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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der „nachgezogene Sekundarstufenschock“ einer bis dahin harmonischen Schulkarriere – Die Fallstudie Legolas

Legolas wurde als zentraler Eckfahl nach den ersten beiden Interviews ausgewählt, weil er für eine unproblematische Schulkarriere und einen positiv verlaufenden Übergang an ein städtisches Gymnasium steht. Er hat keine Probleme mit den Leistungen, den Gleichaltrigen und auch zu seinen Eltern bestehen keine Spannungen aufgrund der schulischen Situation. In seinem Orientierungsrahmen konnten wir ein Gleichgewicht von Peer- und schulischer Leistungsorientierung rekonstruieren. Legolas stellt damit den exemplarischen Fall eines Schülers dar, der bis zur 5. Klasse und nach dem Übergang in die Sekundarstufe I ein harmonisches Passungsverhältnis von Familie, Schule und Peers aufweist. Im 3. Interview in Klasse 7 wird jedoch deutlich, dass er insbesondere mit den erhöhten Leistungsanforderungen in der Sekundarstufe I Schwierigkeiten bekommt, die zu Transformationsprozessen in seinem Orientierungsrahmen und zu einer Umdeutung des Übergangs führen. Diese Konstellation im Fall Legolas fassen wir in der Figur des „nachgezogenen Sekundarstufenschocks“.

Die „passförmige“ und unproblematische Schulkarriere in der Grundschule

Die Grundschulzeit von Legolas ist gekennzeichnet durch kontinuierlich gute Leistungen und insgesamt einen positiven Bezug zu Schule. Eine der häufigsten Einschätzungen und Bilanzierungen schulischer Erlebnisse ist die Aussage „richtig cool“. Diese positive Deutung der Grundschule ist primär an die Erfahrungen mit Gleichaltrigen geknüpft. Neben dem Treffen von Freunden aus dem Kindergarten betont Legolas das Schließen neuer Freundschaften und die gemeinsamen Praktiken des Spielens. Damit ist als ein zentraler Aspekt seines Orientierungsrahmens die Bedeutung der Einbettung in ein bekanntes soziales Umfeld auszumachen.

L: und ich habe=schnell freunde gefunden und dann haben wir auch jeden tag immer was zusammen gespielt die lehrer waren ganz nett (glocken- schlag) und so und es war , irgendwie cool einfach //aha// (4sec.) (glockenschlag ende)

Den Peers kommt innerhalb des Orientierungsrahmens von Legolas ein hoher Stellenwert zu. Deutlich werden die Enaktierungspotentiale, aktiv Freundschaften zu schließen und sich rasch zu integrieren. Mit den Peers teilt er zentrale, informelle Bildungsräume.

Schule spielt im Leben von Legolas aber auch als formaler Bildungsraum eine besondere Rolle, in dem er kognitive Entwicklungsfortschritte erzielt. Sie ist für Legolas ein Ort, an dem er Lernen kann, um sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen: „na schule bedeutet eigentlich so für mich dass es , das , ähm wenn man in die schule reingeht und wieder raus kommt also wenn man reingeht ist man noch nicht so klug und wenn man rausgeht ist man klug“. Legolas hat Spaß an schulischen Vermittlungsformen und Unterrichtsinhalten. So beschreibt er zum Beispiel seine Erfahrung des Lesenlernens folgendermaßen: „immer ich hab mir- so schriften an den wänden die immer hingen was da bloß stehen kann und irgendwann konnte ich die lesen (betont) //aha// und das fand ich dann durch die Schule richtig cool“. Und auch in der Beschreibung des Empfindens beim ersten Zeugnis dokumentiert sich das positive Erleben, durch die neu erlernte Kompetenz des Lesens sich einen neuen Zugang zur Welt erschließen zu können und darüber hinaus umfassend positiv von den Lehrern beurteilt zu werden:

I: (lachen) okay , ähm kannst du dich mal so daran erinnern wie dass so war als du dein erstes ‚zeugnis’ (betont) , bekommen hast L: naa das fand ich schön weil ähm ich konnt ja zuerst nicht lesen und was sie darauf und als ich dass dann das erste zeugnis gesehen hab dann konnt ich lesen was sie all- was da alles stand und da stand fast nur positives //aha// , ich glaub da stand nix- nix nenegatives . ja und dass war ganz irgendwie gut (…) das [2. Zeugnis] fand ich dann gut weil da war ich auch wieder da warn glaub ich nur zwei zweien drauf und dass fand ich irgendwie total ‚gut’ (betont) irgendwie so dass ich in den zwei jahren schon so viel gelernt hab dass ich da so gut note hab //aha//.

Das Zeugnis dokumentiert ihm seinen individuellen Entwicklungsfortschritt und es wird Legolas selbst die qualitative Fähigkeitstransformation und die Fremdbestätigung über diese Entwicklung nachvollziehbar. Er kann sich mit dem schulischen Beurteilungssystem identifizieren und die Thematisierung verweist darauf, dass er die Situation positiv wahrnimmt. Dies zeigt die Bedeutung von Noten und Zeugnissen im Orientierungsrahmen und verdeutlicht die schulische Leistungsorientierung von Legolas. Auf seinem letzten Zeugnis hatte er außer drei Zweien nur Einsen. In Mathe fühlt er sich geradezu unterfordert: „die soll mal manchmal soen bisschen vielleicht was machen was nen bisschen schwieriger schon ist weil dass manchmal kann ich dass alles schon und das wird so n bisschen langweilig“. Jedoch besitzen seine Leistungsorientierung und die sehr guten Leistungen auch Etikettierungspotentiale eines Strebers im Rahmen der Gleichaltrigen, und daher grenzt sich Legolas explizit von dem Streberbild ab: „und ich bin ja auch kein ‚streber’ (langgezogen)“.

Er verwendet das Zeugnis nicht, wie andere Fälle der Studie, um sich von anderen zu distinguieren und die Differenz zwischen Unter- und Überlegenden zu verdeutlichen. Vielmehr bringt Legolas seine guten schulischen Leistungen und ihre Bedeutsamkeit mit seiner sozialen Peerorientierung in Einklang. Er begründet dabei seine guten schulischen Leistungen, um nicht als Streber zu gelten, mit Begabung: „ich ‚übe’ (betont) eigentlich fast nur für arbeiten so ne viertel stunde oder so //aha// und da trotzdem schreibe ich da gute noten //ah klasse//“. Auf die Frage, warum er gute Noten hat, wird jedoch ein zurückgenommener Begabungsentwurf deutlich, bei dem Legolas die guten Leistungen mit der Aufmerksamkeit im Unterricht begründet. Neben der Bedeutung der Schule als wichtigen Bildungsort der sozial-kognitiven Entwicklung, zeigt sich in den Erzählungen von Legolas, dass er die Schule auch als Raum des Entwicklungsstatusaufstieges thematisiert. Bereits in einer Aussage zu den Zeugnissen wird dies deutlich: „ich fand das ohest cool von der lehrerin und ner schule dein erstes weil so was gabs im kindergarten nicht wenn man nen jahr rum hatte oder so //aha//“. Der Kindergarten rückt damit als alte Statuspassage in seinen negativen Horizont. Die Schule, welche aus seiner Sicht für den „Ernst des Lebens“ steht, ermöglicht seinen Statusaufstieg und wird von ihm somit in den positiven Horizont gestellt.

L: also am anfang der grundschulzeit (stimme gehoben) na äh da wurde ich eingeschult (betont) und ähm das war halt ganz äh schön toll endlich mal ausem kindergarten raus und äh in ner richtigen schule zu sein und und äh andere kinder wieder so zu treffen , war eigentlich ganz gut

Durch den Besuch der Grundschule gehört Legolas nicht mehr zu den Kleinen, sondern ihm wird die Anerkennung eines Grundschulkindes entgegengebracht. Diese Orientierung auf Schule als Statutsaufwertung wird ebenfalls in anderen Sequenzen deutlich „also hier auf der schule da als ich erste klasse warn die viert klässler ähm das war irgendwie cool dass man da so große (betont) jungs (langgesprochen) hatte“. Legolas hebt die Relevanz älterer Jungen in der Grundschule hervor. Dem Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule steht Legolas demnach äußerst positiv gegenüber und der Übergang wird als Statusaufstieg thematisiert. Er verbürgt eine Haltung, mit der es ihm leicht fällt, sich von Altem zu lösen und Veränderungen freudig und offen zu begrüßen. Die miteinander vermittelten schul-, status- und peerbezogenen Haltungen von Legolas werden auch in der Darstellung des Übergangs in die Sekundarstufe I bestätigt. Legolas sieht auch diesem Übergang als Statusgewinn positiv entgegen und freut sich auf den Wechsel „ähm endlich aufem ‚gymnasium zu sein’ (langgezogen) oder so aus der grundschule raus , ja das wird cool //mmh// glaube ich“. Als Beleg für den gymnasialen Übergang dient ihm dabei die Laufbahnempfehlung der Lehrerin.

L: na dass gabs zur letzten zeugnisausgabe äh da gabs immer so empfehlungen wo ich hingehen soll und ähm dass fand ich dann auch gut als ähm hier als unsere klassen lehrerin endlich gesagt hat äh du ich empfehle dir das du aufs gy- aufs gymanasium gehen kannst dass fand ich dann auch ganz gut //mmh//.

Die Entwicklungsprognosen der Schule bestätigen ihm in ihrer professionellen Deutungskompetenz eine Passförmigkeit zum Gymnasium. Zum Ausdruck kommt in dieser Darstellung, dass der Besuch des Gymnasiums keine vollkommene Selbstverständlichkeit für Legolas darstellt und er auf das Einverständnis der Lehrer angewiesen ist. Der Schulwechsel wird so von der Institution fremd initiiert und Legolas fügt sich dieser institutionellen Struktur: „weil hier gehts ja nur bis zur vierten klasse und da muss ich dann und da geh icjetzt aufs b.-schule dass ist in t. –stadteil dass äh ist da geh ich in die fünfte klasse“. Die Sequenz verweist folglich auf eine fehlende Auseinandersetzung bei der Wahl der Schule. Der Wechsel von der Grundschule auf die B.-Schule wird als logischer und unausweichlicher Prozess dargestellt. Eine andere Schule oder Schulform als die B.-Schule steht nicht zur Diskussion. Trotz dieser passiven Haltung zur Übergangsentscheidung kann er die neue Schule positiv antizipieren und rückt die B-Schule in den positiven Gegenhorizont.

L: na , naja manchmal so zum beispiel ‚die ganzen freunde’ (betont) die ich manchmal nur im kindergarten getroffen fin- treff ich plötzlich wieder alle und dass ist irgend wie schön //mmh// , und deswegen hab ich eigentlich auch nen ganz gutes gefühl . dort zu sein (…) und ich kenne schon fast alle aus meiner klasse weil als wir ähm so , wie tag der offenen tür hatten ‚ja’ (fragend) //mmh// da kamen so fast alle die ich kannte (lachen) aufs b-schule das da freu ich mich schon irgendwie drauf //äh//

In der Übergangssequenz wird insbesondere deutlich, dass seine Peerorientierung und das Wissen, vertraute Gleichaltrige wieder zu treffen, sowie sein Vertrauen auf die Richtigkeit des schulischen Urteils, ihm Sicherheit im Hinblick auf die neue Schule verleihen. Ein Großteil seiner Freude auf die B.-Schule bezieht sich zudem auf außerschulische Aktivitätsmöglichkeiten wie die Größe des Schulhofs, die Nähe zu einem Supermarkt, Badesee und Fußballplatz. Auch vor steigenden Anforderungen hat er keine Befürchtungen. Er vertraut auf sich, weiterhin gute Leistungen zu erbringen: „na manchmal vielleicht weil gymnasium (betont) dass soll ja so nen bis- das soll ja sonen bisschen schwer sein, aber , na mit ner irgendwie dann ich glaub aber ich krieg- dann ich hab da eigentlich nicht sone angst //mmh// ich freu mich , darauf“. Seinen Eltern scheint bezüglich des Schulwechsels nicht wie in den anderen Fällen eine beeinflussende und zum Teil bestimmende Rolle zuzukommen.

I: und deine eltern, wie finden die das so L.: äh die findens auch ganz gut (…) und ähm meine mama findet auch gut äh dass das gymnasium das b-schule hier so nah dran ist //mmh//.. ja (lachen)..

Seine Mutter wird von ihm „nur“ mit einem pragmatischen Argument der Nähe des Gymnasiums in den Prozess des Schulwechsels eingeführt. Und auch in der weiteren Thematisierung schreibt Legolas seinen Eltern keinen Stellenwert für den Übergangsprozess zu. Anhand der Übergangspassage wird demnach das Enaktierungspotential von Legolas deutlich, den institutionellen Übergang so zu gestalten, dass bestehende Unsicherheiten in Gewissheiten überführt werden.

Der gelungene Wechsel an das Gymnasium und die Antizipation eines „aufgeschobenen Übergangs“ – Ergebnisse des Ankommens an der B-Schule

Im zweiten Interview zu Beginn der 5. Klasse bezieht sich Legolas positiv auf seinen Übergang an das B.-Gymnasium und bilanziert die ersten Monate an der neuen Schule als „richtig cool“. Da er auf dem Gymnasium die Balance von schulischer Leistungsorientierung und peerbezogenen Haltungen fortsetzen kann und darüber hinaus für ihn relevante Statusgewinne erzielt, ist er im positiven Gegenhorizont seines schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmens angekommen. Er passt sich unproblematisch an die neuen schulischen Bedingungen an und kann die relevanten Dimensionen seines Orientierungsrahmens (Peers, Leistungen und Statusgewinne) positiv wahrnehmen und deuten. Beispielsweise hat er schon sehr früh Freunde – auch in höheren Klassen – gefunden und die neuen Fächer bereiten ihm Freude. In den Erzählungen zu den Ankunftserfahrungen wird so deutlich, dass er über Handlungspotentiale verfügt, alte Freundschaften wieder herzustellen, neue Freundschaften zu schließen und auch die schulischen Anforderungen umzusetzen. Die positive Bezugnahme auf das Gymnasium ist demnach in erster Linie an Legolas Integration in ein umfassend bekanntes Peernetzwerk gebunden:

L: und zum beispiel .. ((find ich)) gut das hier . ‚der kenn ich fast jeden’ (stockend) weil ich ‚sch- spiel’ (stockend) oft . ähm .. fussball und da , s=seh ich die schon alle und . //aha// ganz viele komm auch aus meim haus , die kenn ich schon davor und so das- . ((kurzes einatmen)) das is cool da hat man so schon . übelst viele freunde und kennt ma richtig viele .. //hahaa// ..

Deutlich werden die bereits bekannten positiven und negativen Gegenhorizonte im Bezug auf den Schulwechsel: zum einen die umfassende Integration, jeden zu kennen und von Freunden in der Schule umgeben zu sein und zum anderen das implizite Gegenteil dazu, nichts über seinen Gegenüber zu wissen und in problematischen Anerkennungsbeziehungen zu stehen. Diese zum Teil bekannten Peernetzwerke auch zu älteren Schülern stellen dann für ihn auch eine Ressource bei einem typischen Übergangsproblem dar, welches durch die Unterstützung jedoch schnell kompensiert werden kann:

L: fragt man zum beispiel manchmal so , lehrer . also wissen sie wo der raum is da müssäen wir selbser=müssen wir selber suchen , und da find ich’s deswegen hab ich’s ja gut weil ich schon so viele kenne also . flori der is jetzt in der sechsten , den . irgend wie immer , wenn wir in nen andern raum umzieh’n laufen wir immer fast aneinander vorbei //((lachen))// und da konnt ich den immer am anfang , fragen , so dadada und der hat gesagt so da links rechts und dann //häh// biste da . das fand ich cool irgend wie deswegen hat ich nich so viel dann sind immer ganz viele mir immer hinterher gegang

Hierin dokumentiert sich erneut Legolas Orientierung an Peers und es zeigt sich die Relevanz von Peerkapital und die Bedeutsamkeit der Anerkennung von Peers im sozialen Feld der Schulklasse. Im Kontext der Gleichaltrigen wird auch die schon rekonstruierte Orientierung am Statusgewinn, Mitglied der fünften Klasse des Gymnasiums zu sein, bestätigt.

L: das , fand ich richtig cool und ähm .. das is da so ähm , da kann man’s immer sagen ne , ich bin ja schon auf dem gymnasium ((lautes rauschen)) ‚und nich mehr auf der grundschule’ (rauschen über der aufnahme) ‚und bin fünfte klasse kann man da ma so ne höhere klasse sagen’ (schnell, lachend) . ((lachen)) //lachen// ‚dass man jetzt’ (lachend) auf dem gymnasium is .. ((schlucken))

Statusgewinne an dem Gymnasium werden damit vorrangig auf der Peerebene verortet. Legolas fühlt sich jetzt dem Peerzusammenhang des Gymnasiums zugehörig. Diese markieren seinen Statusaufstieg nach außen. Konkretisieren lässt sich Legolas Statusorientierung dahingehend, dass es sich hierbei tendenziell um eine Orientierung an dem stetigen Aufstieg in die nächst höheren Klassen handelt, also eine schulische Differenzierung nach Lebensaltern erfolgt. Damit wendet Legolas ein weiteres Übergangsproblem positiv, weil er sich nicht den Kleinen, sondern als Fünftklässer bereits den Großen zugehörig fühlt. Auch in Bezug auf die neuen Leistungsanforderungen in den neuen Fächer (z.B. Geographie) erfüllt sich Legolas’ positive Antizipation:

L: und ich hab mich auch . ‚ wo ich mich schon ganz dolle drauf , gefreut hab- auf die neuen fächere zum beispiel geographie is einer meiner lieblingsfächer dass hat’n mir nämlich grade’ (schnell monoton) //hmhm// … ((eintamen))

Die neuen inhaltlichen Anforderungen entsprechen seinen Neigungen und Legolas ist ein Schüler, der diese problemlos meistert. Dementsprechend wird die neue Schule auch im Hinblick auf diese Veränderungsdimension im positiven Gegenhorizont positioniert. In der Darstellung der Leistungspassage kann sich Legolas im Vergleich zur Erweiterung des Peernetzwerkes und der Statusgewinne jedoch nicht so positiv auf die neue Schule beziehen und ambivalente Haltungen kommen zum Ausdruck. Als einen tendenziell negativen Aspekt führt Legolas folglich die Tatsache an, dass neue Fächer mehr Tests und somit auch mehr Noten bedeuten. Die erhöhte Stundenzahl und die erhöhten Leistungsanforderungen rücken in einen negativen Gegenhorizont:

L: und .. ja soll … //((husten))// manchmal , ähm .. so .. na was soll ich noch so dazu sagen ähm … bloß dass man da so , ähm , mehr , also wenn man da neue fächer hat dass man da auch viel mehr arbeiten ‚schreiben’ (stockend) muss und öfter , ne note kriegt .. ((eintamen)) und dass die schule länger is ‚als sonst’ (betont) . also dass jeden tag sechs stunden is wir hatten in der grundschule oft nur fünf .. ((eintamen)) . oah …

Damit ist diese Passage ein Beleg dafür, dass die Anforderungen an dem Gymnasium leicht gestiegen sind und nicht mehr ganz auf seine schulische Leistungsorientierung passen. Legolas thematisiert zwar damit, dass sich die Leistungsanforderungen erhöht haben, aber er kann diese Erhöhung (noch) problemlos meistern:

L: mh .. ich find nur so ähm .. in ner grundsch- also … ‚jaa’ (gedehnt) also , die fordern schon ziemlich viel ich find mathe fordern so aber das find ich nich so schlimm . bloß das man da , schreibt man , halt oft . ne kurzkontrolle ..

In der Sequenz dokumentiert sich, dass Legolas die Steigerung mit trägt, aber auch bearbeitet („nich so schlimm“). Seine Positionierung zu den Leistungsanforderungen ist somit im 2. Interview indifferent und uneindeutig: Einerseits begrüßt und legitimiert er sie, anderseits bezieht er sich negativ auf die sich häufenden Selektionssituationen. Diese Unsicherheiten bezüglich der Leistungsanforderungen an der neuen Schule bearbeitet Legolas auch in einem Modell erwartbarer und erhöhter Leistungsanforderungen in den höheren Klassen:

L: ähm .. das .. des erste jahr also , die fünfte klasse dass das erstmal so . ähm , richtig so die schule ((klopfen)) richtig ma zu kennen dass man dann , das is dann bestimmt in der sechsten klasse so’n kleiner sprung höher . so richtig n bisschen viel höher und das man das auch richtig schwer . schwieriger wird , so vielmehr //hmhm// . und nich so aber ich glaub das is hier mehr so kennlern und so weil man schon so alles weiß und so . deswegen (4)

Im Moment entspricht er zwar mühelos dem Gymnasialniveau, aber gesteigerte Leistungsanforderungen und damit einhergehende Transformationsprobleme sind nach seiner Theorie noch zu erwarten. Offen bleibt für Legolas, ob er ein höheres Niveau bearbeiten kann. Die Möglichkeit des Scheiterns scheint er bereits zu antizipieren. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Ebene, in Schule Neues zu lernen, zwar nach wie vor im positiven Gegenhorizont liegt, dagegen die häufigen schulischen Bewertungs- und Selektionssituationen eher im negativen Gegenhorizont verortet sind. Des Weiteren kann seine uneindeutige Positionierung darauf hinweisen, dass er sich selbst und sein Zurechtkommen mit den steigenden Leistungsanforderungen noch nicht einzuschätzen vermag. Was er aber festhält ist ein Unterschied zwischen Grundschule und Gymnasium:

L.: und ähm was ich zum beispiel .. da ähm . hier kann man . nich so oft abkürzen in der grundschule durften wir das immer nich so ja=hier fordern sie immer gleich so heraus das man . ((reisver- schlussgeräusch)) das , ganz ausführlich schreiben muss und alles , und so bloß in bio da dürfen wir mit- , in stichpunkten schreiben . und in deutsch dürfen wir manchmal abkürzen aber in den andern fächern .. dürfen wir ganz selten abkürzen (6)

Hierin wird deutlich, dass in Legolas individuellen Orientierungsrahmen den schulischen Anforderungen mit so wenig Einsatz wie möglich nachzukommen ist. Zugleich begrüßt er aber die erhöhten Anforderungen an der weiterführenden Schule, da sie ihm die Qualifizierungsfunktion einer höheren Schule, die zum Erwerb von höheren Wissen für das Berufsleben führt, verdeutlicht: „also hier ger- ähm . bring die immer eim richtig weiß was ma , später so richtig braucht ähm , für jeden job das braucht man für jeden job irgendwie muss man das wissen //aha// .. und das find ich auch cool“. Folglich kann Legolas zum Interviewzeitpunkt sich die Gewinne ausmalen, die auf ihn warten, zugleich antizipiert er jedoch auch die Risiken des Versagens. Legolas’ ambivalente Haltung bezüglich der neuen schulischen Leistungsanforderungen kann als „aufgeschobener Übergang“ gefasst werden.

Das harmonische Passungsverhältnis im Fall Legolas – Ein Zwischenfazit

Die Interpretationen zu den Interviews am Ende der 4. und zu Beginn der 5. Klasse machen einen Orientierungsrahmen von Legolas deutlich, der durch eine harmonische Balance von Schule, Peers und Familie sowie einer Haltung auf die Statusentwicklung gekennzeichnet ist.

Legolas verbürgt die schulische Beurteilungslogik. Zeugnisse und Noten dienen ihm als Dokumentation seiner Kompetenzentwicklung und ihrer Bestätigung durch die Lehrer. Dabei wird allerdings keine Überanpassung an Schule deutlich. Legolas grenzt sich explizit vom Streber ab und begründet seine guten Leistungen mit Begabung. Neben diesen zentralen Orientierungen ist Schule zugleich ein lebensweltlicher Freizeitort für Legolas, an dem er Freunde (wieder-)trifft, andere Kinder kennen lernt und sie zusammen spielen. Er bezieht sich so auch positiv auf Veränderungen, solange eine kontinuierliche Freundschaftsgruppe und eine bekannte soziale Rahmung vorhanden sind. Da er dies im Übergangsprozess verwirklicht sieht, konnte auch ein positiver Übergang auf das Gymnasium mit Chancen für seine weitere Schulkarriere rekonstruiert werden. Er entwickelt hier Handlungspotentiale, sich aktiv mit den schulischen Veränderungen auseinanderzusetzen. Der Bereich von Leistungs-, Bewertungs- und Selektionssituationen ist an der neuen Schule tendenziell jedoch von geringer Relevanz und zum Zeitpunkt des Interviews liegt keine eindeutige Positionierung vor – der „aufgeschobene Übergang“. Zum einem kommt ihm die eigene mühelose Entsprechung des gymnasialen Schwierigkeitsgrad entgegen, zum anderen bleibt die Erwartung eines höheren Schwierigkeitsgrades und damit aber auch die Möglichkeit des Versagens bestehen. Der rekonstruierte starke positive Bezug auf die B.-Schule, die gelingende Entsprechung des Anforderungsniveaus als auch das vielschichtige Peernetzwerk stellen so Chancenpotentiale einer erfolgreichen gymnasialen Karriere dar. Risikopotentiale deuten sich dahingehen ab, dass die Steigerung des Anforderungsniveaus Probleme bereitet, die Entsprechung nicht mehr mühelos gelingt und die Balance von Peer- und Leistungsorientierung verloren geht. Dies ist besonders hinsichtlich seiner eher gering ausgeprägten Leistungsorientierung und der Orientierung an Effizienz und Nützlichkeit riskant. Eine zweite Risikoprognose kann in Bezug auf die Peerorientierung aufgestellt werden. Bisher ist Legolas von negativen Erfahrungen mit Gleichaltrigen verschont geblieben. Kommt es jedoch zu gegenteiligen Konstellationen, üben diese einen enormen Transformationsdruck auf seinen Orientierungsrahmen aus. Im Fall Legolas kann man für die ersten zwei Interviews abschließend festhalten, dass für seinen Orientierungsrahmen ein sehr leichter Transformationsdruck besteht und der antizipierte, „aufgeschobene Übergang“ hinsichtlich der Leistungsanforderungen Risiken bereit hält.

Die Transformation der Peer- und Leistungsbezüge sowie die neuen Lehrer-Schüler- Beziehungen in Klasse 7 – Ergebnisse des 3. Interviews

Zum Zeitpunkt des 3. Interviews in der Mitte des 7. Schuljahres wird evident, dass Legolas an der neuen Schule im Verlauf der letzten zwei Schuljahre Erfahrungen gemacht hat, die Transformationsprozesse in seinem Orientierungsrahmen angestoßen und zu einer nachträglichen Umdeutung des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe I geführt haben. Diese zweite Darstellung des Übergangs unterscheidet sich so in hohem Maße von der ersten zu Beginn der 5. Klasse, in der zwar auch Schwierigkeiten benannt wurden, die aber bewältigbar erschienen und in der die positiven Aspekte besonders auf der Peerebene aber auch im Fachlichen überwogen. In dieser ersten Betrachtung des Übergangs unter positiven Vorzeichen vermittelte sich ein Selbstbild des Schülers Legolas als „Entdecker“ des Neuen und als jemand, der die neuen Herausforderungen sucht und sowohl Zugewinne auf der Peer-, als auch auf der Statusebene in der neuen Schule verwirklicht sah. Diese Vorzeichen der Betrachtung des Übergangs sowie der relevanten Themenbereiche (Peers, Leistungen) ändern sich mit dem Interview in der 7. Klasse deutlich. In der Darstellung des schulischen Übergangs zu Beginn des 3. Interviews erscheint die neue Schule so zunächst als ein bedrohlicher, schwer durchschaubarer Ort, der sich zudem durch die Leistungsanforderungen auf das gesamte Leben ausdehnt und Legolas mit fremden Zwängen konfrontiert. Die Antizipation eines „aufgeschobenen Übergangs“ bewahrheitet sich. Der Übergang und der weitere Verlauf am Gymnasium werden nun im Vergleich zur idealtypischen Grundschulzeit als deutliche Transformation und Erfahrung einer Zäsur dargestellt. Die Transformation bezieht sich dabei auf drei zentrale Dimensionen: die Leistungsebene, die Peerebene und die Ebene der Lehrer-Schüler-Beziehungen.
In der Thematisierung der Leistungsebene wird deutlich, dass die Steigerung der Anforderungen an dem Gymnasium die für Legolas bedeutsamen außerschulischen Lebensbereiche beeinträchtigt, so dass seine zentrale Orientierung auf eine gute Vereinbarkeit von Schule und Peers bedroht ist.

L: mh na das war so also in der vierten klasse da hatte man- war noch alles einfach da wurde nur in den drei hauptfächern deutsch mathe und sachkunde wurden da die klassenarbeit geschrieben und (…) dann war hier aber alles anders hatten viel mehr schulstress und so was hatten wir plötzlich in jedem fach ne klassenarbeit geschrieben die stunden wurden immer länger und äh natürlich wurde auch äh der stoff //hm// wurde schwerer es gab mehr stunden

Über die einzelnen Veränderungen, den neuen Klassenarbeiten in jedem Fach, der erhöhten Stundenzahl und Anforderungen, werden die neu erfahrene Vereinnahmung und Fremdbestimmung des eigenen Lebens durch die Schule zum Ausdruck gebracht („Schulstress“). Dies dokumentiert zugleich die Nicht-Passung der Antizipation der gymnasialen Anforderungen und der tatsächlichen Erfahrungen von Legolas im Verlauf der ersten Schuljahre an der B.-Schule. Die Vereinnahmung durch die Schule über deutlich gesteigerte Leistungsanforderungen markiert, trotz hoher Bedeutung des Schulischen, den negativen Gegenhorizont. Dieser Ausdehnung der Schule sieht sich Legolas ausgesetzt. In den Rekonstruktionen von Legolas zu den schulischen Leistungen wird weiterhin deutlich, dass der Erfahrungsraum der Grundschule bezüglich der Leistungserwartungen der Lehrer, der Noten und Lernanstrengungen deutlich von dem des Gymnasiums unterschieden wird. Die Erfahrungen der Grundschule rücken vor dem Hintergrund der Anforderungen auf dem Gymnasium in einen positiven Gegenhorizont. Dies steigert sich in der Eigentheorie von Legolas noch einmal mit dem Wechsel der Lehrer nach der 6. Klasse und dem Erhalt der Lehrer aus der Kursstufe, die aus seiner Sicht das Niveau der 12. auf die 7. Klasse übertragen:

L: und dann die neuen lehrer die (schluckt) wir dann in der siebten bekommen haben die hatten halt ne ganz andere- die meisten die hatten ne zwölfte klasse //hmm// zum schluss und die sind ganz anders rangegangen als die in der sechsten und in der fünften und deshalb ehm (einatmen) die hatten viel schwerere- also die erklären viel schneller die (schluckt) die ham viel schneller was durchgezogen ohne das noch mal (einatmen) kurz in mathe zum beispiel zu berechnen oder so was wie das überhaupt geht die ziehen das halt einfach so schnell durch und dann (einatmen) ehm kriegt man halt schon mal schlechtere noten und daher könnt ich’s mir ein bisschen erklären.

Insbesondere das gestiegene Lerntempo und die neuen Verstehensdefizite z.B. in Mathematik führen auf dem Gymnasium zu einer Verschlechterung der Leistungen und zu Unsicherheiten bezüglich des Leistungsselbstbildes von Legolas. Er kann seine Leistungen nicht mehr selbst antizipieren und einschätzen. Die Thematisierung der äußeren, nicht zu bestimmenden schulischen Bedingungen verweist so auf neue Fremdheitsmomente zu den Noten und zu den eigenen Leistungen.

L: und jetzt hat man sich also (schluckt) jetzt kann man halt- bei klassenarbeiten kann man halt jetzt auch mal mit allen noten rechnen oder beim test das man- das geht von der eins bis zur fünf und so was wenn man- auch wenn man gelernt hat muss man jetzt mit allem rechnen und deshalb ist das schon was anderes als in der grundschule //hmm// //hmm//

Die gymnasialen Erfahrungen bedrohlicher und unberechenbarer Kontrollen, zusätzlicher Zeitinvestitionen sowie gestiegener Lernanforderungen werden von ihm im negativen Gegenhorizont verortet. Die Verschlechterung um eine bis zwei Noten an dem Gymnasium bearbeitet Legolas dabei durch einerseits familial übernommene Normalisierungen und andererseits durch Distanzierungen (z.B. Lachen oder Verallgemeinerungen).

L: na die [eltern] ham gesagt also bei mir- bei ihnen war das auch nich anders aber du musst halt bloss immer dran glauben und das is ganz natürlich das man nich so super bleibt wie in der grundschule (schluckt) aufn gymnasium deshalb muss man sich mit so was abfinden und deshalb auch öfters mal lernen (hustet)

Diese Bearbeitungsformen und andere Leistungsbezüge im Interview verweisen aber auf eine nach wie vor gegebene, moderate Leistungsorientierung bei Legolas. Insofern besteht zum Zeitpunkt des Interviews einerseits die Orientierung auf gute Noten, wenngleich er seinen Notenbereich nach unten korrigieren musste, und andererseits besitzt Legolas Haltungen, nur begrenzt Zeit zum Lernen zu investieren und außerschulische Aktivitäten wahrzunehmen. Legolas entwickelt dabei Handlungspotentiale, um seine Leistungen in einem akzeptablen Bereich zu halten.

L: naja also `ich lerne jetzt nich so supergerne` (lächelnd) aber ich mags natürlich auch viel lieber (einatmen) ne zwei zurück zu kriegen als wenn man jetzt ne vier zurückkriegt und deshalb lernt man schon selber mal oder passt im unterricht richtig gut auf (hustet)

Das Leistungsniveau der Grundschule kann er aber nicht mehr fortführen und so transformieren sich sein Notenbezug und seine Lernhaltung. Legolas entwickelt dann eine Anstrengungsbereitschaft, wenn seine Noten in einen inakzeptablen Bereich abzurutschen drohen. Die zweite Transformationslinie betrifft die Peerebene, auf der ein Verlust der vertrauten Gemeinschaft sowie die unsichere Situation, nur zwei Mitschüler an der neuen Schule zu kennen, im 3. Interview zur Darstellung kommen. Auch hier konnte er im Vergleich dazu die Peerbeziehungen zu Beginn der 5. Klasse unproblematischer darstellen. In der retrospektiven Schilderung von Legolas im 3. Interviews wird folglich deutlich, dass der Übergang in die Sekundarstufe I in Bezug auf seine Integrationsorientierung bedrohlich war und erst nach einem langen, schwierigen Weg über die Aktivierung von Enaktierungspotentialen bewältigt wurde. Durch den Wechsel der Gleichaltrigen muss sich Legolas am Gymnasium mit seinem negativen Gegenhorizont, der Isolation in einer neuen sozialen Gruppe, auseinandersetzen.

Diese Bedrohung bearbeitet er über die Betonung und Bewahrung einer sicheren „Basis“ in Form eines vertrauten Freundes aus dem Kindergarten und der Grundschule:

L: na halt ehm ich hatte zuerst mein richtig festen freund der- den kenn ich schon seit elf jahren //ja// und mit dem bin ich äh halt- wir mussten erstmal gucken das wir hier auch immer zusammenbleiben und sowas das man halt erstmal zusammenbleibt das man einen freund hat und dann kann man sich erst mal weiter umgucken in der klasse (einatmen) dann erst mal zu den andern jungs

Auf der einen Seite kommt in der Thematisierung des Zusammenbleibens mit dem vertrauten Freund so das Bedrohungspotential zum Ausdruck („erstmal gucken das wir hier auch immer zusammenbleiben“). Die Freundschaft wird auf der anderen Seite jedoch relativiert und hier als „Ausgangsbasis“ eingeführt, von der aus neue Beziehungen zu erschließen sind, was auf eine strategische Bedeutung dieser Freundschaft hinweist: „das man halt erstmal zusammenbleibt das man einen freund hat und dann kann man sich erst mal weiter umgucken in der klasse“. Des Weiteren wird auch im zurückgenommenen Handlungspotential des Beobachtens („umgucken“) seine Orientierung der schrittweisen Annährung an Gleichaltrige am Gymnasium virulent. Legolas weist dabei in seiner Eigentheorie auf den langen Weg bis zur Vertrautheit, zum richtigen Verhalten und der festen Position im neuen und fremden sozialen Umfeld mit anderen Regeln und Strukturen hin: „und deshalb jetzt hatte ich hier n richtigen festen sitz also es dauert schon lange eh man sich richtich hier auskennt“. Auch in der weiteren Erzählung dokumentiert sich die stufenförmige und strategische Integration in die neue Klasse. Die Darstellung des Kennenlernens erst der Jungen, dann einiger Mädchen und auf der Klassenfahrt schließlich der gesamten Klassen gleicht einem Integrationsleitfaden. Dies verweist auf eine technologisierte Handlungsweise beim Erschließen von Freundschaften und ist als Ausdruck der Unsicherheit zu Beginn am Gymnasium zu verstehen.

L: und dann bei der Klassenfahrt da hab ich die meisten so richtig gut kennen gelernt (einatmen) und dann hat’s halt auch richtig Spaß gemacht man wusste wie die klasse halt auch denkt und so was (einatmen) //hmm// von den schulischen Leistungen wie so jeder einzelne drauf is und (einatmen) halt und da find ich hab ich ne recht gute klasse erwischt weil hier ist äh keiner für sich hier als ob er der beste wärt (einatmen) und irgendwie halten alle zusammen //hmm// . //hmm//

Die Integration wird dabei über ein Wissen zum Charakter und zu den Leistungen der Anderen und der Klasse als Kollektiv hergestellt. Folglich sind es nicht mehr die Integrationsmodi des Spielens oder anderer gemeinsam geteilter Praktiken, wie noch in der Grundschule, sondern die Integrationsbemühungen werden über einen neuen Beobachtungs- und Wissenszugang vollzogen. Deutlich wird zudem, dass die individuelle und distinktive Exponierung aus der Klassengemeinschaft („keiner für sich hier als ob er der beste wärt“) im negativen Gegenhorizont und der diffuse Zusammenhalt aller im positiven Gegenhorizont stehen („irgendwie halten alle zusammen“). In seinen Aussagen drückt sich eine kollektive Orientierung des Zusammenhalts und der Homogenisierung aus („kollektivierter Selbstentwurf“): „ich hab ich ne recht gute klasse erwischt weil hier ist äh keiner für sich hier“. So grenzt er sich und die für ihn bedeutsame „Jungstruppe“ auch von einigen wenigen Mädchen ab, die mit ihren Verhaltensweisen die Klassengemeinschaft stören: „dann gibts aber manche mädchen wenn wir zum beispiel mal irgendwas halt `nicht ganz so tolles gemacht haben` (lächelnd) das die dann einfach verpetzen und so was und dann ähm is das halt n bisschen blöd“.
Im Kontrast zu dieser Orientierung an der Vollintegration in die Gymnasialklasse im Verlauf der ersten zwei Jahre gibt es bei Legolas zum Zeitpunkt des Interviews in der 7. Klasse neue Entwicklungstendenzen in Bezug auf die Freundschaftsbeziehungen außerhalb der Schule. Mit diesen außerschulischen Peers erschließt sich Legolas neue Erfahrungsräume, die ihm Status- und Bildungszuwächse ermöglichen. Dabei wird deutlich, dass Legolas sich als vollwertiges Mitglied dieser eigenständig konstituierten Gruppe sieht, die über eigene Räume und zeitliche Strukturen verfügt:

L: ja also ich geh jetzt . ich bin jetzt in so ner truppe sozusagen da sind jetzt ungefähr vier jungs mit drinne (einatmen) und drei mädchen und wir treffen uns regelmäßig ich hatte neulich meinen geburtstag und da hatten wir uns wieder getroffen (einatmen) da hatten wir ne eigene wohnung da ham wir zusammen geschlafen und so was (einatmen) und dann wir treffen uns auch regelmäßig bei einer die is etwas reich die hat ein eigenes haus dort treffen wir uns fast jede woche einmal alle zusammen und dann spielen wir dort irgendwas (einatmen)

Über die eigenen, autonomen Räumlichkeiten und die gemeinsam geteilten, sinnstiftenden Praktiken kommen Entwicklungsstatusgewinne und Verselbstständigungsprozesse ins Spiel, die in der Thematisierung der kognitiven Modi des Kennenlernens von Freunden innerhalb der Schule nicht auftauchen. Diese Vergemeinschaftungserlebnisse verdrängen damit auch die „älteren“ institutionellen Freizeitpraktiken des Fußballs und des Konfirmandenunterrichts von Legolas. Auch die geheimnisvolle oder gar „märchenhaft“ anmutende Sprache sowie die Thematisierung des Mädchens aus einer kapitalstarken Familie machen deutlich, welche Faszination und Statusgewinne von diesen außerschulischen Peers ausgehen. Bei der detaillierten Schilderung seines Geburtstags wird der Übergang zu neuen, (noch) moderaten jugendkulturellen Praktiken und somit der Übergang in das Jugendalter deutlicher:

L: zuerst ham wir bei mir zu hause gefeiert und ham fussball gespielt (einatmen) und dann bei meinem opa und oma die ham auch son haus und die ham noch son kellerraum //achso// da sind wir dann reinge- gangen //hm// und so was haben wir noch zusammen filme geguckt und halt noch ganz schön lange gemacht (einatmen) und dort gefeiert

In dieser Beschreibung werden die sich anbahnenden Autonomiepotentiale und die neuen, jugendkulturellen Praktiken belegt. Diese Entwicklungsgeschichte hat nun auch einen Wandel seines Orientierungsrahmens zur Folge, da es nicht mehr um eine Vollintegration geht, sondern Legolas durch die neuen Erfahrungen stärker Differenzierungen in Peerbezügen vornimmt. So besitzt Legolas vor dem Hintergrund des Vertrauens, der Intimität („mögen“) und Festigkeit in der außerschulischen Peergroup die relative Souveränität und Sicherheit mit den Gleichaltrigen in der Klasse umzugehen, die ihn nicht mögen:

L: dann ham wir ehm äh ein spiel gespielt und da kriegt man auch immer viel raus halt über jeden und äh wie er ihn mag //hm hm hm// oder wie sie ihn mag //hm// und sowas das is dann halt dann kennt man einen richtig gut und so was und deshalb sind mir die andern eigentlich also n paar aus meiner klasse sind auch nich so meine freunde das äh (schluckt) stört mich eigent- lich nich so weil ich hab ja jetzt ne gute truppe erwischt //hmm// //hmm// /hmm//

Folglich dokumentiert sich eine Ausdifferenzierung der Peer- und Integrationsorientierungen durch den außerschulischen Bereich und die Entwicklung der Verselbstständigung und Souveränität. Mit dieser Transformation im Orientierungsrahmen ist auch eine neue Verhältnisbestimmung zur Schule und zu schulischen Peers fällig, die als Chance den gelassenen Umgang mit der Integrationsproblematik ermöglicht. Jedoch wird damit ein Risikopotential evident, da dieser außerschulische Erfahrungsraum mit den schulischen Anforderungen nicht in Deckung zu bringen ist und in Konkurrenz tritt. Die Schule kann so Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten im außerschulischen Bereich verhindern und andererseits kann dieser außerschulische Raum die Schul- und Leistungsorientierung gefährden. In der Relationierung von der neuen außerschulischen und der schulischen Welt ist damit die schulbiographische Herausforderung von Legolas in den nächsten Schuljahren zu sehen. Die dritte Transformationsebene betrifft die Lehrer-Schüler-Beziehung, auf der er, wie bereits anhand der Leistungspassage beschrieben, mit einem vollkommen neuen distanzierten und fachorientierten Lehrertypus konfrontiert wird. Die Lehrer-Schüler-Beziehungen am Gymnasium entfernen sich dabei immer weiter von denen der Grundschulzeit, in der stärker die diffusen Beziehungsanteile dominierten. Legolas kritisiert die versachlichte und distanzierte Lehrer-Schüler-Beziehung, innerhalb derer der Unterrichtsstoff durchgenommen wird, ohne die individuellen Vorraussetzungen einzubeziehen:

L: und aber andre die hatten halt- da fühlte man sich halt nich so richtig vertraut da waren die lehrer die machten immer alles ganz schnell die konnteste- die konnte man nich richtig noch mal nachfragen und so was //hm// da musste //hmm// man einfach nur lernen lernen lernen (einatmen)

Auch hier dokumentiert sich eine umfassende Fremdbestimmung („lernen lernen lernen“), innerhalb derer Legolas kaum noch Spielräume und Möglichkeiten sieht, die eigene Autonomie zu entwickeln und sich selbst einzubringen. Es werden keine Enaktierungspotentiale deutlich, ein Arrangement mit diesen Lehrern herzustellen. Im Kontrast zu den Lehrern, bei denen der Unterricht und Vermittlungsprozesse dominieren, führt Legolas einen Lehrer ein, der die Vertrauensbeziehung betont, mit dem er zu Beginn der 5. Klasse den Erfahrungshorizont eines Novizen teilt und der Wert auf gemeinschaftliche Praxen wie das Fußballspielen legt:

L: dann fand ich- hatt ich einen richtig guten lehrer der wollte das vertrauen mit uns- der wollte das vertrauen zu uns richtig gut aufbauen //hmm// weil der war selber neu an der schule und deshalb fand ich gut das er- also so hat ich das gefühl das der uns richtig gut mag da hat er auch (einatmen) mit uns ein fuss- ball- mit uns ein fussballspiel gemacht dort draußen auf dem fussballplatz //hm//

Die Lehrer-Schüler-Beziehung zu diesem Lehrer wird somit über die Rollenförmigkeit hinaus durch eine emotionale und diffuse Ebene, die in gemeinsamen außerunterrichtlichen Aktivitäten wächst, gekennzeichnet. Im positiven Gegenhorizont steht der Lehrer, der die Asymmetrie und Differenzen in der Beziehung reduziert und diffuse Beziehungsanteile zulässt. Die ideal erfahrene Lehrer-Schüler-Beziehung kann so zunächst die Konfrontation mit den fachorientierten Lehrern und ihren Rollenerwartungen kompensieren. Zum Zeitpunkt des Interviews in der 7. Klasse gibt es jedoch vermehrt Hinweise, dass zum einen der „Vertrauenslehrer“ nicht mehr zur Verfügung steht und zum anderen die Rollenanforderungen durch die neuen Lehrer im 7. Jahrgang zunehmen. Legolas muss sich folglich verstärkt mit seinem negativen Gegenhorizont in Bezug auf die Lehrer-Schüler-Beziehungen auseinandersetzen und bearbeitet diese Nicht-Passung durch Distanzierungen. Auch wenn Legolas in seinem Orientierungsrahmen deutlich positive Gegenhorizonte in Richtung der Vergemeinschaftung mit außerschulischen Peers und einer Schule, die ihm keine höheren Lerninvestitionen abverlangt und moderate Anforderungen stellt, besitzt, ist sein Orientierungsrahmen nach wie vor darauf ausgerichtet, zwischen Schule und Peers eine ausgewogene Balance zu finden. Bedrohlich wird die Situation genau dann, wenn die Schule auf der einen und die (außerschulischen) Peers auf der anderen Seite mehr Raum einnehmen, als die Balance vertragen kann. Die Anforderungen auf der Leistungsebene sollen somit ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. Eine solche Situation wird aber in den Ausführungen zur neuen Schule erkennbar und birgt einen neuen Transformationsdruck auf den Orientierungsrahmen von Legolas.

Der „nachgezogene Sekundarstufenschock“ – Die Fallspezifik der Schulkarriere von Legolas bis Klasse 7

Die Fallstudie von Legolas verdeutlicht eine Schulkarriere, die sich bis zur 5. Klasse durch eine hohe Kontinuität kennzeichnen lässt. Bis dahin erlebt der Schüler eine unproblematische Schulkarriere in einem harmonischen Passungsverhältnis von Schule, Peers und Familie (vgl. Kramer 2002, S. 279) und mit einer hohen Schulfreude. Die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens macht eine Balance schulischer Leistungsorientierung und Peerorientierung bis dahin deutlich. Dieses Muster, einerseits formale Bildungsinhalte und schulische Bewertungs- und Beurteilungspraktiken, andererseits informelle Bildungsräume und Peers positiv zu deuten und miteinander zu vereinbaren, fassen wir im Habitus des „moderaten Strebens“ (vgl. Kramer u.a. 2009; Helsper u.a. 2009). Darüber hinaus zeigen die Rekonstruktionen, dass Legolas die Schaltstellen des Bildungssystems (die Übergänge in die Grundschule sowie in das Gymnasium) mit Altersstatusgewinnen verbindet. Folglich nimmt er auch den Übergang an das städtische Gymnasium positiv wahr und kann er seinen Orientierungsrahmen unproblematisch an der neuen Schule umsetzen.
Vor dem Hintergrund der von Legolas geschilderten Erfahrungen in Klasse 7 muss aber davon ausgegangen werden, dass die Klasse 5 am Gymnasium noch einen Schonraum bildet, in dem Legolas ein Moratorium zur Anpassung an die gymnasialen Bedingungen erfährt. Und auch er selbst antizipiert hier einen „aufgeschobenen Übergang“. Erst im weiteren Verlauf seiner Schulkarriere lernt er dann neue schulische Erfahrungsräume der erhöhten Leistungsanforderungen sowie fachorientierter Lehrer kennen, die seine Haltungen im Orientierungsrahmen irritieren und zu Transformationsimpulsen führen.
Bestehen bleibt aber im schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen nach wie vor die Doppel-Orientierung auf die Peers auf der einen und auf die Erfüllung schulischer Anforderungen auf der anderen Seite. Diese Balance gerät jedoch durch die Erfahrungen gestiegener Anforderungen in der Schule und neuer, faszinierender Peer-Erlebnisse außerhalb der Schule unter Spannung. So bringen vor allem der Übergang von der 6. zur 7. Klasse und der Wechsel zu neuen Fachlehrern Passungsprobleme, Unsicherheiten und eine leichte Überforderung, sodass seine schulische Leistungsorientierung unter starken Druck gerät. Bereits Fend weist darauf hin, dass die Klasse 7 eine kritische sei, da beispielsweise eine neue Fremdsprache dazu kommt (vgl. ebd. 2000, S. 356). Ähnliche Hinweise finden sich auch bei Nittel (vgl. ebd. 1992, S. 261f.). Damit wird bei einigen Schülern wie Legolas der „Sekundarstufenschock“ (Hacker 1988) erst viel später und nachgezogen durch den Übergang von der 6. zur 7. Klasse wahrgenommen. Andererseits finden zur gleichen Zeit bei Legolas Entwicklungsprozesse in Form einer Ausdifferenzierung der außerschulischen Freundschaftsbeziehungen statt, die ein neues Niveau von Gruppenvertrautheit und -intimität für Legolas bietet und Autonomiegewinne versprechen. Diese neuen, informellen Bildungsgewinne kompensieren zum Teil den „nachgezogenen Sekundarstufenschock“ auf der Ebene der schulischen Leistungsanforderungen. Legolas wird insgesamt in seinen Thematisierungen der Schule – z.B. in der Darstellung der Lehrer-Schüler-Beziehungen und der Lerninhalte – kritischer, selektiver und distanzierter, was als Ausdruck der veränderten biographischen Lagerung der Schule, der Neuorganisation seiner Lernorientierung und der zunehmenden Selbstregulierung in der 7. Klasse verstanden werden kann (vgl. Nittel 1992, S. 261). Er beginnt seine Interessen zu differenzieren und schulische Anforderungen im Kontrast zu außerschulischen Entdeckungen zu relativieren. Die umfassend positive und emotionale Deutung der Schule als ein zentraler Bildungsraum transformiert sich. Legolas setzt sich in ein distanzierteres Verhältnis zu schulischen Anforderungen und Lernmöglichkeiten (vgl. Fend 2000, S. 349f.). Diese Entwicklungsprozesse können weitere Transformationsprozesse im individuellen Orientierungsrahmen von Legolas anstoßen, die zu einem neuen Verhältnis von Familie, Schule und Peers führen können.

Literatur:

Fend, H. (2000): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 2. Aufl., Opladen.

Helsper, W./Kramer, R.-T./Brademann, S./Ziems, C. (2009): Bildungshabitus und Übergangserfahrungen bei Kindern. In: Baumert, J./Trautwein, U./Maaz, K. (Hrsg.): Bildungsentscheidungen in differenzierten Bildungssystemen. Sonderband der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Wiesbaden (im Erscheinen).

Kramer, R.-T. (2002): Schulkultur und Schülerbiographien. Das „schulbiographische Passungsverhältnis“. Rekonstruktionen zur Schulkultur II. Opladen.

Kramer, R.-T./Helsper, W./Brademann, S./Ziems, C. (2009): Selektion und Schulkarriere. Kindliche Orientierungsrahmen beim Übergang in die Sekundarstufe I. Wiesbaden.

Nittel, D. (1992): Gymnasiale Schullaufbahn und Identitätsentwicklung. Eine biographieanalytische Studie. Weinheim.

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