Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Einstellungen der LehrerInnen

In seltenen Fällen konnte ich Zeuge von LehrerInnen-Aussagen werden, die die Einstellung der LehrerInnen gegenüber den SchülerInnen erkennen ließen.

01.10.02
Frau Langhans, die Deutschlehrerin, bat mich eines Tages mich von Beatrice wegzusetzen.
Als ich ihr entgegnete, daß ich Beatrice – wenn diese mich fragen werde – sagen möchte, daß es auf Frau Langhans` Wunsch passiere, da ich Beatrice nicht anlügen oder ihr Vertrauen mißbrauchen wollte, sagte Frau Langhans zu mir: „Die müssen ja nicht alles wissen. Da wird Dir schon was einfallen.“

„Die müssen ja nicht alles wissen“ impliziert den Wunsch von Frau Langhans bestimmtes Wissen zu bewahren bzw. den SchülerInnen vorzuenthalten. Im Sinne zweier Verschwörerinnen plädiert sie dafür die wahren Gründe der veränderten Sitzordnung geheim zu halten. Die Gründe, die ich Beatrice gegebenenfalls nennen soll, soll ich erfinden – aber weshalb? Dass Frau Langhans SchülerInnen mit „die“ betitelt, obwohl die Rede von nur einer Schülerin war – nämlich Beatrice -, verdeutlicht ihre unpersönliche Einstellung gegenüber ihren Schutzbefohlenen. Sie nimmt nicht den einzelnen Schüler bzw. die einzelne Schülerin mit ihren je individuellen Besonderheiten und Eigenheiten wahr, sondern subsummiert alle als „die“ zu einer einheitlichen Masse.

18.11.02
Nach der großen Pause wartete die Klasse in der neuen Aula auf Herrn Guppi, weil anschließend Musikunterricht, der im Neubau stattfand, auf dem Plan stand. Wenige Minuten nach dem Gong, der das Ende der Pause signalisierte, ist Herr Schäfer, der für den Vertretungsplan zuständig ist, erschienen und fragte die SchülerInnen der 9b, was sie hier machten, sie hätten jetzt BK bei Herrn Gerber – Vertretung. Als die SchülerInnen ihm antworteten, daß sie davon nichts wußten, sagte Herr Schäfer: „Ihr müßt halt auch den Vertretungsplan lesen“, den er erst zwei Minuten zuvor aufgehängt hatte. Ein Schüler der 9b hatte nämlich in der zuvor zu Ende gegangenen großen Pause nachgesehen und keinen Eintrag für die 9b finden können. Die SchülerInnen liefen daraufhin also zum BK-Zimmer und warteten vor der Tür auf Herrn Gerber.
Herr Gerber kam nach wenigen Minuten ziemlich aufgebracht angelaufen, weil er die Klasse zuvor nicht gefunden hatte – die SchülerInnen waren ja in der neuen Aula, wo sie eigentlich auf Herrn Guppi gewartet hatten.
Herr Gerber ließ SchülerInnen nicht an den Bildern von Herrn Guppi weitermalen, sondern erklärte ihnen die räumliche Darstellung von Körpern an der Tafel: sehr langsam und beschwerlich. Als er Conny aufforderte ihren Stift wegzulegen (sie zeichnete an ihrem Bild für Herrn Guppi weiter, während Herr Schäfer seine Körper an der Tafel erklärte) sagte sie, daß sie doch nur male und daß das was er erkläre nichts mit ihrer derzeitigen Aufgabe bei Herrn Guppi zu tun habe – nämlich einfach ein Gebäude von einer Vorlage abzuzeichnen. Weil Conny so patzig antwortete, schickte Herr Gerber sie vor die Tür. Sie stand wutentbrannt auf, spuckte auf den Fußboden und stampfte wütend aus dem Klassenzimmer. „Ist die blöd“ sagte Herr Gerber, als sie die Tür zuschlug und die Klasse lachte. Als Charlotte kurz darauf auf die Toilette ging, mußte sie feststellen, daß Conny sich im Flur übergeben hatte. Sie öffnete die Tür, meldete daß Conny sich übergeben hatte, nach ihren Angaben, weil sie so aufgebracht war, woraufhin ein paar SchülerInnen Conny zur Hilfe eilten.
Herr Schäfer, der nach der Pause mit ihr redete, sagte ihr (wie sie mir später im Unterricht erzählte), daß sie Herrn Gerber nicht so ernst nehmen solle. Zur Klasse sagte Herr Schäfer in der kleinen Pause, daß sie sich nicht zu wundern brauche, wenn sich Herr Gerber über sie beschwere.
Ins Klassenbuch schrieb Herr Gerber mit einem durchaus zufriedenen Gesichtsausdruck:
„Schülerin rotzt auf den Boden“. Die Klasse hatte ihm den Namen von Conny nicht verraten, aber um ihr zu helfen, appellierten sie an Herrn Gerbers Mitgefühl, indem sie ihm sagten, daß Conny heute Geburtstag habe. Die Appelle nutzten nichts, außer daß Herr Gerber so in der SchülerInnenliste im Klassenbuch nachsehen konnte, wie der Name der Schülerin lautet, die heute Geburtstag hatte. Als er beim Durchblättern des Klassenbuches auf den Themeneintrag „Menschenrechte“ der letzten Religionsstunde stieß, las er es laut vor, lachte und sagte zur Klasse gewandt: „Die habt ihr nicht.“

Im ersten Abschnitt dieser Feldnotiz – der Passage mit Herrn Schäfer – wird die Überheblichkeit deutlich, mit denen LehrerInnen ihren SchülerInnen mitunter gegenüber treten. Herr Schäfer wirft den SchülerInnen der 9b vor, nachlässig gewesen zu sein („Ihr müßt halt auch den Vertretungsplan lesen“), obwohl er weiß, dass noch in der vor wenigen Minuten zu Ende gegangenen großen Pause kein Eintrag für die Klasse 9b am Vertretungsplan zu finden war – er hatte die neueste Version ja gerade erst aktualisiert und aufgehängt.
Wie in allen bisher besprochenen Sequenzen dichter Beschreibung zeigt auch die Darstellung der Interaktion von Conny und Herr Gerber, dass der Lehrer kein Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit seiner Schülerin in einem Konfliktbereich hat. Die Antwort der Schülerin wird nicht aufgenommen, sondern führt unmittelbar zur Sanktion. Und die übertrieben emotionale Reaktion von Conny auf diese Sanktion, wird abwertend gegenüber der Klasse kommentiert, nachdem Conny den Raum bereits verlassen hat! „Ist die blöd!“
Das Spezifikum der letzten Passage ist ihr humoristischer Anteil. Warum lacht Herr Gerber? Liest man allein die Worte, so ist nichts Lustiges an ihnen zu entdecken. Es ist die Situation, die Herrn Gerber zum Lachen bewegt: 27 SchülerInnen, die er unterrichtet, haben im Fach Religion über Menschenrechte gesprochen. Zugespitzt formuliert: Unfreie reden über Freiheit. Aus Sicht Herrn Gerbers haftet dieser Situation offensichtlich etwas Absurdes an, das ihn zu seinem eigentümlichen Scherz verführt.

18.02.03
Während einer Lehrergeburtstagsfeier in der Lehrerbibliothek, während der großen Pause, unterhielt ich mich mit einem Praktikanten und einem Referendaren über die Lehrmethoden in der Schule und an der Universität. Der Referendar und angehende Lehrer sagte dabei in Bezug auf die SchülerInnen: „Denen kann man alles erzählen, die glauben einem alles.“

Wie bereits aus der Feldnotiz vom 01.10.2002 (1) (dem Gespräch zwischen Frau Langhans und mir) hervorging, werden die SchülerInnen auch hier mit dem entpersönlichenden Artikel „denen“ bzw. „die“ als etwas Unbestimmtes zusammengefasst. So als gäbe es keine Individuen unter SchülerInnen, sondern nur eine einheitliche Masse, in der alle gleich sind. Zudem wird dieses totalitäre Bündel an SchülerInnen von Herrn Tableau, dem Referendaren, als leichtgläubig disqualifiziert: „Die glauben alles.“ Daraus wiederum erwächst die logische Konsequenz, die der Referendar wie folgt formuliert: „Denen kann man alles erzählen“. Sicherlich kann ein Lehrer bzw. eine Lehrerin den Wissensüberhang den er bzw. sie naturgemäß besitzt missbrauchen, indem er bzw. sie SchülerInnen unwichtige Dinge erzählt. Solch ein Verhalten kollidiert natürlich mit seiner bzw. ihrer pädagogischen Aufgabe, insofern er bzw. sie sie ernst nimmt. Es überrascht, dass der Referendar es offensichtlich für unproblematisch hält – aus wie auch immer gearteten Gründen – seinen SchülerInnen etwas zu erzählen, von dem er weiß, dass es falsch ist. Immerhin ist es doch für ihn nicht abzuschätzen, ob seine SchülerInnen ihm tatsächlich glauben, oder nur deshalb nicht widersprechen, weil er ja der Lehrer ist, dem nicht widersprochen werden darf. Bekanntlich gehen Macht und Wahrheit über weite Strecken Hand in Hand.
Eine auffällige Gemeinsamkeit der vorliegenden Feldnotizen ist es, dass SchülerInnen von vielen LehrerInnen als Einheit gefasst werden, die dem Lehrer bzw. der Lehrerin gegenüberstehen.

Fußnote:

(1) vgl. Kapitel VI.1.3.

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