Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 5x, 24.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (12h17)

Jana geht mit einem Heft in der Hand zu Jeannettes Tisch, an dem Herr Maier sitzend mit Jeanette spricht und Nina stehend zuhört, bleibt einen halben Meter davor stehen und verfolgt das Geschehen. Als David vorbeigeht, geht Jana einen Schritt zurück, blickt eine Weile nach rechts, dann wieder zu Jeanettes Tisch. Herr Maier erläutert kopfnickend und in Blickkontakt zu Jeanette weiter. Eine Weile später gesellt sich David zur Gruppe um Jeanette, bleibt bei Jana stehen und blickt Jeanette über die Schulter auf den Tisch. Jana hebt mit beiden Händen ihr Heft kurz in Brusthöhe, läßt es wieder sinken, blickt fortwährend auf den Tisch bzw. zu Herrn Maier, geht einen Schritt vor, als David sich nähert. David beugt sich zu Jeanette herab, spricht mit ihr. Herr Maier richtet den Oberkörper auf. Jana spricht ihn an und hält ihm ihr Heft hin. Herr Maier blickt auf das Heft, verneint kopfschüttelnd, erhebt sich ruckartig und geht, gefolgt von Nina, mit gemäßigt schnellem Schritt zu seinem Pult. Jana geht mit ihrem Heft zu ihrem Platz.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h27-10h28)

Ein nicht zur Klasse gehörender Junge, Yussif aus der 5x, betritt den Raum. Er trägt mit beiden Händen zwei große Besen überkreuzt vor sich, etwa einen Meter über dem Boden. Er steuert geradewegs auf Frau Kasek, die im Tafelbereich steht. Frau Kasek wendet sich Yussif zu und nimmt ihm einen der Besen mit dem Kommentar „schön“ ab. Claudia, die Yussif mit einem beschrifteten Papier in der Hand gefolgt ist, bleibt hinter ihm stehen. Martin beobachtet Yussif und die Besenübergabe. Samuel tritt an den Beistelltisch am Lehrerpult heran, hebt eine Dose aus einem Kasten kurz hoch, blickt zu Yussif und den Besen und bleibt einen Moment stehen. Sybille steht vor ihm und beobachtet die Besenübergabe. Frau Kasek geht zum Pult und stellt den Besen im Vorbeigehen am Beistelltisch neben dem Pult ab. Sybille ergreift den Besen, betrachtet ihn und fegt mit ihm auf der Stelle stehend. Als Yussif Frau Kasek folgend zum Lehrerpult geht, wendet sich Martin ab und geht nach hinten. Claudia folgt Frau Kasek und Yussif zum Lehrerpult. Samuel wendet sich ab und geht zu seinem Sitzplatz. Yussif legt den Besenstiel auf das Pult. Frau Kasek gibt ihm einen dicken schwarzen Filzstift. Claudia steht daneben und blickt zu Frau Kasek. MW (Monika Wagner-Willi) tritt von hinten heran und ruft: „Frau Kasek!“ Claudia sagt fast zeitgleich „Frau Kasek“, streckt ihr das Blatt Papier entgegen, das sie in den Händen hält, zieht es zurück und wendet sich dabei nach hinten zur weitersprechenden MW um. Als MW kurz darauf zum Mittelgang geht, schaut Claudia Frau Kasek erneut an, wiederholt „Frau Kasek!“ und präsentiert ihr mit beiden Händen das Blatt Papier. Nach kurzer Betrachtung nimmt Frau Kasek es entgegen. Claudia geht über den Mittelgang zurück in Richtung ihres Sitzplatzes.

Interpretation

Am ersten Beispiel interessiert uns die Präsentation des Heftes durch Jana. Obwohl sich das Geschehen vor der offiziellen Unterrichtseröffnung ereignet, findet Jana Herrn Maier, dem sie sich mit dem Heft nähert, in einer durch seine erklärende Interaktion mit Jeanette bereits unterrichtlich geprägten Situation vor. Indem sich Jana in Vor- und Zurück-Bewegungen und somit nur allmählich, in einem Balanceakt zwischen Annäherung und Distanzsicherung, dem Lehrer nähert, bringt sie körpersprachlich Respekt gegenüber der vorgefundenen, von Erklärungen des Lehrers geprägten, Dyade (Herr Maier – Jeanette) zum Ausdruck und trägt damit performativ zur Stabilisierung der unterrichtsähnlichen Struktur schon vor der offiziellen Unterrichtseröffnung bei. Wie eine Schülerin während eines offiziell eröffneten Unterrichts, die ihre Hand hebt und damit sowohl signalisiert, dass sie etwas äußern möchte, als auch ihr Wissen von und ihre Akzeptanz einer Unterrichtsstruktur signalisiert, in der Schüleräußerungen nur mit Erlaubnis und nach Aufforderung des Lehrers zulässig sind, ähnlich wie eine solche sich meldende Schülerin hebt und senkt Jana, den Blickkontakt mit Herrn Maier suchend, ihr Heft. Das Heftheben und -senken ist ein vergleichsweise schwaches Signal, auf das Herr Maier nicht erkennbar reagiert. Dass Jana auf diese Nicht-Reaktion ihrerseits nicht mit verstärkten Signalen antwortet, unterstreicht die Unterwerfung vor der alleinigen Entscheidungsgewalt des Lehrers. Erst als ein anderer Schüler Jeanette kontaktiert und Herr Maier dies zulässt und im Aufrichten seines Oberkörpers die Kommunikation über den auf dem Tisch liegenden Text für beendet erklärt, spricht Jana den Lehrer an und hält ihm das Heft hin. Somit ist nicht nur das präsentierte Ding ein Unterrichtsding, sondern die Präsentation selbst erweist sich schon in der Struktur ihres Beginns als Affirmation der Lehrerautorität bzw. der diese fordernden Regeln von Schule und Unterricht. Auch die Beendigung der Präsentation liegt nicht in ihrer Hand. Es ist der Lehrer, der die dyadische Struktur auflöst und damit die Präsentation beendet, indem er sich – nach Ablehnung des Präsentierten – erhebt und weggeht. Janas darauffolgender eigener Abgang ist wohl als Akzeptanz der Präsentationsbeendigung durch den Lehrer und indirekt als Akzeptanz seiner Ablehnung des Präsentierten zu interpretieren.

Das zweite Beispiel ist insofern etwas komplexer, als sich in dem gewählten Textausschnitt aus der formulierenden Interpretation nicht nur zwei dyadische Lehrer-Schüler-Interaktionen kreuzen, sondern unter anderem auch Schüler-Schüler-Interaktionen finden. Unsere Aufmerksamkeit gilt hier in erster Linie Claudias Übergabe eines beschriebenen Blatt Papiers an die Lehrerin. Wie Jana (siehe oben) erkennt auch Claudia das Primat der von der Lehrerin bzw. einer Erwachsenen bereits hergestellten Dyade an (1. indem sie hinter Yussif stehenbleibt; 2. indem sie das Blatt Papier zurückzieht und sich MW zuwendet). Auch hier sind wieder mehrere Anläufe der Schülerin erforderlich, bevor sie letztlich bei der Lehrerin Gehör findet und ihr den Unterrichtsgegenstand präsentieren kann. Im Unterschied zum ersten Beispiel bleibt es hier allerdings nicht bei Präsentation und Prüfung. Aus der Präsentation wird eine Übergabe, die nach der Prüfung vollzogen wird. Nicht nur die Präsentation und Übergabe des beschrifteten Blatt Papiers, sondern auch die Tatsache, dass Claudia – wie im ersten Beispiel Jana – direkt nach dem hier zustimmenden Lehrerkommentar bzw. erfolgter Übergabe zu ihrem Platz geht, trägt performativ zur Herstellung einer lehrerorientierten Atmosphäre und Ordnung und damit zur strukturellen Vorbereitung des Kontexts Unterricht bei.

Bei der hier an zwei Beispielen vorgestellten Interaktionsform im Übergang von Pause zu Unterricht handelt es sich insofern um eine Ritualisierung, als in der alltäglich so oder ähnlich ablaufenden Prozedur eine feste Abfolge zu erkennen ist: vom Lehrer dominierte Ausgangssituation, respektvolle Annäherung des Schülers, Präsentation des Schülers, Kommentar des Lehrers, gegebenenfalls Übergabe eines Gegenstands und schließlich Entfernung der Beteiligten voneinander in Richtung ihrer institutionell festgelegten Sitzplätze. Das „heilige“ Moment dieser Ritualisierungen liegt in der – in beiden Beispielen erkennbaren – respektvollen, offenkundig mit praktischem Tabuwissen versehenen, Annäherungsform und im Unterrichtsgegenstand selbst, der eine schulstrukturell gestützte Legitimation für die individuelle Annäherung eines Schülers an einen Lehrer bietet.

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