Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Interviews mit Lehrerinnen – ‘Fachfremd’ unterrichten

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einem halbstandardisierten Interview wird der Frage nachgegangen, wie eine Grundschullehrerin orthographische Schreibungen begründet. Im gesamten Interview nimmt sie zu mehreren schriftsprachlichen Texten von Schülern Stellung.
Fehlschreibungen werden von der Lehrerin nicht linguistisch begründet, sondern sie argumentiert primär psychologisch, pädagogisch oder methodisch. Sie führt unter anderem an, dass Selbständigkeit und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, mitentscheidend für die Rechtschreibleistung von Grundschülern sei. Darüber hinaus mache ein Kind ’seine Entwicklung‘ durch, eine individuelle, aber auch eine eher generelle, denn manche Regeln seien zu abstrakt für Kinder im Grundschulalter, und könnten deshalb noch nicht verstanden werden. Die (sprachwissenschaftliche) Fundierung einer Regel wird nicht erörtert.
Diese Konstrukte werden in diesem Artikel im Sinne einer Detailanalyse herausgearbeitet.

(…)

Berufsbiographie und Berufspraxis von Frau Braun

Frau Braun, die interviewte Lehrerin, hat von 1974 bis 1977 an einer Pädagogischen Hochschule in Baden-Württemberg das Lehramt für Grund- und Hauptschule studiert. Ihre Fächer waren Mathematik und Sport. 1978 begann Frau Braun ihr Referendariat.
Sie bekommt 1979 ihr erstes Kind und bleibt ein halbes Jahr zuhause. Danach arbeitet sie für ein halbes Jahr als Schwangerschaftsvertretung. Dann folgt das zweite Kind. Dann bleibt sie zwölf Jahre zuhause. Ihre Lehrerinnentätigkeit nimmt sie 1992 wieder auf. In dieser Zeit (1992 bis 2003) wird das dritte Kind geboren.
1994 hat Frau Braun erstmals eine erste Klasse als Klassenlehrerin unterrichtet. Seit dieser Zeit unterrichtet sie in ihren Klassen auch fachfremd Deutsch. Das Fach Deutsch hat sie übernommen, weil sie als Klassenlehrerin möglichst viele Stunden in ihrer Klasse sein wollte. Mittlerweile, so sagt sie, „mache ich es gerne“ – gemeint ist das Unterrichten im Anfangsunterricht Deutsch.
Zum Zeitpunkt des Interviews (2003) hat Frau Braun eine zweite Klasse einer Kollegin übernommen. Sie hat bereits zwei Mal eine erste Klasse unterrichtet und diese bis zum vierten Schuljahr geführt. Sie startet jetzt ihren dritten ‚Durchgang‘. Jedes Mal hat sie mit einer Fibel gearbeitet. Die Arbeit mit dem Sprachbuch impliziert, dass die Lehrerinnen in ihrem Unterricht ‚geübte Diktate’ schreiben. [1] Frau Braun unterrichtet 19 Stunden an der Schule. In der Klasse sind 23 Schülerinnen.

Fehleranalyse eines Schülertextes

Nachdem Frau Braun im ersten Teil des Interviews ihren Deutschunterricht beschrieben hat, lenke ich das Gespräch auf die von Frau Braun mitgebrachten Diktattexte. Es handelt sich um Texte aus ihrer zweiten Klasse. Die Anknüpfungsfrage zur Besprechung eines von ihr mitgebrachten Textes wird offen gestellt.

Frau Braun bezieht sich in ihrer Antwort zunächst auf die Groß- und Kleinschreibung (431). Der Schüler, so Frau Braun, weiß zwar, dass man einige Wörter groß und andere klein schreibt, aber sie sagt auch: Er schreibt „halt kunterbunt groß und klein“ (431). Sie kann bei ihrem Schüler zunächst kein regelgeleitetes Schreiben erkennen. Die Lehrerin revidiert aber schon in der nächsten Äußerung das zuvor Gesagte, der Schüler hat nicht „kunterbunt“ geschrieben, sondern hat eine Regel richtig angewendet: Am Satzanfang schreibt man groß.
Frau Braun kommt dann auf <gefuneden> zu sprechen. In der Äußerung 435 wird, nachdem der Bezug zum konkreten Schüler hergestellt wurde: „da bringt er Buchstaben einfach mit rein“ (435), verallgemeinert: „entweder sie lassen Buchstaben weg oder sie machen einfach noch einen dazu.“ (435, Hervorhebungen, T.E.). Das Personalpronomen wechselt von „er“ zu „sie“. Der Schüler steht also stellvertretend für eine größere Gruppe von Schülerinnen. Schülerinnen, bei denen Frau Braun diese Art von Schreibungen beobachten kann. Die Verallgemeinerung, ausgedrückt durch das Personalpronomen „sie“, legt den Schluss nahe, dass es sich bei diesem Phänomen (Buchstaben einfügen und weglassen) um eines handelt, was bei Schülerinnen häufig anzutreffen ist. Frau Braun bleibt also nicht auf der Ebene des konkreten Kindes, sondern sieht diese Fehler exemplarisch. Darüber hinaus verwendet Frau Braun in demselben Satz die Partikel „einfach“ (schon im Satz zuvor: „bringt er Buchstaben einfach mit rein“). Die Partikel „einfach“ indiziert hier das Selbstverständliche, etwas, was nicht weiter erklärt werden muss oder was man nicht erklären kann.[2] So formuliert sie im Folgesatz, dass sie nicht weiß, „wie ich mir das erklären soll“. Die Kinder „bringen“ „Kreationen“ (443). Die Ursachen für Schreibungen sind also im Schüler zu suchen. Ausgehend von dieser Textstelle will ich das Bild rekonstruieren, das die Lehrerin ‚vom Kind/Schüler‘ im Interviewkontext konstruiert. [3]

Konstrukt ‚Kind‘

Das Kind als ‚black box‘

Nicht alle Handlungen von Kindern sind verstehbar, der Schüler erscheint als eine ‚black box‘:

Das Kind hat gleichsam eine Eigenlogik. Frau Braun greift zwar zunächst auf den Begriff „Talent“ zurück, um die sehr heterogenen Leistungen ihrer Schülerinnen zu erklären. Sie spricht es jedoch mit Vorbehalt aus, indem sie die Partikel „vielleicht“ anfügt. [4] Am Ende der Äußerung bleibt die Frage latent offen, weshalb die Schülerinnen das tun, was sie tun. Es ist für Frau Braun unvorstellbar, was sich „in dem Kopf von dem Kind“ abspielt. In der Zeile 443 spricht Frau Braun von „Kreationen“, die die Schülerinnen bringen. Kreationen sind hier nicht als besonders originelle Schöpfungen einer Person zu verstehen, sondern als rätselhafte, dubiose, nicht erklärbare Schreibungen. Dieses Konstrukt findet sich auch bei Frau Braun wieder, wenn sie über Aufsatzunterricht spricht. Daraus ergeben sich auch eindeutige pädagogische Konsequenzen:

Das Konzept der ‚Reife‘

Trifft Frau Braun auf Rechtschreibfehler in schriftlichen Texten, dann sucht sie Ursachen primär in der Entwicklung des Kindes. Als Beleg dafür dienen eine Textstelle aus der hier besprochenen Textsequenz (491) sowie zwei weitere aus späteren Interviewteilen (698 und 879):

Frau Braun spricht explizit vom „Reifegrad vom Kind“ (698) und von „unreif` (491). Reifung als psychologischer Fachbegriff wird folgendermaßen definiert:

„Als Reifung wird die gengesteuerte Entfaltung der biologischen Strukturen und Funktionen verstanden. […] In der Entwicklungspsychologie werden beobachtete Veränderungen auf Reifung zurückgeführt, die universell in einer Altersperiode und weitgehend ohne Lernen in einem weiteren Sinn auftreten“ (Montada 1998, 50).

Der Begriff „Reifegrad“ erinnert an „Reifestand“:

„In vielen Phasenlehren wurde ungeprüft angenommen, daß […] Erwerbsvoraussetzungen nach einem inneren Bauplan heranreifen und nicht etwa durch Unterricht und Erziehung vermittelt werden können. Dies hatte nicht selten eine pädagogische Passivität zur Folge: Man wartete ab, bis der Reifestand erreicht ist, der erfolgreiches Lernen gewährleistet“ (Montada 1998, 52).

Dieses Konstrukt findet sich auch bei Frau Braun wieder, wenn sie über Aufsatzunterricht spricht. Daraus ergeben sich auch eindeutige pädagogische Konsequenzen:

Frau Braun bezieht sich in dem Interview nicht explizit auf eine Entwicklungstheorie. So bindet sie ihre Ausführungen zum Thema „Rechtschreibregeln“ nicht in ein (kognitives oder anderes) Entwicklungsmodell ein.[5] Der fehlende theoretische Rückbezug ihres Sprechens von ‚Reife‘ lässt offen, welche didaktischen Konsequenzen sie daraus zieht. Aus ihren Äußerungen lässt sich aber ableiten, dass aus ihrer Sicht ein Lernfortschritt dann festzustellen ist, wenn das Kind ‚reifer‘ geworden ist. Frau Braun bietet ihren Schülerinnen im Rechtschreibunterricht eine breite Palette an Übungen an. Das Verstehen von Regeln führt sie auf den ‚Reifegrad‘ der Schülerin zurück. Hier zeigt sich eine Paradoxie: Wenn ‚Reifung‘ hier von Frau Braun im psychologischen Sinne verstanden würde, also als „gengesteuerte Entfaltung“ (vgl. Montada 1998, 50), dann hätten die Übungen jedoch keinen Sinn, denn Reifung geschieht „universell in einer Altersperiode und weitgehend ohne Lernen“ (Montada 1998, 50). Es könnte sein, dass Frau Braun zwar einen Effekt der Übungen annimmt, ihn in dem Interview aber nicht expliziert.
Es ist auch denkbar, dass sie den Begriff ‚Reifung‘ nicht psychologisch verwendet.[6] Oder aber Frau Braun verfolgt mit den Übungen einen anderen Zweck. Andere Interviewpassagen bieten für Letzteres einen Hinweis: Frau Braun geht davon aus, dass Schülerinnen in bestimmte ‚Lerntypen‘ eingeteilt werden können. Im Unterricht müssen folglich für die Schülerinnen die verschiedensten Übungen angeboten werden, so dass sie ihrem ‚Lerntyp‘ entsprechend davon profitieren können.

Frau Braun setzt in ihrem Unterricht Rechtschreibregeln ein. Ihr Nutzen wird von ihr im Interview allerdings problematisiert. Auch hier ist ‚Entwicklung‘ wieder bedeutsam: Entwicklung wird von Frau Braun in einem engen Zusammenhang zu Rechtschreibregeln gesehen.

Regeln generell, und somit auch im System Rechtschreibung, so Frau Braun in 638, sind abstrakt. Für manche Schülerinnen – hier bezieht sie sich wieder auf den Aspekt ‚Entwicklung‘ – seien sie zu abstrakt. Im Interview geht sie nicht darauf ein, ob und wie diese kognitive Entwicklung gefördert werden kann. Es wird auch nicht klar, welche Theorie der kognitiven Entwicklung sie ihren Aussagen zugrunde legt. Sie erörtert auch nicht, dass Regeln verschieden einsichtig oder verstehbar sein können.

Rechtschreibung und ‚Selbständigkeit‘

Im Folgenden geht es um das Wort <Habe>, das der Schüler groß geschrieben hat.

Frau Braun kann zunächst keine Erklärung für die Schreibung finden: „Keine Ahnung“.[7] Sie führt dann im Folgesatz ein anderes Thema ein, das ihr hier wichtig zu sein scheint: den Faktor Übung. Korrekte Rechtschreibung hat für Frau Braun mit Übung zu tun. Übung sei notwendig, verbessere die Rechtschreibung. Es wird nicht deutlich, ob beim Schüler die Übung vergebens war, oder ob er früher schlechter war und sich jetzt durch das Üben verbessert hat. Sie erklärt sich die Schreibung stattdessen so: „Das kam einfach auch ‚Haja, schreibe ich es halt lieber mal groß. Ich weiß, dass man irgendwann mal groß schreiben muss.’ (449). Frau Braun nimmt an, dass der Schüler nicht regelgeleitet handelt, oder aber, dass er die Regeln zwar kennt, aber nicht in der Lage ist, sie anzuwenden. Bei dieser Äußerung fällt paraverbal auf, dass Frau Braun diese imitierte vermeintliche Aussage eines Schülers melodisch gleich artikuliert wie eine spätere Äußerung (ebenfalls als imitierte vermeintliche Aussage eines Schülers). Es handelt sich um die folgende Textstelle:


Ich werte diese gleichartige Modulierung (449 und 495) – neben der wörtlichen (verbalen) Markierung „Haja“ – als Hinweis darauf, dass Frau Braun den Schülern in beiden Fällen eine ähnliche Haltung/Einstellung unterstellt. Diese Haltung ist Folge, das expliziert Frau Braun in 497, der Erziehung der Eltern. Verantwortung übernehmen kann nur, wer entsprechend erzogen wurde: „Aber das können sie natürlich nur, wenn sie von vornherein so erzogen sind, gell, dass sie halt, äh, dass sie halt auf Selbständigkeit hin, ja, erzogen werden, finde ich“ (499). Die Lehrerin stellt einen kausalen Zusammenhang her zwischen einer Arbeitshaltung (Unselbständigkeit) und den Rechtschreibleistungen des Schülers. Die Unselbständigkeit als Merkmal ist relativ stabil und steuert nach Ansicht von Frau Braun auch die Leistungen in der Rechtschreibung. Dieser Blick von Frau Braun auf die Rechtschreibleistungen ist Folge ihrer Annahme, dass die Schülerinnen nicht regelgeleitet rechtschreiben. Schließlich muss es Ursachen für die Schreibungen geben. Regelgeleitetes Schreiben setzt Denkprozesse voraus und wäre nicht mit dem Merkmal Selbständigkeit zu erklären. Vielmehr betrachtet Frau Braun Selbständigkeit im Zusammenhang mit dem Faktor Übung. Die eingesetzten Übungsformen zielen allerdings auf das Speichern der Wortbilder ab.[8]
Das Thema Selbständigkeit steht für Frau Braun im Zusammenhang mit dem Reifebegriff: Selbständigkeit sei bei der Überarbeitung eines Textes wichtig. Dazu die folgenden Interviewpassagen. Die Lehrerin spricht über Fehler <Berke> (479). Nachdem sie sich zum Fehler (<k> statt mit <g>) äußert, kommt sie dann auf die Groß- und Kleinschreibung zu sprechen (491ff).


Sie nennt in der Textpassage eingangs die Regel, die sie im Unterricht vermittelt: „Namenwörter schreibt man groß. Und ein Namenwort erkennt man, indem man einen Begleiter davor setzt“ (491). Dass dieser Fehlertyp im Text vorkommt, erklärt sich Frau Braun dadurch, dass sie am orthographischen Thema Groß- und Kleinschreibung zwar „jetzt intensiv dran“ sind, der Bereich aber noch nicht abschließend behandelt ist. Deshalb geht sie davon aus, dass es von einigen Schülern noch nicht beherrscht wird.[9] Sie führt dann einen Grund an, weshalb der Schüler, dessen Text hier besprochen wird, die vermittelte Regel noch nicht gelernt hat: „,also, das Kind […] ist fü/ in meinen Augen auch noch sehr, sehr, äh/ unreif irgendwie empfinde ich ihn“(491). Diesen Grund verallgemeinert sie dann im weiteren Gespräch: „Dass Kinder einfach auch“ (493, Hervorhebung, T.E.).
„Unreif sein“ drückt sich in „unselbständig sein“ aus. Und das ist ein für die Lehrerin wichtiges Thema, denn es wird von ihr in das Gespräch eingeführt. Sie bezieht es auf den Kontext Rechtschreibung. Es wird deutlich, dass sich Frau Braun mit dem Erziehungsziel ‚Selbständigkeit‘ stark identifiziert. Sie sagt „das ist meine eigene Erziehungsmethode immer gewesen“ (497). Sie reflektiert an dieser Stelle auf ihr eigenes Erziehungshandeln, welches sie zugleich positiv bewertet. Wie bringt Frau Braun nun Selbständigkeit mit Rechtschreibung in Zusammenhang? Wenn die Schülerinnen nicht selbständig erzogen sind, dann kontrollieren sie zum Beispiel nicht ihren Text auf Rechtschreibfehler (495). Das hat zur Folge, dass Fehler nicht erkannt werden. Auch im Kontext Hausaufgaben spielt Selbständigkeit für Frau Braun eine Rolle. Die unselbständigen Kinder notieren ihre Hausaufgaben nicht eigenständig. Demzufolge wissen sie nicht, was sie zuhause zu tun haben. Dadurch fehlt ihnen die Übung. Und, wie oben bereits angeführt, ein Mangel an Übung zieht schlechte Rechtschreibleistungen nach sich, so der von Frau Braun vertretene Zusammenhang.

Fazit

Man kann an der letztgenannten Interviewsequenz (491-501) erkennen, in welcher Form Frau Braun die Fehler analysiert. Die fachliche Diagnose im Bereich Rechtschreibung ist bei Frau Braun ausschließlich fundiert in ihren persönlichen Einstellungen über Erziehungsmethoden. Das kann es aber nur, weil der Lerngegenstand, die Rechtschreibung, von Frau Braun in einer bestimmten Art und Weise beschrieben wird: Es sei ein Lerngegenstand mit oft abstrakten Regeln, man erwerbe die Rechtschreibung durch viel Üben. Und der Erfolg der Übungen hänge ursächlich mit Selbständigkeit zusammen. Wenn diese Auffassung zugrunde liegt, dann spielt das Arbeitsverhalten einer Schülerin eine wesentliche Rolle. Und bei Selbständigkeit – so wie es Frau Braun thematisiert – handelt es sich um ein solches Arbeitsverhalten. Auf die kognitiven Anforderungen, die Rechtschreibung zu erwerben, geht sie hier nicht ein. Stattdessen erweitert sie den Begründungsrahmen, indem sie die Kompetenz, selbständig zu sein, für das Schulleben insgesamt als bedeutsam einstuft: „dass sie jetzt die Verantwortung für ihr Schulleben übernehmen müssen“ (497).
In 499 imitiert Frau Braun Äußerungen unselbständiger Schülerinnen:

„’Haja, entweder ich brauche es gar nicht aufschreiben, oder ich schreibe es jetzt halt mal auf, aber ich habe es eigentlich nicht richtig verstanden, was man machen soll“ (499).

Wir haben hier also nochmal eine Äußerung, die mit zuvor Gesagtem im Zusammenhang gesehen werden muss. Dreimal tauchen auf verbaler und paraverbaler Ebene Parallelen auf: einmal die Verwendung des Wortes „Haja“ und zum anderen die ähnliche Modulierung der Äußerung:

‚Haja, schreibe ich es halt lieber mal groß. Ich weiß, dass man irgendwann mal groß schreiben muss‘ (449).

‚Haja, nein, das hat Mama jetzt nicht gewusst‘ (d95).

‚Haja, entweder ich brauche es gar nicht aufschreiben, oder ich schreibe es jetzt halt mal auf; aber ich habe es eigentlich nicht richtig verstanden, was man machen soll. Das wird Mama schon/ schon, die weiß es dann schon“ (499).

Das Thema Selbständigkeit wird von Frau Braun im Interview so weitergeführt, dass sie detaillierter auf den Aspekt Hausaufgaben zu sprechen kommt (503ff). Es veranschaulicht nochmals, welche Konsequenzen eine selbständige/unselbständige Haltung in diesem Bereich haben können. Hausaufgaben haben für sie auch die Funktion, Selbständigkeit einzuüben:


Es ist deutlich geworden, dass Frau Braun Zusammenhänge zwischen der Selbständigkeit (und damit auch der Reife) einer Schülerin und deren Rechtschreibleistungen sieht. Eine wichtige Frage ist dabei, ob es im Interview Hinweise darauf gibt, wie stark Frau Braun diese Beziehung einschätzt. Sie sagt dazu: „Und ich denke auch, dass das auch mit ein kleiner `feil mitbewirkt, ne“ (501). Diese Aussage lässt darauf schließen, dass für Frau Braun der Faktor Selbständigkeit einer unter vielen ist. Sie sagt aber auch das Folgende:

Mit ihrer Äußerung in 515 stellt Frau Braun klar, wie sie das von ihr Gesagte einordnet: was ihr wichtig ist, und auf welchen Bereich sich das auswirkt. Da sich Frau Braun zunächst auf den „schulischen Bereich“ (515) bezieht, frage ich an dieser Stelle (516) nochmal nach, um den Gegenstand des Interviews (die Rechtschreibung) in den Blick zu bekommen. Die Bedeutung der Selbständigkeit wird auch für die Rechtschreibung gesehen (517). Und ich denke, dass er für Frau Braun wichtiger ist, als dass nur „ein kleiner Teil mitbewirkt“ (501) wird. Ein Grund für diese Schlussfolgerung: Frau Braun kommt in 491 von sich aus auf dieses Thema zu sprechen. Die Argumentation in der Äußerung in 491 sieht folgendermaßen aus:

  • Es wird eine Regel zur Großschreibung von Namenwörter genannt: „Namenwörter schreibt man groß. Und ein Namenwort erkennt man, indem man einen Begleiter davor setzt, <der>, <die>, <das>.“
  • Eine generalisierte Annahme wird geäußert: Einige Kinder verstehen diese Regel nicht: „Aber ich denke, für Kinder, die halt noch nicht so weit sind“.
  • Der konkrete Schüler, dessen Text besprochen wird, ist ein Beispiel für Kinder, die nicht verstehen: „Also, das Kind […] zum Beispiel ist fü/ in meinen Augen auch noch sehr, sehr, äh/ unreif irgendwie empfinde ich ihn.“

Das Verstehen einer Regel ist für sie also auch (oder vornehmlich) eine Frage der sozialen Entwicklung (wenn man Selbständigkeit bzw. Verantwortung übernehmen als eine soziale Fähigkeit betrachtet). Daraus folgende didaktische Konsequenzen werden in diesem Zusammenhang von der Lehrerin nicht thematisiert. Sie problematisiert auch nicht den Nutzen von Regeln (zum Beispiel die Artikelprobe bei der Groß- und Kleinschreibung).

 

Fußnoten:

(1) Bei ‚geübten Diktaten‘ wird das im Diktat vorkommende Wortmaterial in einigen Unterrichtsstunden durch verschiedene Übungsformen eintrainiert. Übungsformen sind z.B. ‚Schleichdiktate‘, ’Partnerdiktate’, ‚Dosendiktate‘. Gemeinsam ist diesen Übungsformen, dass das Wortmaterial gedächtnismäßig gelernt werden soll.

(2) „einfach“ als Abtönungspartikel in so genannten Assertionssätzen wird die folgende Bedeutung zugeschrieben: „Einfach stellt einen Sachverhalt als grundlegende, oft triviale Begründung oder Schlussfolgerung […] dar.“ (Weydt / Hentschel 1983, 11).

(3) Ich greife nachfolgend auch auf andere Textstellen im Interview zurück, wenn dies die Interpretation einer Passage zusätzlich stützt. Die Zählung in der linken Spalte der Transkriptauszüge gibt die fortlaufende Zählung des Interviewtranskriptes wieder.

(4) Nach Weinrich wird mit „vielleicht“ (als einem Geltungs-Adverb) der (geringe) Grad der Gewissheit, die ein Sprecher über die Geltung einer Feststellung hat, ausgedrückt (Weinrich 1993, 599).

(5) Eine implizite Reifungstheorie der Lehrerin zu rekonstruieren ist Aufgabe für eine eingehendere Analyse der Daten.

(6) Da Frau Braun im gesamten Interview an keiner Stelle auf wissenschaftliche Theorien Bezug nimmt, ist eine Verwendung des Begriffs ‚Reifung‘ als Terminus der Psychologie nicht anzunehmen.

(7) Oder sie verwendet es als Floskel. Dann wäre es ein Hinweis auf das unter ‚Fachfremd’“ unterrichten“, S. 220ff.

(8) Im Grunde genommen widerspricht ein solches Üben von Wortbildern den Zielen Selbständigkeit und Autonomie, da das Wissen mir Regeln und die aufzubauende Sicherheit in deren Anwendung einen autonomen Umgang mit Schrift fördert.

(9) Weitergedacht bedeutet das: alles, was im Unterricht behandelt wurde, kann beurteilt werden, denn es wird angenommen und gefordert, dass es nach der unterrichtlichen Vermittlung sicher beherrscht wird bzw. beherrschbar sein kann. Aufgrund einer solchen Annahme kann das System Schule seine Selektionsfunktion erfüllen.

Literaturangaben:

Montada, Leo: Fragen, Konzepte, Perspektiven. In: Oerter,Rolf/Montada, Leo (Hrsg.) Entwicklungspsychologie. 4. Auflage. Weinheim 1998.

Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1993.

Weydt, Harald/Hentschel, Elke: Kleines Abtönungswörterbuch. In: Weydt, Harald (hrsg.): Partikeln und Interaktion. Tübingen 1983. S. 3-24.

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