Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 4y, 25.3.1999 (Sitzordnung 1), Übergang Pause – Unterricht, 10h26:26 10h27:45

Zwei der ersten in die Klasse strömenden Schüler, Andre und Binol stimmen kurz nach Betreten des Raumes einen Refrain an, singen diesen leicht grölend, beenden ihn mit „daram da-ram da-dam“. Während Andre dabei den Raum durchquert und in Richtung seines Sitzplatzes geht, schwingt er rhythmisch die Arme, abgeschwächt tut dies auch Binol. Beide sind im Gegensatz zu den meisten anderen bereits ohne Überjacke, Binol trägt eine Schildkappe auf dem Kopf. Binol geht lockeren Schrittes geradewegs zu Martins Tisch, nimmt die dort stehende handgroße Milchflasche in seine Rechte, singt dabei noch einmal, leiser werdend: „da-dam“. Er dreht sich wieder ab, vorbei an der herannahenden Lehrerin, und geht einen Meter zur Seite, hinter den Tischplatz von Anika. Binol ruft Sören zu, der gerade im Begriff ist, sich zu setzen: „Jetzt schlag ich (…).“ Sören richtet sich wieder auf und beobachtet mit leichtem Grinsen das folgende Geschehen im Stehen: Binol blickt herüber zu Martin, der gerade seine Jacke an die Garderobe gehängt hat und sich im Türbereich an den hereinströmenden Kindern vorbei einen Weg zu seinem Sitzplatz bahnt. Martin hat Binol bemerkt, geht Binol entgegen, Binol holt mit der Rechten weit und schwungvoll aus, läßt sie gegen den Tisch herabsinken, den Schwung abbremsend, bis die Flasche den Tisch fast berührt und simuliert so ein Zerschlagen der Flasche einerseits, ein Werfen, eine körperliche Attacke anderseits. Martin streckt seine rechte Hand aus, sagt: „Gib her“, Binol holt ansatzweise nochmals aus, geht dann auf Martin zu und gibt ihm die Flasche. (Sören wendet seinen Blick nun ab.) Martin ergreift die Flasche mit schneller Geste, während er sagt: „Du schlägst … nicht …“ und die Flasche mit Nachdruck auf seinen Tisch stellt. Binol tritt an den Tisch heran, den Rücken zur Tafel, nimmt einen Stift aus dem dort aufgeklappt liegenden Mäppchen. Martin, der eine (Pausenbrot-)Papiertüte am Tisch zusammenrollt, sagt etwas, beugt sich seitlich des Tisches herab, packt die Tüte weg (in eine Tasche), läßt sich auf seinen Stuhl hinabfallen, sagt erneut etwas zu Binol, deutet mit dem Finger dabei auf die Milchflasche. Dann nimmt er ein kleines Lineal aus dem Mäppchen. Die beiden unterhalten sich, während Binol mit dem Stift und dessen Kappe befaßt ist und Martin mit dem Lineal, das er auf der Tischplatte hin und her gleiten läßt. Dann wendet sich Binol ab.

Interpretation

Mit einem ihnen beiden vertrauten lässigen Gesang begleiten die beiden Schüler Andre und Binol ihren Eintritt in den Klassenraum, welcher eine Markierung des Übergangs von der sozialen Identität der Peergroup zu derjenigen des Schülers darstellt. Dieser Gesang steht in seiner spontanen Darbietung, in seiner Rhythmik und gemeinsamen Abstimmung auf das Gehen (Schwingen der Arme) im Kontrast zu dem, was die Schüler in dem betretenen Territorium erwartet: eine Minimierung und Standardisierung körperlicher Beweglichkeit durch die Einnahme der Ruheposition des Sitzens am Platz gemäß Sitzordnung. Mit dieser aufeinander abgestimmten körperlichaktionistischen Form des Eintritts in das Klassenterritorium agieren die beiden Jungen performativ die mit der Schwellenphase verbundene Spannung aus und markieren solidarische Distanz gegenüber der sozialen Identität des Schülers. An den abebbenden gemeinsamen Gesang schließt Binol bruchlos die folgende Entwendung eines Besitzterritoriums an, das vorübergehend dem Mitschüler Martin gehört: eine Milchflasche – ein symbolträchtiger Gegenstand. Zum einen kommt der Milch, einem vor allem Säuglingen und Kleinkindern zugeordneten Nahrungsmittel, eine spezifische symbolische Bedeutung als entwicklungsbezogenes regressives Ausdrucksmittel zu. Zum andern kann die Milchflasche als ein Symbol der Bindung an die institutionalisierten Erwartungen und Abläufe interpretiert werden: Mit dem Bestellen einer Schulmilch wird eine Übereinstimmung von schulischer und privater (Ess-)Kultur zum Ausdruck gebracht, der Institution die Möglichkeit eines Zugriffs bis in den privaten Bereich der Ernährung hinein gewährt. Diese, mit Kosten für die Eltern verbundene einverleibende Dienstleistung der Schule wird nicht von allen Kindern in Anspruch genommen. Milieu- und entwicklungsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Bindung an die Institution und die Übereinstimmung mit schulischer (Ess-)Kultur spielen hier eine Rolle. Binol, mit der Requisite eines Jugendlichen (Schildkappe) innerhalb des Klassenterritoriums ausgestattet, entwendet diesen, den braven Schüler symbolisierenden Gegenstand und macht ihn zur zentralen Requisite der folgenden Interaktion, die er mit der zuschaueradressierten performativen Rede: „Jetzt schlag ich“ einleitet und somit die Aufmerksamkeit Sörens anruft. Dieser lässt amüsiert von dem schulkonformen Handlungsmodus der ordnungsgemäßen Einnahme der Ruheposition des Sitzens ab, richtet sich wieder auf, und bekundet mit der Einnahme der Zuschauerposition Solidarität. Mit der Androhung Binols und der Wahrnehmung der Situation durch Martin gewinnt die Entwendung der Milchflasche an Dramaturgie, die auch in der vermeintlichen Ausführung eine Mehrdeutigkeit beibehält. Zum einen wird das Besitzterritorium umfunktioniert, indem es selbst als mögliches Schlaginstrument benutzt wird, also seiner Funktion der Aufrechterhaltung der körperlichen Voraussetzungen für eine Unterrichtsbereitschaft beraubt wird. Zum andern wird das Gefäß schulischer (Ess-)Kultur potentiell zerschlagen, zunichte gemacht. Die Drohung wird im Spiel, und das heißt nur scheinbar, ausgeführt, in einem Spiel, das mit der Möglichkeit des „Ernstes“ spielt. Mit dieser Interaktion distanziert sich Binol nicht nur von der sozialen Identität des Schülers und den damit verbundenen institutionellen Ansprüchen und Erwartungen, sondern er richtet auch eine aggressive Provokation gegen den Schüler Martin, der sich in dieser weitreichenden Form in das institutionelle Ablaufschema einpasst und damit aus einer gemeinsamen solidarischen Distanz zu ihr ausbricht. Dementsprechend tritt Martin nicht nur der Entwendung, sondern auch der szenisch-spielerischen Dysfunktionalisierung dieses Gegenstandes entgegen. Der performativen Rede Binols antwortet Martin mit einer Auslieferungsgeste nonverbal und verbal zugleich performativ: „Du schlägst … nicht.“ Mit der Rückgabe der Flasche ist das Spiel beendet. Das Interesse des Zuschauers Sören flaut ab, er wendet sich den eigenen (unterrichtsfernen) Besitzterritorien zu. Martin stellt den zurückeroberten Gegenstand regelgemäß wieder in den territorialen Bereich seines Platzes, die er bereits nach Ablage der Garderobe im Begriff war aufzusuchen. Anschließend vollzieht er weitere, an dem Regelwerk des nahenden Unterrichts orientierte Handlungen: Frühstück ordentlich wegpacken, Hinsetzen – im Gegensatz zu Binol, der Martin zu seinem Platz nachfolgt und sich aus dessen Besitzterritorium, unter dessen Duldung, bedient.
Ähnlich der Szene rund um die Leckerei Jeanettes ist es auch für diese charakteristisch, dass es sich um eine liminale Situation zwischen Pausen- und Unterrichtskontexten handelt. Hier wie dort erhalten die Interaktionen zwischen den Kindern dramaturgische Züge und sind von ludischen und inszenierenden Elementen durchzogen. Dabei werden Differenzen unterschiedlicher Art unter den Schülern bearbeitet und bieten insofern Anlässe für Auseinandersetzungen: zum einen Differenzen im Hinblick auf das sich ankündigende Organisationssystem Unterricht, zum anderen Differenzen innerhalb der Schülerschaft. Diese werden in der Szene um die Milchflasche als hochsymbolischen Gegenstand im Hinblick auf eine Anpassung an die und Einverleibung von der und durch die schulisch institutionelle(n) Ordnung performativ-symbolisch bearbeitet.

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