fände, weil sie der Meinung sei, daß auch die LehrerInnen möglicherweise Schuld am schlechten Abschneiden deutscher SchülerInnen in der Studie haben könnten, blockte Frau Hepperle die Diskussion ab und kehrte zu ihrem eigentlichen Unterrichtsthema zurück. Als eine weitere Schülerin etwas zur PISA-Studie sagen wollte, wurde sie abermals von Frau Hepperle gestoppt.

Insgesamt dreimal blockt Frau Hepperle SchülerInnen ab, die über die Bundestagswahl vom Vortag bzw. über die PISA-Studie reden wollen. Auch die offen an sie herangetragene Bitte eines Schülers, darüber reden zu dürfen, weist sie zurück. Das Interesse der SchülerInnen an gesellschaftspolitischen Themen – in diesem Fall Wahl und PISA-Studie – wird nicht zugelassen, da diese Themen nicht Teil des Curriculum für das Fach katholische Religion Klasse 9 sind. Es gilt Produktivität vor Interesse. Anstatt das offensichtlich vorhandene und verbal geäußerte Interesse der SchülerInnen im Sinne der Bildungsansätze von Rousseau, Pestalozzi et al. zu entfalten bzw. weiterzuentwickeln, bleibt das Interesse hier ungenutzt und der Unterricht wird mechanisch entsprechend dem Lehrplan fortgeführt, ungeachtet des großen Interesses vieler SchülerInnen an dem anderen Thema. Selbst beim Thema PISA-Studie, das SchülerInnen und LehrerInnen doch unmittelbar selbst betrifft, ist keine Ausnahme erlaubt. Dabei bleibt nicht nur die dem Interesse entspringende Lernmotivation ungenutzt, sondern es wird auch die Chance verpasst einen fruchtbaren Dialog zwischen LehrerInnen und SchülerInnen zu führen, die Möglichkeit sich in der Auseinandersetzung und Reflektion über die eigene Situation zu begegnen.

28.01.03
Während wir auf das Eintreffen der SchülerInnen des 13er Sport-LK warteten, berichtete mir Herr Hofstätter von der Sinnlosigkeit mancher Lehrplaninhalte. Er lobte, daß man z.B. jetzt endlich Ausdauer trainiere, was früher geradezu verboten war. „Dabei ist Ausdauer die Basis für alles – auch fürs Lernen.“

Das Handeln der LehrerInnen ist so sehr an die Lehrpläne gebunden, dass sie sogar in Fällen, in denen sie den Lehrplan für sinnlos oder falsch halten, keine Ausweichmöglichkeiten haben und gegen die persönliche Überzeugung Folge leisten. Mag sein, dass es problematisch werden kann, wenn ein Geschichtslehrer bzw. eine Geschichtslehrerin SchülerInnen seine bzw. ihre persönliche Version der neueren deutschen Geschichte – weit entfernt von allen lehrplanmäßigen Inhalten – vermittelt. Trotzdem, oder gerade deswegen könnte ein offener, demokratischer Austausch auf gleicher Augenhöhe zwischen SchülerInnen und LehrerInnen auch über die Inhalte des Lehrplans durchaus sinnvoll sein.

14.01.03
Als ich Herrn Hofstätter sagte, daß ich den Eindruck hätte, die SchülerInnen hätten wenig Lust am Unterricht, antwortete er: „Ja, man muß sie zum Unterricht zwingen.“

Herr Hofstätter weiß um das Desinteresse der SchülerInnen, das auch ich oft beobachten konnte. Da die Unterrichtsinhalte vorgegeben sind und in unserer Produktivitätsformel nur diese Inhalte einfließen können, muss Herr Hofstätter die desinteressierten SchülerInnen zum Unterricht zwingen – er hat keine Möglichkeit auf vorhandenes Interesse einzugehen, indem er seine Unterrichtsinhalte abändert.

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