Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sicht der LehrerInnen

Während meiner Zeit im Feld, konnte ich immer wieder beobachten, – wie auch in diesem Fall – dass LehrerInnen an sich selbst die Erwartung stellen unfehlbar zu sein, zumindest vertraten sie den SchülerInnen und Eltern gegenüber häufig diese Position.

10.10.02
Beim Aufhängen von Eisenwolle an einer Waage nahm Herr Dr. Behringer jeweils von der falschen Seite Teile weg, um ein Gleichgewicht herzustellen. Statt Gleichgewicht zu erzeugen, wurde so die Differenz zwischen beiden Waagschalen immer größer. Als die Klasse ihn amüsiert darauf hinwies, sagte er nichts, sondern versuchte, den Vorfall durch konzentrierte ablenkende Manipulationen an seinen Versuchsmaterialien zu überspielen.

Gerade Herr Dr. Behringer hatte Schwierigkeiten, selbst verschuldete Fehler beispielsweise bei Versuchen im Chemieunterricht einzugestehen. Aus den bisherigen Beobachtungen und vielen Feldnotizen wird ersichtlich, dass es nach der Überzeugung von Herrn Dr. Behringer zur LehrerInnen-Identität gehört „die Fäden in der Hand zu halten“, was beispielsweise auch oben in Manuelas Beschreibung zum Ausdruck kam, dass er all´ seine Fragen und Aufgaben selbst beantwortet und den SchülerInnen gar keine Möglichkeit zur Mitarbeit lässt. Wenn ihm nun ein Fehler passiert und die SchülerInnen amüsiert darauf reagieren, wird er das als Kontrollverlust erleben und sich in seiner Rolle in Frage gestellt sehen. Es ist natürlich unendlich schwierig, einem Selbstbild von Unfehlbarkeit gerecht zu werden und es wird immer wieder zu Situationen kommen, die vom Lehrer als unangenehm erlebt werden. Die Aufgabe des besser-wissen-müssens verkrampft die Situation zwangsläufig.

05.12.02
Herr Dr. Behringer machte einen Versuch, um festzustellen, ob Wasser eine chemische Verbindung oder ein Element sei. Die chemische Reaktion war sehr laut und hell. Auf Wunsch der Klasse wiederholte er den Versuch. Es passierte dasselbe wie beim Erstenmal.
Er sagte dann, daß der Versuch gar nicht so ablaufen solle und er ein bißchen verwirrt sei, weil er nicht wisse woran das Scheitern liege. Die Klasse freute sich trotzdem. Als Herr Dr. Behringer mich in der nächsten Stunde im Lehrerzimmer traf, erzählte er mir, daß er mit Kollegen geredet habe, die ihm gestanden haben, daß eben dieser Versuch auch bei ihnen schief gegangen sei.

Warum wendet sich Herr Dr. Behringer an mich? Es scheint ihm ein Bedürfnis zu sein, das Scheitern des Versuchs zu rechtfertigen. Mit dem Hinweis auf andere LehrerInnen, denen dieser Versuch auch nicht gelungen ist, versucht er der Verantwortung für das Scheitern zu entkommen: Es war offensichtlich nicht sein Fehler, die Schuld hat der Versuch, der einfach nicht funktioniert – zumindest nicht so wie er soll und das immer wieder.
Herr Dr. Behringer, der sicherlich schon seit ca. 30 Jahren unterrichtet, arbeitet sich selbst noch immer an einem idealen Lehrerbild ab, das nicht beziehungsorientiert erscheint, sondern vielmehr einen Idealtypus anstrebt, der für sich selbst – ohne hierbei irgendwie auf seine soziale Umwelt Retours nehmen zu müssen – einfach immer das Richtige tut.

08.01.03
Frau Zeitz bat mich um Hilfe bei einer Schülerin der fünften Klasse, die den Unterricht verweigerte. Sie saß schon viele Tage in der LehrerInnenbibliothek und schlief, weil sie einfach nicht in den Unterricht wollte. Nachdem ich in einer Sportstunde von Frau Zeitz ein wenig mit dem Mädchen redete, schilderte mir die Lehrerin die Problematik in der folgenden Freistunde im LehrerInnenzimmer genauer. Sie meinte, man munkele, die Mutter des Mädchens hätte Alkoholprobleme, aber man wisse nichts Genaues. Sie sagte weiter, dass sie solche Vorfälle schlimm fände, daß es sie fertig mache, weil sie es dann mit nach Hause nähme. Sie frage, warum sie überhaupt Englisch und Sport studiert habe, vielmehr müsse man Psychologie oder ähnliches studiert haben. Sie sagte, die ersten drei Jahre als Lehrerin sei man nur am Malochen und völlig überfordert mit der Situation. Was ihr viel geholfen habe, war, eigene Kinder zu haben. Sie sei 11 Jahre völlig aus dem Beruf gewesen und habe so, als Elternsprecherin, auch die andere Seite kennengelernt. Das habe ihr viel gebracht.
Frau Sauer, die unser Gespräch mit angehört hatte, stimmte ihr zu und sagte, daß es wirklich hilfreich sei, eigene Kinder zu haben. Auch die Angriffe von außen, seien schlimm – das Bild vom faulen Lehrer in der Gesellschaft, die Anfeindungen der Eltern etc.: „Wir schaffen ja eh nichts und haben noch so n´en Haufen Ferien.“ Frau Zeitz erzählte, daß mal ein Vater zu ihr in die Sprechstunde kam und sagte, daß er mit dem Anwalt komme. Da habe sie gefragt: „Wollen wir net mal erscht reden?“ Später habe sie sich dann gut mit diesem Vater verstanden.

In dieser Passage schildern Frau Zeitz und Frau Sauer offen die der LehrerInnen-Existenz immanenten Probleme: einerseits die Konzentration auf Fachwissen schon während des Studiums, andererseits die Konfrontation mit menschlichen Schicksalen im schulischen Alltag und schließlich die aus dieser Konstellation entwachsende Hilflosigkeit und das dabei empfundene Gefühl des Überfordertseins. Die von der Gesellschaft suggerierte Orientierung an Produktivitätsstandards, in deren Folge Schule zur Lernfabrik wird und Bildung zur Ausbildung verkommt, übersieht die menschlichen Dimensionen in der Praxis der Schule. In Schulgesetzen und der LehrerInnen-Ausbildung finden Aspekte, die der Seins-Ebene zuzuordnen sind, kaum Berücksichtigung. Sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen werden auf ihre Rollen im Produktionsprozess reduziert. Deswegen stellt sich in Situationen, die den Rahmen schulischen Rollenhandelns sprengen, schnell das von Frau Zeitz beschriebene Gefühl der Überforderung ein und der Wunsch „Psychologie oder ähnliches studiert“ zu haben kommt auf. Eigene Kinder zu haben wird deshalb von beiden LehrerInnen als hilfreich empfunden, weil es einer „Ausbildung“ auf der Seins-Ebene entspricht. Erschwerend kommen „das Bild vom faulen Lehrer in der Gesellschaft (und) die Anfeindungen durch die Eltern“ hinzu, die als „Angriffe von außen“ empfunden werden. Eltern von SchülerInnen begegnen den LehrerInnen mitunter schon bei der ersten Begegnung feindselig, wie im Beispiel von Frau Zeitz der Vater, der ihr mit dem Hinzuziehen eines Anwalts drohte, ohne je zuvor ein Wort mit ihr gewechselt zu haben.

14.01.03
Auf dem Weg zu einer weiteren Unterrichtsstunde fragte ich Herrn Merkel, ob LehrerInnen eigentlich auch eine Lieblingsklasse haben. Er sagte, daß er das zu vermeiden suche, daß es aber natürlich Klassen gebe, mit denen man besser arbeiten könne. Zum Beispiel gehe er schon mit einer ganz anderen körperlichen Anspannung in die 10te Klasse, weil er da vielmehr für Ruhe sorgen müsse. Dasselbe hatte Herr Hofstätter auf dem Elternabend erzählt: daß er sich schon auf dem Weg in die 9b in die richtige Stimmung versetze.

Die psychischen und physischen Anforderungen, die an LehrerInnen gestellt werden sind groß. Entsprechend hoch ist die Anzahl der Erkrankungen, die keiner bestimmten Ursache zugeordnet werden können. Kaum eine andere Berufsgruppe leidet so häufig unter Tinitus, als die der LehrerInnen. Bei der Bewältigung von Stresssituationen werden LehrerInnen zudem institutionell alleine gelassen. So ist jeder Lehrer und jede Lehrerin bemüht, seine bzw. ihre eigene persönliche Strategie zur Problembewältigung zu entwickeln.

18.02.02
Herr Hofstätter erzählte mir von seinem Studium, wie fehl am Platz er sich manchmal in mitten der Diplom-Mathematiker gefühlt habe: „Man hat manchmal nicht gewußt, ob man auf der richtigen Fährte ist.“ Er berichtet auch von einem Sportlehrer, der ihn an der Uni unterrichtet habe und der mit den Studenten in seinen Unterricht gegangen sei. „Von ihm habe ich viel gelernt. Das war das Wichtigste im Studium. Zum Beispiel war da mal eine sehr laute Klasse, die geschrieen hat. Da hat er sie hergerufen, hinsetzen lassen und gesagt, so mal sehen ob ihr so laut schreien könnt. Dann haben alle Kinder ganz laut geschrieen und danach war gut. Wenn ich ein guter Lehrer werden will, muß ich mich nicht mit Büchern in die Bibliothek setzen. Schüler zu motivieren ist manchmal ganz schwierig. Ich mache das so, daß ich immer gut drauf bin bzw. so tue – wie ein Schauspieler. Das bringt am meisten und steckt die SchülerInnen an.“

Es ist nicht zu übersehen, dass es dem Lehrer am Gymnasium mit seiner Ausbildung an fachlicher Kompetenz nicht mangeln wird. Alleine die fachliche Kompetenz garantiert aber keinen erfolgreichen Unterricht. Ein ausgezeichneter Mathematiker kann ein miserabler Didaktiker sein, der im Schulunterricht völlig versagt. Da pädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten ebenso wenig wie Strategien zur Problembewältigung in der Regel zur Ausbildung von LehrerInnen für Gymnasien gehören, eignen sich viele LehrerInnen diese Fähigkeiten entweder autodidaktisch an, besuchen Kurse oder versuchen es mit subjektiven Theorien, die weiterhelfen können. Herr Hofstätter vergleicht seine Arbeit mit der eines Schauspielers, weil er den SchülerInnen eine bestimmte Stimmung („ daß ich immer gut drauf bin bzw. so tue“) suggerieren möchte, die sie motivieren soll. Er hat diese Methode aus seinen Erfahrungen selbst entwickelt, weil er aus seinem Studium keinerlei Lösungsvorschläge mitgebracht hatte.

20.02.03
Anschließend unterhielt sich Herr Hofstätter noch mit einer anderen Mathematiklehrerin darüber, daß die SchülerInnen überhaupt kein räumliches Vorstellungsvermögen mehr haben und daß so der Lehrer mehr und mehr zum Entertainer werde (weil er Planfiguren mitbringe, Seile benutze etc.) – zum Schauspieler.

Die bereits wiederholt angesprochene passive Haltung der SchülerInnen und ihre Erwartung, dass LehrerInnen für ihr Wissen zuständig sind, führt auch zu der hier beschriebenen Rolle des Entertainers. Bausteine der LehrerInnen-Identität sind somit die Aufgabe der Vermittlung von Lerninhalten, die Unfehlbarkeit, die Konfrontation mit menschlichen Schicksalen, das Gefühl des Überfordertseins, mangelnde Vorbereitung während des Studiums, Anfeindungen durch die Eltern, schauspielerischer Einsatz und die Vortäuschung von Emotionen zum Zweck der Motivation, insgesamt also die Moderation eines Unterrichts, wie dies auch ein Entertainer macht.

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