Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause -Unterricht (10h25)

Dursum geht langsam in Richtung Garderobe. Als er an Ulak vorbeikommt, der bereits an seinem Tisch sitzt, spricht er ihn an und zieht ihm lachend von hinten seine Wollmütze ganz über den Kopf. Ulak befreit sich daraus, steht auf und geht zur benachbarten Tischgruppe. Dursum nimmt eine Schere aus Ulaks Mäppchen, spielt mit ihr, wendet sich Ulak lächelnd zu, hält ihm die Schere entgegen und gestikuliert mit ihr (als ob er ihm Haare abschneide), geht zurück zu Ulaks Tisch, neigt sich über den Tisch hinweg zu (Personen) der Fensterfront, klappt die Schere auf und zu, dreht sich und hält sie kurz in Richtung Kamera. Ulak nähert sich wieder seinem Tisch. Dursum legt die Schere zurück ins Mäppchen. Ulak setzt sich wieder auf seinen Platz.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h27)

Binol tritt an Martins Tisch heran, nimmt einen Stift aus dem dort aufgeklappt liegenden Mäppchen. Martin, der eine (Pausenbrot-)Papiertüte am Tisch zusammenrollt, sagt etwas, beugt sich seitlich des Tisches herab, packt die Tüte in eine Tasche, läßt sich auf seinen Stuhl fallen, sagt etwas zu Binol und deutet mit dem Finger dabei kurz auf die Milchflasche. Dann nimmt er ein kleines Lineal aus dem Mäppchen. Die beiden unterhalten sich, während Binol mit dem Stift und der Kappe befaßt ist und Martin mit dem Lineal, das er auf der Tischplatte hin und her gleiten läßt. Dann wendet sich Binol ab, geht einen Schritt zur Seile, blickt zur Fensterfront …, blickt in Richtung Tafelbereich, dann zur Tür, wo Samuel gerade auf dein Weg zur Garderobe vorbeigeht, dann wieder auf den Stift, mit dem sich seine Hände unentwegt beschäftigen. … Binol blickt zu Samuel, dann nach vorne, dann geht er selbst durch den Mittelgang nach vorne, bleibt an der Frontseite des Overheadprojektors angelehnt stehen und beobachtet das Geschehen im Tafelbereich, weiterhin den Stift von Martin in den Händen. Martin, noch mit dem Lineal beschäftigt, steht nun ruckartig auf und geht zum Overheadprojektor, bleibt dahinter stehen, lehnt sich, die Arme verschränkt, auf die Glasfläche, blickt auf die Fläche und in die Dose mit den Stiften. Kurz darauf wendet sich Binol ab, geht durch den engen Gang am Projektor, an Sybille (die ihm gerade entgegenkommt) und an Martin vorbei nach hinten. Mit schneller Bewegung legt er den Stift auf Martins Tisch ab und geht weiter. Martin blickt ihm nach und folgt ihm später in den Bereich der Fensterfront.

Interpretation

Die klasseninterne Bildung vertikaler Differenz, von oben und unten, die Produktion von Macht, die schon im Umgang mit der Kopfbedeckung erkennbar wird, setzt sich im Umgang mit einem Unterrichtsding, der Schere, fort. Der körperlich größere Dursum nimmt dem kleineren Ulak seine Schere weg, dieser lässt es geschehen. Insgesamt zeigt diese Interaktion den Beteiligten und potentiellen Zuschauern, dass zwischen den beiden eben nicht nur in körperlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht ein Größer-Kleiner-Verhältnis besteht. Dursums Bewegungen mit der Schere unterstreichen dies noch.

Über die peer-bezogene Differenzbildung hinaus wird hier die Differenz zwischen der Orientierung an der Peergemeinschaft und der Orientierung an der Unterrichtsgemeinschaft reaktualisiert und bearbeitet. Ulak gehört zu den Schülern, die nach der Pause als erste nicht nur in den Klassenraum zurückkommen, sondern auch gleich ihre Kleidung ablegen und sich an ihren Platz setzen. Insofern wirkt es nicht zufällig, dass Dursum gerade Ulaks Schere aus dem Mäppchen nimmt. Hier findet nicht nur ein Übergriff auf das Territorium Ulaks statt, sondern auch ein Angriff auf die in Ulaks üblichem Klasseneintrittsverhalten, in seinem aufgeräumten Tisch und seinem gut sortierten Mäppchen erkennbare unterrichtsgemeinschaftliche Orientierung bzw. auf die in diesem Konglomerat aus spezifischem Verhalten und Dingpräsenz enthaltene unterrichtliche Ordnung.

Das Ende der beschriebenen Sequenz kann allerdings so gedeutet werden, dass Dursum letztlich doch sowohl Besitz (er legt die Schere wieder auf Ulaks Tisch zurück) als auch unterrichtliche Ordnung (er legt sie ins Mäppchen) akzeptiert. Die Szene zeigt eine Provokation, aber keine Rebellion.

Das zweite Beispiel lässt sich ähnlich verstehen. Auch hier wird klasseninterne Macht und Hierarchie konstituiert. Zwar bilden Binol und Martin nicht schon wie Dursum und Ulak von ihrer Körpergröße her ein Größer-Kleiner-Verhältnis, sondern sind in etwa gleich groß. Aber mehr noch als Dursum in der Klasse 5x, in der es mehrere Träger von Kopfbedeckungen gibt, zeigt sich Binol durch sein Kappentragen, seinen provokativen Umgang mit der Milchflasche etc.(1) als schuloppositional orientiert. Umgekehrt gehört Martin, wie im ersten Beispiel Ulak, in seiner Klasse zu den Kindern, die nach der Pause besonders früh auf ihrem Platz sitzen und bei der Wochenplanarbeit am raschesten und konzentriertesten in einen unterrichtsbezogenen Arbeitsmodus eintauchen. Insofern geht es auch hier nicht nur um die Bestimmung des Machtverhältnisses zwischen Gleichaltrigen, sondern zugleich um einen Angriff auf die unterrichtliche Ordnung und auf die unterrichtsaffirmative Haltung Martins. Und wie im ersten Beispiel Dursum, vollzieht auch Binol die Wegnahme fremden Besitzes bzw. den Angriff auf unterrichtliche Ordnung nicht endgültig, sondern legt den Stift letztlich wieder auf den Tisch zurück.
In einer Hinsicht unterscheiden sich die beiden Beispiele allerdings voneinander. Während Ulak ängstlich wirkt und sein Verzicht auf Gegenwehr in dieser Angst begründet zu sein scheint, sieht Martins Verzicht auf Gegenwehr eher nach einem Einverständnis aus (abgesehen davon, dass die von Dursum verwendeten Machtmittel – Mütze über den Kopf ziehen, mit Schere auf Ulak zugehen – im Vergleich zu dem im zweiten Beispiel von Binol genommenen Stift tatsächlich erschreckend wirken). Für diese Interpretation spricht der mimetische Zug im Verhalten Martins. Sein Spiel mit dem Lineal greift Binols Spiel mit dem Stift auf; als Binol zum Projektor geht und sich an diesen lehnt, tut er dies auch; spielt Binol dort mit dem Stift, so schaut Martin in die Stiftdose; als Binol an Martins Tisch vorbei dann ohne Stift zur Fensterfront geht, folgt ihm Martin wieder. Dies deckt sich mit Beobachtungen von Martins und Binols Interaktionen in anderen Situationen. Binol ist für Martin offenbar wichtiger als der Stift. Obwohl Martin, als Individuum im Plenum der Unterrichtsgemeinschaft bzw. als Einzelner nach Eintritt in den Raum oder nach Eröffnung einer Wochenarbeitsphase durch die Lehrerin, selbst offenbar Schule affirmiert und die unterrichtliche Struktur mitkonstituiert, lässt er die über eine bestimmte Zeitspanne anhaltende Störung dieser Struktur durch Binol zu und sucht in diesem und mittels dieses Zulassens den Kontakt und die Gemeinschaft mit einem Gleichaltrigen.

Von den beiden erörterten Beispielen und dem in ihnen erkennbaren Interaktionsmuster sind Interaktionen zu unterscheiden, in denen die Wegnahme eines Unterrichtsdings Gegenwehr nach sich zieht. An den beiden folgenden Beispielen lässt sich dieses Muster zeigen.

Klasse 5x, 24.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (12h17)

Ömer kommt, eine Schildmütze zur Seite gedreht auf dem Kopf, hinter Ayla in den Klassenraum hinein. Er geht schnell die rechte Wand entlang, hält Dursum im Vorbeigehen einen schmalen, schwarzen Stoff von hinten vor die Augen, was dieser abwehrt. Ömer macht eine kleine Drehung um Dursums Tisch und setzt sich in rascher geschmeidiger Bewegung seitlich auf seinen Platz, Dursum gegenüber. … Ömer beugt sich herunter zu seiner Tasche und hantiert darin. Dursum lehnt sich, zu Ömer blickend, halb auf den Tisch, spricht mit ihm und ergreift einen Gegenstand aus dem Tischbereich von Ömer. Ömer seinerseits ergreift Dursums Hände, die den Gegenstand halten. Ayla verfolgt das Geschehen, während sie aus einem Becher trinkt.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h31)

Cennet blickt auf das Geschehen in der Klasse. Als schließlich Canel Lind Samuel aufgestanden sind und in die Mitte des Raumes gehen, steht Cennet ruckartig auf und geht quer durch den Raum direkt zu Sören. Sie beugt sich zu ihm hinab, spricht mit ihm, deutet auf etwas in dem vor ihm aufgeschlagenen lieft. Sören zieht es schließlich weg und schlägt es zu. Cennet versucht, das Heft zu ergreifen. Sören hält es geschlossen vor die Brust und schaut zu ihr hoch. Als die Lehrerin erscheint, wendet sich Cennet ab.

Zwar ist Dursum körperlich nicht nur größer als Ulak (siehe oben), sondern auch als Ömer. Aber alle drei am vorliegenden Beispiel beteiligten Schüler, sowohl Dursum als auch Ömer und auch die zuschauende Ayla, besitzen und tragen Kappen oder Mützen und deuten damit den Habitus der Großen innerhalb der Klassengemeinschaft an. Und um eben diese Positionierung im sozialen Raum geht es hier offenbar. Ömer greift an, Dursum wehrt ab; Dursum greift an, Ömer wehrt ab. Unterwerfung wird gefordert, aber nicht erreicht. Ob in Dursums Wegnahme des Gegenstands aus Ömers Tischbereich und in Ömers Gegenwehr auch die dem Tischbereich und Gegenstand implizite unterrichtliche Struktur angegriffen und verteidigt wird, ist zweifelhaft. Die Szene zeigt eine peergroupinterne Auseinandersetzung. Sie kann nicht nur als Positionierung im sozialen Raum, sondern auch rein ludisch interpretiert werden. Dann erscheint die Auseinandersetzung nicht als Unterwerfungsversuch und Gegenwehr, sondern als gemeinsames Spiel. In jedem Fall hat Ayla, ähnlich wie Nina bei dem an ihrem Tisch durchgeführten Kampf von Carlos und Andy(2), die Funktion der Zuschauerin inne. Was Dursum und Ömer auch immer tun, es geschieht stets vor Aylas Augen. Es ist eine Aufführung. Die Auseinandersetzung endet unentschieden. Beide haben ihr Gesicht als „Große“ gewahrt.

Auch im zweiten Beispiel sind die Akteure dieses lnteraktionsmusters Schülerinnen und Schüler, die im Alltag ihrer Klasse als „Große“ erscheinen. Cennet ist eine der wenigen, die im Übergang von der Pause zum Unterricht den Raum meist ohne schulische Legitimation wieder verlässt. Sören ist in dieser Klasse der Junge, der am häufigsten von Mädchen kokettierend kontaktiert wird. Zudem sitzt er oft auf seinem Tisch und geht in einer Szene sogar über die Tische (siehe oben). Insgesamt zeigen also sowohl Cennet als auch Sören den Habitus von Kindern, die zu Jugendlichen werden und sich an jugendlichem Verhalten orientieren. Im Unterschied zu Dursum im ersten Beispiel gelingt es Cennet gar nicht erst, das Heft Sörens zu ergreifen. Die Gegenwehr Sörens setzt schon vorher ein. Zeigt die erste Szene eine Auseinandersetzung von Jungen vor einem Mädchen, so geht es hier um direkte Interaktion eines Mädchen und eines Jungen. Das Heft fungiert als Aufhänger für die gegengeschlechtliche Interaktion. Das Unterrichtsding bietet beiden die Möglichkeit, sich sachlich begründet näher zu kommen.

Was auf den ersten Blick ebenfalls anders ausfällt als im ersten Beispiel, ist die Beteiligung der Zuschauerin. Der Auftritt der Lehrerin als potentieller Zuschauerin fungiert als Marker für das Ende der Interaktion, während das Zuschauen Aylas im ersten Beispiel die Interaktion zwischen Dursum und Ömer keineswegs beendet, womöglich sogar unterstützt. Auf den zweiten Blick funktioniert das jeweilige Interaktionssystem im Hinblick auf die Zuschauerinnen allerdings gar nicht so unterschiedlich. In beiden Beispielen orientiert es sich aufführend an der Zuschauerin, die im einen Fall indirekt die Peergroup-Orientierung (Ayla) und im anderen die Unterrichtsorientierung (Lehrerin) unterstützt. So trägt der Aufführungscharakter der Interaktion zur Entscheidung bei, ob der betreffende Umgang mit dem Unterrichtsgegenstand eines Mitschülers als Bestimmung eines Peer-Verhältnisses oder als Störung der unterrichtlichen Ordnung zu verstehen ist.

Fußnoten:

(1) vgl. Unterrichtsdinge/Pausendinge II

(2) vgl. Klassenterritoriale Räume: Tisch und Tischbereich I

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.