Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

LehrerInnen, die die Kunst der Machtdemonstration (1) noch nicht professionalisiert hatten, baten mehrfach Herrn Hofstätter um Hilfe, wenn es für sie Schwierigkeiten mit SchülerInnen der Klasse 9b gab. Herr Hofstätter, ein „Meister dieser Kunst“, unterstützte junge KollegInnen in solchen Situationen, weil es die Solidarität erforderte.

25.03.03
Am Ende der großen Pause hatte Herr Hofstätter noch ein Gespräch mit Frau Biedermann und einigen Jungen aus der 9b in der Lehrerbibliothek. Es waren Jungen, mit denen Frau Biedermann Probleme hatte. Da sie hoffte dem Gespräch durch die Anwesenheit von Herrn Hofstätter mehr Gewicht zu geben, bat sie ihn um dessen Teilnahme. Auch Herr Pilz, der junge Lateinlehrer der 9b, holte sich für sein Gespräch mit Conny am 18.03.03 Herrn Hofstätter zu Hilfe, obwohl dieser wenig Zeit zur Verfügung hatte.

Diese Feldnotiz wirft die Frage auf, warum sich LehrerInnen wie Frau Biedermann und Herr Pilz für Gespräche mit SchülerInnen LehrerInnen wie Herrn Hofstätter zu Hilfe holen? Die Antwort liegt auf der Hand: Herr Hofstätter hat, was Frau Biedermann und Herrn Pilz fehlt. Er wird von den SchülerInnen sowohl in seiner Lehrer-Rolle als auch in seinem Lehrer-Sein respektiert. Frau Biedermann und Herr Pilz hingegen sind weit entfernt von den SchülerInnen als LehrerInnen respektiert und akzeptiert zu werden. Durch die Anwesenheit von Herrn Hofstätter bei Gesprächen mit SchülerInnen „entleihen“ sie sich Herrn Hofstätters Autorität und machen sich die Qualitäten und Fähigkeiten Herrn Hofstätters im Umgang mit SchülerInnen zu Nutzen.
LehrerInnen-Solidarität bedeutet also auch junge, weniger erfahrene KollegInnen in schwierigen Situationen zu unterstützen, indem man die eigene in langjähriger Berufserfahrung gewachsene LehrerInnen-Identität zur Verfügung stellt und gemeinsam gegenüber SchülerInnen auftritt. Was passieren kann, wenn LehrerInnen wie Frau Biedermann und Herr Pilz sich gegenseitig um Hilfe bitten, zeigt die nächste Passage aus meinen Feldnotizen:

01.10.02
In der fünften Stunde, Geschichte, schaute die Klasse DVD-Ausschnitte aus „Der Patriot“ an. Allerdings hatte Frau Biedermann einen männlichen Begleiter mitgebracht, der am Rand saß. Da er sich nicht vorgestellt hatte, fragten die SchülerInnen mehrmals nach, wer er sei.
Er stand daraufhin auf, schrieb seinen Namen, Tableau, an die Tafel und schaute grimmig. Er sagte, er schaue sich alle schlimmen Klassen an, schreibe sich Namen auf und dann kommen die schlimmsten SchülerInnen nächstes Jahr in eine extra Klasse. Alle SchülerInnen lachten laut.

Herr Tableau, ein Referendar im ersten Ausbildungsjahr, verfügt leider nicht über die Gabe, die Herr Hofstätter besitzt: Machtpräsenz auszustrahlen. Obwohl er wie ein Lehrer handelt, sich vorstellt, seinen Namen an die Tafel schreibt, der Klasse durch Drohung seine Macht demonstriert wird er von den SchülerInnen nicht als Lehrer erkannt, was sich in ihrer Reaktion zeigt: sie lachen ihn aus. Der ganze Auftritt wird als Theaterstück empfunden, das die SchülerInnen unterhält, schließlich verleihen sie ihrem Amusement durch lautes Gelächter Ausdruck.
Dass Herr Tableau sie mit seiner kleinen Lügengeschichte einschüchtern will, steht für sie außer Frage. Das Lachen folgt so abrupt, dass nicht eine Minute Zweifel aufkommen konnten, ob die Geschichte nicht doch wahr sein könnte. Die Unterstützung Herrn Tableaus war im Sinne Frau Biedermanns also eher kontraproduktiv. Die SchülerInnen wurden in ihrer Meinung bestätigt, dass Frau Biedermann und nun auch Herr Tableau ihr LehrerInnen-Sein noch nicht professionalisiert haben.
Gegenseitige Hilfestellung unter LehrerInnen ist also nicht generell sinnvoll und wirksam. Persönliche Autorität ist einfach nicht übertragbar und es erscheint fraglich, ob die Zuhilfenahme eines Lehrers bzw. einer Lehrerin zur Konfliktlösung in einer bestimmten Situation das Verhältnis des Lehrers, der die Hilfe in Anspruch nimmt, zu der Klasse langfristig befördert.

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