Falldarstellung

Montag, 27. August 2001 (2. Schulwoche)

Im Morgenkreis

Nach der Erzählrunde zum Thema ´Wochenende´, zeigt Frau M. ein gelbes Heft, auf dessen Titelseite ´Mein Schreib-Mal-Heft´ steht. Sie erklärt, dass „dieses Buch, so wie das von Frau Panagiotopoulou viele leere Seiten“ habe, „aber diese Seiten müssen die Kinder selbst füllen, sie müssen malen und schreiben!“
„Die Kinder sollen jetzt“, erklärt sie noch, während sie die entsprechenden Hefte verteilt, „etwas über das Wochenende malen und, wenn sie möchten, auch etwas dazu schreiben, ein Wort, einen Satz, eine kleine Geschichte“. Sie bietet schließlich den Kindern an, „etwas“ für sie zu schreiben, „wenn sie noch nicht schreiben können“. Die Kinder, die dies möchten, sollen ihr „Bescheid geben“.

Bevor ich auf die Auseinandersetzung der Kinder dieser Anfangsklasse mit der durch die Lehrerin angeleiteten Aufgabe „wir malen und schreiben über das Wochenende“ näher eingehe, möchte ich im Folgenden ihre didaktische Intention rekonstruieren. Dabei beziehe ich mich allerdings auch auf weitere, aus Platzgründen hier nicht vorgestellte, beobachtete Szenen sowie auf informelle Gespräche mit der Pädagogin, die sich im Rahmen meiner Teilnahme regelmäßig ergeben haben.

Mit der Einführung dieser für alle Kinder verbindlichen Aufgabe wollte die Lehrerin das selbstständige Schreiben bereits von Schulbeginn an ermöglichen. Indem sie ein „offenes“ Thema, ein so genanntes Rahmenthema, als „Schreibanlass“ anbot, versuchte sie insbesondere das außerschulische Leben der Kinder, konkret: ihre Wochenenderlebnisse, mit dem schulischen Lernen zu verbinden und sie auf diese Weise zum selbstständigen Schreiben zu motivieren.Bevor ich auf die Auseinandersetzung der Kinder dieser Anfangsklasse mit der durch die Lehrerin angeleiteten Aufgabe „wir malen und schreiben über das Wochenende“ näher eingehe, möchte ich im Folgenden ihre didaktische Intention rekonstruieren. Dabei beziehe ich mich allerdings auch auf weitere, aus Platzgründen hier nicht vorgestellte, beobachtete Szenen sowie auf informelle Gespräche mit der Pädagogin, die sich im Rahmen meiner Teilnahme regelmäßig ergeben haben.

Sie versuchte darüber hinaus einen sinnvollen und für die Kinder – zumindest teilweise – eigeninitiierten Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu ermöglichen: Das „Wochenende“ war zwar an dem Tag der Einführung dieser Aufgabe, wie auch in den darauf folgenden Montagen, ein für die Kinder fremd- bzw. von der Lehrerin initiiertes Erzählthema, aber die Auswahl des Erlebnisses, das im Anschluss an den Morgenkreis malerisch und schriftlich dokumentiert werden sollte, blieb immer den Kindern überlassen. Dieser angeleitete Schreibanlass sollte also für die Kinder dieser Klasse eine individuelle Themenfindung erlauben, da diese ein Ereignis aus der Komplexität des außerschulisch Erlebten (und gegebenenfalls im Morgenkreis bereits Erzählten) auswählen konnten.

Die – etwas vage – Anweisung der Lehrerin bezüglich des zu dokumentierenden Erlebnisses (die Kinder sollten „etwas“ vom Wochenende auswählen; siehe Protokoll) sollte außerdem deutlich machen, dass es diesbezüglich keine weiteren Erwartungen seitens der Lehrerin gab, z. B. sollten die Kinder nichts „Außergewöhnliches“ thematisieren. Die Aufgabenstellung war also einerseits in inhaltlicher Hinsicht relativ offen.

Andererseits war die didaktische Intention der Pädagogin – unter Berücksichtigung der Heterogenität der SchülerInnen – auf die unterschiedlichen, schriftsprachbezogenen Vorerfahrungen und Kompetenzen der Kinder ausgerichtet. Dass sie beim Können aller SchülerInnen anzuknüpfen versuchte, zeigt sich sowohl in der Konkretisierung der Quantität des Geschriebenen, als auch in der Relativierung der Verbindlichkeit dieser Aufgabe: Die Kinder hatten konkret – und je nach ihrer individuellen Schreibentwicklung – die Möglichkeit, „ein Wort“, „einen Satz“ oder einen Text, „eine kleine Geschichte“, wie die Lehrerin erklärte, zu schreiben. Aber: Obwohl alle Kinder ein Bild über das Wochenende malen sollten, mussten sie nicht etwas zu diesem Bild schreiben. Darin bestand eine Relativierung dieser Aufgabenstellung und insbesondere der Gleichwertigkeit des Schreibens (gegenüber des Malens): die Kinder „müssen malen und schreiben“ hieß es zunächst, sie „sollen“ malen „und wenn sie möchten auch etwas dazu schreiben“, war die darauf folgende Erläuterung der Lehrerin.

Schließlich und insbesondere für die Kinder, „die noch nicht schreiben können“, gab es eine weitere Alternative: diese Kinder hatten noch die Möglichkeit, der Lehrerin „etwas“ zu ihren Bildern zu diktieren.

An diesem Montag, an dem die Aufgabe eingeführt wurde, aber auch in den nächsten Schulwochen, haben alle Kinder der Klasse während der Arbeitszeit Bilder über das Wochenende gemalt. Sie haben auf diese Weise verschiedene Erlebnisse aus ihrer außerschulischen Lebenswelt dokumentiert: den Besuch im Zoo, das Haus der Oma, das Kino, den Spielplatz, die Freunde, mit denen sie am Wochenende zusammen gespielt hatten, etc.

Aus den Kommentaren der Kinder im Morgenkreis sowie aus ihren Gesprächen während der Arbeitszeit unter sich, aber auch mit ihrer Lehrerin, konnte ich mehrmals entnehmen, dass sie sich bemüht haben, diesen Auftrag zu erfüllen. In verschiedenen von mir beobachteten und analysierten Situationen haben zum Beispiel viele Kinder auch dann etwas zum Wochenende gemalt, wenn sie, nach ihren eigenen Angaben, keinen Sinn darin gesehen haben, u.a. wenn sie der Meinung waren, nichts Besonderes oder Außergewöhnliches erlebt zu haben (und trotz der vorsichtigen Anweisungen der Lehrerin hinsichtlich der erwarteten „Qualität“ ihrer Erlebnisse).

Ein solches charakteristisches und zugleich „vielsagendes“ Beispiel betrifft Joshuas Deutungen und Handlungen […].

Montag, 3. September 2001 (3. Schulwoche)

Im Morgenkreis

Frau M. kommt am Gruppentisch vorbei und beobachtet die Kinder, während diese Bilder in ihre Hefte malen. Sie fragt Joshua, der noch nicht mit der Aufgabe begonnen hat, warum er „heute nichts“ mache. „Ich habe nur Fernsehen geguckt“ antwortet ihr Joshua. Frau M. fordert ihn daraufhin auf, „etwas dazu zu malen“. Kurz darauf geht die Lehrerin wieder, während Joshua mit dem Malen beginnt.

So wie Joshua haben sich in den ersten Schulwochen auch weitere Kinder bemüht, Bilder zum Wochenende zu malen, doch sie haben keinen Versuch unternommen diese Bilder zu beschriften bzw. „ein Wort, einen Satz oder eine kleine Geschichte“ zu ihren malerisch dokumentierten Wochenenderlebnissen zu schreiben.

Genauer gesagt: Sie haben einzelne Wörter, teilweise auf Aufforderung der Pädagogin, abgeschrieben, z. B. von Namenschildern oder anderen beschrifteten Objekten, die sich im Raum befanden (vgl. dazu exemplarisch im folgendem Protokollauszug vom 17. September: Ali) oder sie haben die Aufgabe des Aufschreibens ihrer Lehrerin überlassen (vgl. dazu exemplarisch im Protokollauszug: Susanne).

Montag, 17. September 2001 (5. Schulwoche)

Am Gruppentisch

Ali hat in seinem Heft drei Figuren gemalt. Er erklärt mir, dass dies Erol, Murat und er selbst sein sollen, sie haben am Wochenende zusammen gespielt. Er fragt nun die Lehrerin, die gerade vorbei kommt, ob sie für ihn die drei Namen „Erol, Murat und Ali“ aufschreiben könnte. Frau M. antwortet ihm, dass er das sicher selbst machen könnte. Sie holt von ihrem Tisch die Namensschilder der genannten drei Kinder.

Ali schreibt nun die zwei Namen seiner Freunde nacheinander von diesen Schildern ab, ohne sie dabei den entsprechenden Figuren seines Bildes zuzuordnen.
Es klingelt zur Pause
Mona und Susanne sitzen noch auf ihren Plätzen, ich gehe zum Gruppentisch und frage sie, was sie heute gemalt und geschrieben haben. Susanne schlägt ihr Heft auf und zeigt mir ein Bild mit zwei weiblichen Figuren. „Hier, das habe ich gemalt“ sagt sie. Über dem Bild steht der Satz <Ich war bei meiner Oma> geschrieben, den ich nun laut vorlese. „Schön!“ sage ich anschließend. „Das war ich nicht“, erklärt mir Susanne sehr leise und mit gesenkten Kopf, „das hat Frau M. geschrieben“.

Im Protokoll vom 17. September geht es exemplarisch um zwei Kinder, die sehr unterschiedliche Schrifterfahrungen mit in die Schule brachten. Während Ali den Zusammenhang zwischen Laut- und Schriftsprache noch nicht entdeckt hatte und nur wenige, einzelne Buchstaben sowie seinen Namen aus dem Gedächtnis (teilweise orthographisch falsch) aufschreiben konnte, kam Susanne als einzige „Frühleserin“ dieser Klasse in die Schule. Sie konnte Texte (aus Büchern, die sich im Klassenraum befanden) vorlesen sowie verschiedene Wörter lautierend – und in der Regel orthografisch korrekt – aufschreiben.

Unabhängig davon, dass zu diesem Zeitpunkt beide Kinder ihre momentane Schreibentwicklung einschätzen konnten – Ali fragte die Lehrerin, ob sie für ihn seinen eigenen Namen sowie die Namen seiner Freunde schreiben könnte, während Susanne zwar das Beschriften ihres Bildes vermutlich zugelassen hatte, aber anschließend unzufrieden damit zu sein schien – möchte ich mit diesem Beispiel Folgendes hervorheben:

In den ersten Schulwochen haben alle Kinder dieser Anfangsklasse, unabhängig von ihrer Schriftsprachentwicklung, die innerhalb von weiteren Arbeitssituationen über diese Unterrichtsstunde hinaus festzustellen war, das Lernangebot ihrer Lehrerin „wir malen und schreiben über das Wochenende“ nicht genutzt, um frei bzw. selbstständig zu schreiben.

(…)

Etwa ab der vierten Schulwoche konnte ich jedoch im Rahmen von unterschiedlichen Situationen während dieser Unterrichtsstunde beobachten, wie mehrere Kinder nach Auswegen gesucht bzw. Alternativen zur Arbeitsvorgabe vorgeschlagen haben. Zum Beispiel fragten sie die Lehrerin im Anschluss an den Morgenkreis und sobald sie die Montagsaufgabe erneut anmeldete, ob sie stattdessen etwas anderes machen könnten, z.B. Rechenaufgaben, Spielen etc. Ihre Vorschläge wurden jedoch von ihr abgelehnt (vgl. dazu exemplarisch Tobias‘ Frage an die Lehrerin im Protokollauszug vom 29. Oktober).

Erst nach den Herbstferien ist es zu einer richtigen Änderung, zu einer ‚Öffnung‘ bzw. Erweiterung der Lernangebote für diese Unterrichtsstunde gekommen, genauer gesagt zu einer Veränderung der inhaltlichen Vorgaben der Lehrerin.

Dies geschah jedoch nicht durch die Lehrerin, sondern durch Daniel, der am 22. Oktober – ich beziehe mich dabei auf den entsprechenden Protokollauszug – die Aufgabe übernommen hatte, dem neuen Schüler Tobias zu erklären, was die Kinder jeden Montag machen.

Montag, 22. Oktober 2001 (nach den Herbstferien)

Im Anschluss an die Versammlung im Morgenkreis sollen die Kinder in ihren „Schreib-Mal-Heften“ arbeiten. Heute ist ein neuer Schüler in der Klasse, er heißt Tobias. Auf die Frage der Lehrerin „wer möchte dem neuen Schüler erklären, was wir jeden Montag machen?“ meldete sich Daniel freiwillig.

Am Gruppentisch

Tobias hört zu, während Daniel erläutert: „Montags malen und schreiben wir, was wir am Wochenende gemacht haben“. Daniel überlegt kurz und ergänzt: „Heute musst du natürlich schreiben, was du in den Ferien gemacht hast“. Nach einer kurzen Pause: „Also du musst malen und schreiben. Du musst alle Buchstaben schreiben, die du brauchst, zum Beispiel …“, er sieht zur Tafel, auf der mehrere Buchstaben und Fibelwörter stehen und dann zur großen Anlauttabelle an der Wand. Er sagt schließlich: „Schreib alle Buchstaben, die du kennst. Das ist immer am besten!“
Frau M. kommt vorbei und fragt Tobias, ob er jetzt weiß, was er machen muss. Tobias nickt. „Frau M. ich schreibe erstmal“ teilt ihr Daniel mit. „Das ist schön Daniel“, antwortet sie, „so wissen wir auch, wovon es in deinem Bild handelt“. „Ich schreibe Buchstaben für Charly“, erläutert Daniel, „er braucht unbedingt Buchstaben“.
Die Lehrerin geht, ohne Daniels Entscheidung zu kommentieren.
Daniel steht auf, holt sich aus dem Regal den Roboter „Charly“, eine Handpuppe, die Frau M. für die Kinder gebastelt hat, stellt sich direkt vor Tobias, der inzwischen mit dem Malen begonnen hat und fragt:  „Wie heißt du noch mal?“ Tobias beantwortet die Frage und Daniel beginnt die Lippen von Charly zu betätigen, dabei spricht er in der, Robotersprache: „Ha – llo – To – bi – as, ich – hei- ße – Char – ly – und – brau – che – Buch – sta – ben, vie- le – Buch – sta – ben „.
Anschließend setzt er sich wieder und fängt an, einzelne Buchstaben aufzuschreiben, während Tobias weiter malt.

„Montags malen und schreiben wir, was wir am Wochenende gemacht haben“, erklärte zunächst Daniel und gab somit die Aufgabe der Lehrerin an Tobias weiter, die er selbst sowie die anderen Kinder dieser Klasse bis zu diesem Zeitpunkt nur teilweise – nur hinsichtlich des Malens – eingelöst hatten. Aber bereits mit seinem nächsten Satz veränderte Daniel die inhaltlichen Vorgaben der Lehrerin: „Heute musst du natürlich schreiben, was du in den Ferien gemacht hast“. Mit seinem folgenden Satz erklärte Daniel zwar, dass Tobias „malen und schreiben“ sollte, betonte aber ausdrücklich das Schreiben: „Du musst alle Buchstaben schreiben, die du brauchst“ und dabei suchte er nach Buchstaben, die sich im Klassenraum befanden. „Schreib alle Buchstaben, die du kennst“, erklärte Daniel schließlich, „das ist immer am besten!“

Im Wissen, dass nicht nur das Malen, sondern auch (oder vor allem?) das Schreiben von den Kindern erwartet wurde und inspiriert von seinen eigenen Anweisungen für den neuen Schüler Tobias entschied sich Daniel an diesem Montag für eine Schreibaufgabe: Er wollte Buchstaben für Charly, den Roboter der Klasse, schreiben.

So sorgte Daniel zunächst dafür, dass die Lehrerin diesbezüglich informiert wurde, was als eine Rückversicherung seinerseits gedeutet werden kann. Gleichzeitig organisierte er eine erste Begegnung zwischen Charly und dem neuen Schüler Tobias: Charly stellte sich persönlich vor, sprach in seiner Sprache, in der Robotersprache, und erteilte einen Auftrag: „Ha – llo – To – bi – as“, sagte Daniel bzw. Charly, „ich – hei- ße – Char – ly – und – brau – che – Buch – sta – ben, vie- le – Buch – sta – ben“.

Auf ähnliche Weise wurde bereits in der 3. Schulwoche (am Dienstag, den 4. September) diese Handpuppe von der Lehrerin vorgestellt. Damals ging es ihr darum, die Schriftkenntnisse der Kinder zu erfassen und erklärte ihnen, dass sie „alle Buchstaben und Wörter“ aufschreiben sollten, die sie bereits kannten, da Charly damit gefüttert werden sollte.

Indem Daniel die Anweisung „schreib alle Buchstaben, die du kennst“ an den neuen Schüler Tobias weitergibt und diese Anweisung damit begründet, dass dies „immer am besten“ sei, greift er also auf ein früheres Angebot der Lehrerin zurück und damit erreicht er etwas Besonderes: Die Lehrerin scheint zum ersten Mal nichts dagegen zu haben, als sie von Daniel über diese Veränderung bzw. über sein Vorhaben (Buchstaben für Charly zu schreiben) informiert wird.

Eine Woche später – ich beziehe mich auf den Protokollauszug vom 29. Oktober – wagt Daniel den nächsten Schritt.

Montag, 29. Oktober 2001

Nach dem Morgenkreis, erklärt Frau M. für „den neuen Schüler Tobias“, woran die Kinder jeden Montag nach der Erzählrunde arbeiten, „nämlich schreiben und malen, was sie am Wochenende erlebt haben“. „Frau M. können wir auch spielen?“ fragt Tobias. „Nein“ antwortet sie, „jetzt nicht Tobias! Jetzt ist Arbeitszeit“ und geht zu ihrem Schreibtisch. Die Kinder gehen zu ihren Plätzen.

Heute setzte ich mich neben Ali, der zufrieden mit meiner Anwesenheit zu sein scheint, er lächelt mich an und macht Platz, damit ich mein Buch auf den Tisch legen kann.

Frau M. teilt inzwischen den Kindern mit, dass Daniel eine „sehr gute Idee“ habe, die er jetzt allen erzählen wird. Daniel steht vor der Tafel, neben der Lehrerin, und erklärt: „Ja, also diejenigen, die nicht schreiben möchten, was sie am Wochenende gemacht haben, können Buchstaben für Charly schreiben. Er braucht dringend neue Buchstaben!“

Daniel versuchte an diesem Montag die Aufgabe „Buchstaben für Charly“ als ein weiteres Angebot bzw. als eine alternative Aufgabe nicht nur für ihn selbst, sondern für die gesamte Lerngruppe im Rahmen dieser Unterrichtsstunde durchzusetzen. Und das hat er in der Tat geschafft: Sein Vorschlag wurde von der Lehrerin akzeptiert, als eine „sehr gute Idee“ von ihr begrüßt und als solche gegenüber den anderen Kindern angekündigt. Daniel durfte nun seine Idee vor der gesamten Klasse unterbreiten.

Daniel wollte damit aber nicht nur eine Alternative, sondern einen Ausweg verschaffen und das war ihm offensichtlich bewusst. Denn hier ging es insbesondere um diejenigen, wie er sagte, „die nicht schreiben möchten, was sie am Wochenende gemacht haben“. Diese Kinder hatten jetzt die Möglichkeit- und zwar mit dem Einverständnis der Lehrerin – Buchstaben für Charly zu schreiben.

Diese Aufgabe wurde außerdem legitimiert, indem sie von Daniel zu einer Notsituation, zu einer Handlungsnotwendigkeit erklärt wurde: Denn Charly wurde ja seit Wochen nicht mehr gefüttert, er brauchte also Buchstaben und – wie Daniel sagte – er brauchte sie „dringend“!

Insofern sollte Daniels Vorschlag nicht als ein (weiterer) bloßer Schreib-Anlass, sondern eher als ein bedeutungsvoller Grund zum Schreiben verstanden werden. So wurde er zumindest von mehreren Kindern dieser Schulklasse gedeutet: Bereits an diesem Tag haben viele Kinder nicht über das Wochenende gemalt, sondern einzelne Buchstaben, Zahlen und Wörter für Charly aufgeschrieben. Manche davon haben sich mit dieser Aufgabe über drei bis vier Wochen hinweg beschäftigt.

Tobias gehörte auch zu diesen Kindern. Er hat allerdings über zwölf Wochen hinweg jeden Montag Buchstaben für Charly geschrieben.

Abb.: Die ersten drei Seiten aus Tobias´ Heft
Die Überschrift `Futter für Charly´ wurde von der Lehrerin geschrieben.

Auf der Grundlage meiner weiteren Beobachtungen, z. B. bei seiner Bearbeitung von verschiedenen Arbeitsblättern aus der Tobi-Fibel, die jeden Dienstag und /oder Mittwoch zum Einsatz kamen, konnte ich feststellen, dass Tobias keine Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb hatte. Trotzdem hat er von Ende Oktober bis Ende Januar keinen einzigen Versuch unternommen, montags diese Unterrichtsstunde dafür zu nutzen, um ein Wort, einen Satz oder einen Text zu schreiben.

Warum hat also Tobias sein bereits erworbenes schriftsprachliches Können und Wissen nicht genutzt, um frei zu schreiben, und warum hat er sich nicht auf das Schreiben über das Wochenende eingelassen? Dies sind Fragen, die alle Kinder dieser Klasse, die sich über die ersten Schulwochen hinweg nicht auf das Lernangebot ihrer Lehrerin eingelassen haben, betreffen.

Das Ergebnis von Tobias´ Schreibtätigkeit, insgesamt zweieinhalb Seiten mit einzelnen Buchstaben, ist jedoch aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung und wird Ausgangspunkt meiner abschließenden Ausführungen sein.

Interpretation

Meine Schlussfolgerungen werde ich in Form von Thesen ausführen. Folgende Ausgangsthese scheint mir dabei besonders wichtig zu sein:

Tobias´ Schreibprodukt ist als ein Produkt der konkreten Lern- und Schriftkultur seiner Klasse zu verstehen. Seine Entstehung, Logik und Funktion ist auf Tobias´ Deutungen und Handlungsmöglichkeiten im Kontext der oben beschriebenen Bedingungen zurückzuführen, so dass es sich nicht unabhängig davon analysieren lässt.

Tobias´ Produkt sieht wie ein Text aus: Ein langer Text, der vielleicht in einer fremden Sprache geschrieben wurde, in einer Sprache, die man nicht entziffern kann. Aber es ist ein Text ohne Inhalt, in gewisser Hinsicht, genauer gesagt in inhaltlicher Hinsicht, ein „Anti-Text“.

Meine erste These lautet also:
Tobias wie auch Daniel sowie weitere Kinder dieser Klasse haben die Intention ihrer Lehrerin durchschaut: Der Inhalt (das Wochenende) war nur ein Schreib-Impuls, ein Schreib-Anlass, ein Vorwand für das Schreiben, aber es war kein Grund zum Schreiben. Die Schreibaktivität an sich ist das Wichtigste, schreiben muss man, das ist es, was die Lehrerin von den Kindern erwartete, und zwar „alle Buchstaben, die man kennt, das ist immer am besten“, wie Daniel erklärte.

Dementsprechend hat Tobias´ Schreibprodukt einen Adressaten (Charly), der sich gar nicht für Inhalte interessiert: Charly brauchte zwar das Geschriebene, aber nicht weil er lesen wollte, er brauchte Buchstaben, weil er Hunger hatte.

Potentielle Schreiberinnen und Schreiber brauchen nicht oder zumindest nicht nur Anlässe fürs selbstständige Schreiben, vielmehr brauchen sie Gründe zum Schreiben. Laut Horst Bartnitzky (2002, S. 20) brauchen sie „Begründungen“ für die einzelne Schreibsituation, die ihren gesamten Schreibprozess tragen und insbesondere „ein Schreibziel, das ihr eigenes Ziel ist“.

Während der ersten Schulwochen schien für die Kinder dieser Anfangsklasse einerseits ein eigenes Ziel (was aber nicht unbedingt ein persönliches Ziel bzw. Schreibthema voraussetzt, wie ich noch erläutern möchte) und andererseits ein geteiltes Ziel, ein gemeinsamer Schreibauftrag wichtig zu sein. Genau hier kommt der Roboter dieser Klasse erneut zum Einsatz. Seine Bedeutung für die Kinder betrifft meine zweite These:
Charly war nicht nur für Tobias, sondern auch für die weiteren Kinder, die sich auf Daniels bzw. Charlys Auftrag (hin und wieder) eingelassen haben, als Adressat ihrer Produkte und zugleich als ihr Auftraggeber von Bedeutung.

Er war als Adressat wichtig, weil es sonst kaum Adressaten in dieser Klasse für ihre Schreibprodukte gab. Ihre Bilder (und später ihre „Geschichten“ bzw. Berichte) zum Wochenende wurden nicht in der Gruppe thematisiert, sie waren in der Regel eine Selbstmitteilung, da die Kinder auch allein – im Rahmen von Stillarbeit bzw. „ohne mit einander zu sprechen“, wie die Lehrerin jeden Montag betonte – malen und schreiben sollten. Gegebenenfalls waren diese Produkte höchstens eine Mitteilung an ihre Lehrerin.

Charly war aber außerdem als Auftraggeber wichtig: Das Wochenende war zu diesem Zeitpunkt lediglich eine individuelle Erfahrung des jeweiligen Kindes dieser Klasse, nur wenige davon hatten außerhalb der Schule Kontakt zueinander (wie z.B. Ali, Erol und Murat, die bereits vor ihrer Einschulung miteinander befreundet waren). In der Schule geht es aber auch um gemeinsam geteilte Erfahrungen, was in diesem Fall die SchulanfängerInnen dieser Klasse dadurch zum Ausdruck gebracht haben, dass sie einen gemeinsamen Schreibauftrag bevorzugten. Das heißt: Die Aufgabe „Buchstaben für Charly zu schreiben“ wurde gruppenweise übernommen. Alle daran beteiligten Kinder saßen jeweils an einem Gruppentisch und haben sich oftmals noch den Roboter Charly dazu geholt, der seinen Auftrag gegenüber der gesamten Gruppe erteilte.

Damit hängt auch meine letzte These zusammen:
Tobias wie auch weitere Kinder dieser Klasse versuchten auf diese Weise die Notwendigkeit zu umgehen, eine „wahre“ Geschichte zu schreiben, ihre persönlichen Wochenenderlebnisse zu thematisieren.

Seine erste Geschichte schrieb Tobias ohne Probleme bzw. sehr zügig und mit Begeisterung als die Lehrerin am Montag, den 4. Februar 2002, die „neue Aufgabe“ Erzählbilder im Morgenkreis vorstellte, die Kinder erneut zum selbstständigen Schreiben aufforderte und diese Aufgabe mit dem Satz „manchmal habt ihr Lust statt vom Wochenende zu erzählen, etwas anderes zu schreiben“ begründete.

In Tobias´ Text geht es um Freundschaft bzw. um Freunde, die gemeinsam etwas unternehmen. Natürlich ist es hier nicht auszuschließen, dass seine Erzählung auf seinen persönlichen Erfahrungen oder auch Wünschen basiert. Aber dies lässt sich von uns LeserInnen nur vermuten.

Bis heute, er schreibt inzwischen verschiedene Texte, hat Tobias keine eindeutig als „persönlich“ zu bezeichnenden Geschichten geschrieben. Er berichtet gerne über Tiere oder beschreibt Bilder wie diese, die so genannten Erzählbilder. So wie andere GeschichtenschreiberInnen (Angehörige einer schulischen und/ oder außerschulischen Schriftkultur) liefert auch Tobias keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen seinen erzählten und seinen privaten Geschichten bzw. Erlebnissen.

Dieses Dilemma – frei zu schreiben ohne zugleich etwas Privates preiszugeben – haben weitere Kinder dieser Klasse ebenfalls gehabt. Als ein charakteristisches Beispiel hierfür kann Elenas „Wochenendgeschichte“ gedeutet werden. Obwohl ich zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes regelmäßig von Elena über verschiedene Konflikte mit ihrem Bruder, der laut ihrer Aussage „alle nur genervt“ hat, informiert wurde, kann ich bis heute nur vermuten, dass es hierbei um ein privates Erlebnis, um eine „wahre“ und nicht um eine „erfundene“ Geschichte geht.

Mit den von ihr verwendeten stilistischen Mitteln („es war ein mal eine Familie…“) sorgt Elena dafür, dass diese schriftlich dokumentierte Episode nicht zwangsläufig als eine autobiografisch fundierte Erzählung gelten muss. Darüber hinaus deutet dieses Schreibprodukt auf ihren ernsthaften Versuch hin, die Aufgabe der Lehrerin einzulösen bzw. eine richtige Geschichte (und nicht bloß einen Bericht) über das Wochenende zu schreiben. Denn eine weitere Frage, deren Beantwortung ich hier bewusst außer Acht lasse, sollte lauten: Inwieweit ist es überhaupt möglich eine „Geschichte“ über das Wochenende zu schreiben?

Das Wochenende scheint also (auch) für Schulanfängerlnnen nicht nur eine außerschulische, sondern ebenso eine private Domäne zu sein. Ob ein Kind darüber schreiben möchte oder nicht, hängt vermutlich auch davon ab, ob und inwieweit dieses Kind etwas von sich preisgeben will. Das allerdings bedeutet, dass die Verbindung des schulischen Lernens mit dem außerschulisch Erlebten eine Entscheidung ist, die den Kindern selbst überlassen werden sollte.

Mein Fazit:
Aus der Perspektive der SchulanfängerInnen dieser Anfangsklasse betrachtet, scheinen nicht nur individuelle, sondern auch gemeinsam geteilte und von den Kindern selbst begründete Schreibziele bzw. Schreibaufträge wichtig zu sein.

Als förderlich dafür sehe ich eine Lerngruppenkultur, in der solche Ziele entstehen und ihre Berechtigung finden können sowie eine interne Schriftkultur, in der bedeutsames, aber nicht zwangsläufig privat bzw. autobiografisch ausgerichtetes, schriftsprachliches Handeln ermöglicht wird.

Eine für potentielle SchreiberInnen sinnvolle Einführung in schriftkulturelle Praktiken, wie in diesem Fall eine Einführung in das Geschichtenschreiben, scheint mir durch „offene“ Schreibanlässe seitens der PädagogInnen (allein) nicht erreichbar zu sein.

Eine konsequente Beteiligung der SchulanfängerInnen an der Gestaltung, Erweiterung und gegebenenfalls Veränderung der an sie adressierten Lernangebote würde nicht nur dem pädagogischen Ideal einer Selbst- und Mitbestimmung von Kindern im Unterricht entsprechen, sondern auch ihre individuellen und kollektiven Lernprozesse unterstützen.

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