Falldarstellung

Zweikampf

(dazu auch der Fall Aktionismen im Klassenraum – Hasenohren)

Die im Folgenden vorgestellten Videoszenen entstammen einer Videopassage des Übergangs von der Hofpause zum Unterricht im Klassenraum einer fünften Klasse. Solche fünf- bis fünfzehnminütigen Passagen beginnen mit dem Öffnen der Klassentüre und enden mit dem Unterrichtsbeginn durch den Lehrer, der zumeist rituell markiert wird (z.B. durch eine Handglocke). Bei der ersten Szene ist es die konjunktive Dimension der Adoleszenz, die den primären Rahmen der Aktivitäten bildet. Die Szene beginnt, als etwa ein Drittel der Klasse, nicht aber der Lehrer im Klassenraum anwesend ist:

In Sportjacke bekleidet, kommt Carlos in den Klassenraum. Im Hintergrund des Flurs sind Dursun und andere Schüler (Gesicht nicht erkennbar) zu sehen. Carlos hat eine leicht zur rechten Seite geneigte Haltung. Er blickt kurz auf, in den Raum (Richtung Kamera) hinein, dann wieder zum Boden. Sein rechter Arm zieht etwas Schweres, eine Person an dessen Anorak, der über den Kopf gezogen ist. Die Person bietet Gegendruck mit dem Körpergewicht. Carlos zerrt sie mit Kraft, großen schnellen Schrittes, bis vor die Tafel in den Klassenraum hinein und schleudert sie just vor Madeleines Tisch zu Boden. Madeleine, bisher mit der Entnahme eines Buches aus ihrer Tasche beschäftigt, blickt nun auf das Geschehen und ruft in gesangsartigem Rhythmus laut aus: „An-dy wird um­ge-bracht! An-dy wird um-ge-bracht!“. Carlos beugt sich über die Person, kniet halb über sie, scheint sie mit den Händen zu fixieren und schaut grinsend auf. Er blickt zu Madeleine, dann durch den Raum in den hinteren rechten Garderobenbereich. Dann blickt er wieder auf den Gegner, der mit einem Arm fuchtelt, übt mit dem Oberkörper über die Hände Druck auf ihn aus und zieht ihn am Kragen nach oben. Madeleine, die dem Ganzen aus der Nähe zusieht, steht zeitgleich auf, stellt sich an ihren Sitzplatz, während sie dabei ein Buch auf den Tisch legt. Sie legt ein Bein angewinkelt auf den Stuhl, beiläufig Gegenstände an ihrem Tisch ordnend, während sie weiterhin dem Geschehen zuschaut. Carlos hält den Gegner, dessen Kopf inzwischen aus dem Anorak befreit ist, mit den Händen am Kragen fest, dreht ihn mit sich zum Tisch von Madeleine herum und drückt dessen Oberkörper von hinten auf die Tischplatte direkt neben Madeleines Platz. Nun ist (für den Kamerablick) erkennbar, dass es sich bei dem Gegner um Andy handelt. Madeleine wiederholt in gesangsartigem Rhythmus: „An-dy wird um-ge-bracht! An-dy wird um-ge-bracht!“. Andy hält sich an der Tischkante fest und scheint mit den Füßen nach Carlos, der von seinem Kragen abgelassen hat, zu treten. Dieser beugt sich erneut über ihn und zieht an ihm. Fuat kommt in den Klassenraum herein, gefolgt von Fatima und Hatice. Im Hintergrund des durch die geöffnete Tür sichtbaren Flurs sind Schüler (u.a. Dursun) und kurzzeitig der Lehrer Maier zu sehen, der zu einem Schüler nahe der Tür hingeht. Während Fatima (in wattierter Überjacke) in den schmalen Gang an der Türwand einbiegt, geht Fuat, mit seinem Anorak hantierend, geradeaus weiter, die Tafelwand entlang. Andy wendet den Kopf nach Fuat um, während Carlos ihn an den Beinen zu Boden zieht. Fuat blickt auf das Geschehen und macht darum einen Bogen. Andys Hände verlieren den Halt an der Tischkante, er fällt zu Boden. Carlos tritt nach Andy und dreht sich mit dem Schwung des Trittes um die eigene Achse. Fuat, der den Tisch Madeleines passiert und damit den Mittelgang des Raumes erreicht hat, hält kurz an, blickt auf den am Boden liegenden Andy zurück, wendet sich schnell wieder ab und biegt den Weg Richtung Garderobe ein, seinen Anorak weiter am Kragen hantierend. Als Hatice (noch die Jacke an, eine Baseball-Kappe vor sich hertragend) die Kämpfenden passiert, hüpft sie über Andy, der gerade einen Tritt von Carlos verpasst bekommt. Sie blickt auf den am Boden Liegenden herab, sagt: „Andy wird ( )“ , während sie zum Mittelgang weiter-, an Madeleines Tisch vorbeigeht. Carlos setzt einen weiteren Tritt nach, wendet sich ab und geht zu seinem Sitzplatz nahe der Tür.

Interpretation

Mit dem oppositionalen Zweikampf zwischen zwei Jungen der Klasse wird in dieser liminalen Phase der vordere klassenterritoriale Bereich zur Bühne, auf der der Körper, seine Kraft bzw. Schwäche, sein Können bzw. Unvermögen performativ zur Schau gestellt wird. Dabei scheinen die Rollen klar verteilt. Carlos, der Größere, scheint der Überlegene, dem es in jeder Hinsicht gelingt, Andy, den Kleineren, vorzuführen. Die anwesende Klassenöffentlichkeit wird als Publikum angesprochen: Carlos blickt sogleich nach Betreten des Raumes um sich. Die Vorstellung eröffnend, schleift er Andy geradlinig und entschieden als eine zu Boden geschlagene Beute heran und lässt ihn im Bereich vor der Tafel fallen, direkt vor Madeleine, die sich an ihrem Sitzplatz aufhält. Dann wird Andy zunächst vom Boden hochgezogen, um auf mittlerer Raumhöhe am Tisch von Madeleine heruntergepresst zu werden. Den Kampf rituell abschließend, wird das Opfer erneut zu Boden geworfen, in einer schwungvollen Körperdrehung getreten und in dieser Lage dem potenziellen Spott der Klassenöffentlichkeit überlassen. Carlos nutzt also die unterschiedlichen Raumebenen und Bewegungsformen, die Unterlegenheit seines Opfers zu präsentieren.

Madeleine reagiert gleich zu Beginn dieser Präsentation als Adressatin des männlichen Zweikampfes und ruft laut aus: „An-dy wird um-ge-bracht“. Diese wiederholte, refrainartige Proklamation gibt die Nah-Beobachtung bzw. deren Deutung quasi aus der ersten Reihe an die Klassenöffentlichkeit weiter. Die Äußerung lässt keinen Zweifel an der körperlichen Überlegenheit Carlos, feiert geradezu dessen maskuline Überlegenheit. Sie verweist auf den existentiellen Charakter, den der körperterritoriale Zweikampf in der Klassenöffentlichkeit hat. Andy wird als Junge an der Schwelle zur Adoleszenz im (ernsthaften) Spiel des Kräftemessens in seiner potenziellen Männlichkeit rituell vernichtet, denn er scheint keine Chance gegenüber Carlos zu haben. Zwar gibt es von ihm auch (für die Dramaturgie notwendige) Zeichen der Gegenwehr. Doch letztlich unterliegt er deutlich für alle sichtbar.

Bemerkenswert ist bei diesem Zweikampf, dass er zwar von den Anwesenden zur Kenntnis genommen wird. Jedoch selbst Madeleine, die sich als Zuschauerin an ihrem Sitzplatz positioniert und deren Kommentar den Vorgang dramaturgisch steigert, vermag nebenher ihre schulischen Requisiten zu ordnen. Auch keiner der anderen Anwesenden lässt Momente der Solidarisierung mit dem Opfer erkennen. Nicht einmal der offensichtlich hilfesuchende Blick Andys gegenüber dem herannahenden Fuat wird zum Anlass, zu Hilfe zu eilen. Fuat und Hatice machen vielmehr einen Bogen um das situative Kampfterritorium. Sie beachten den am Boden Liegenden zwar, doch nach kurzem Innehalten fahren sie fort in dem Vollzug der rituellen Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft (hier: Aufsuchen der Garderobe). Die Performance körperlicher Machtverhältnisse wird unter den Schülern akzeptiert.

Offenbar stellt diese Aufführung nichts Außergewöhnliches dar. Solche Aktionismen gehören zu den rituellen Praxen des Übergangs von der Pause zum Unterricht, d.h. zu dem allen vertrauten Möglichkeitshorizont dieser Phase. Aktionismen sind, wie Bohnsack (2003c) darlegt, handlungspraktische Suchprozesse, spezifische, richtungsoffene Formen von Ritualen, mit denen eine kollektive Steigerung einhergeht. Sie haben episodalen Charakter und enthalten das Potenzial der Transformation oder der Abgrenzung sozialer Milieus. Der Zweikampf ist Teil jener konjunktiven, dem Erfahrungsraum der Peergroup zuzuordnenden Ritualisierungen, die die Differenz in der Adoleszenzentwicklung bearbeiten, also die Differenz zwischen den ‚Kleinen’ und den ‚Großen’. Indem Andy als noch nicht satisfaktionsfähiger kleiner Junge vorgeführt wird, demonstriert Carlos seine männliche Potenz als Jugendlicher. Zugleich, wenn auch sekundär gerahmt, wird bei diesem Aktionismus die Dimension des Geschlechts mit einbezogen, auf dem Wege der ‚Opferung’ des Jungen Andy vor dem Mädchen Madeleine, das diese Opferung und mit ihr die maskuline Körperkraft geradezu euphorisch proklamiert. Es wird damit sowohl ein Moment der Werbung um das andere Geschlecht als auch eine Differenz zwischen den Geschlechtern performativ in Szene gesetzt, eine Differenz, die tradierten Geschlechtsrollen folgt.

Für diese Szene ist charakteristisch, dass es sich um eine liminale Phase handelt, eine Phase, in der die kommunikativ-generalisierte Regelstruktur der Unterrichtsorganisation noch nicht etabliert ist, die Strukturen der (konjunktiven) Peergroup-Beziehungen aber auch nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden können, eine Phase also mit einem vergleichsweise hohen Maß an systematischer Unstrukturiertheit. Die Interaktionen zwischen den Kindern enthalten dramaturgische Züge und sind von körperlich-expressiven sowie ludischen Elementen durchzogen. Diese Schwellenphase ist in ausgeprägter Weise durch Simultaneität und ihre Verschränkung mit Sequenzialität gekennzeichnet, und zwar auf allen drei genannten Ebenen. Hierbei gehen im Zuge der Dramaturgie die (simultanen) Aktivitäten auf der personalen Ebene (c) über in diejenigen der sozialen Interaktion (b). Dies wird besonders mit Madeleine deutlich, die sich in die dichte, körperlich-expressive Interaktion von Carlos und Andy als Zuschauerin verwickeln lässt und diese aktionistische Verwicklung mit ihrer Proklamation zugleich an die Klassenöffentlichkeit, d.h. an weitere soziale Interaktionssysteme überträgt. Die soziale Situation (a), die Schwellenphase im Klassenraum, ist davon unmittelbar berührt. Dies nehmen auch diejenigen sogleich wahr, die in die Klasse eintreten, wie Hatice und Fuat.

Über die Verwicklung Unbeteiligter durch den Aufführungscharakter und über die Differenzbearbeitung hinsichtlich der konjunktiven Erfahrungsräume der Peergroups hinaus wird mit diesem Aktionismus auch eine Distanz gegenüber dem rollenförmigen Handeln des Schülers zum Ausdruck gebracht (vgl. Goffman 1973). Denn im Rahmen des institutionellen Ablaufschemas geht es in dieser Übergangsphase zum Unterricht darum, sukzessive Unterrichtsbereitschaft herzustellen. Hierzu sind eine Reihe von Mikroritualen vorgesehen, die unterschiedliche Territorien (Klassenterritorium, Requisiten, Tisch, Sitzordnung, Garderobe, Körperterritorien etc.) betreffen und rollenförmiges Handeln beinhalten, so z.B. die Differenzierung zwischen Funktionalem und Nicht-Funktionalem, die Ablage der Außenkleidung an dem dafür vorgesehenen Ort (der Garderobe), die Ruhigstellung des Körpers in der Ruheposition des Sitzens am Sitzplatz. Vor allem jene Territorien und Handlungspraxen, die einen symbolischen Bezug zur institutionellen Ordnung haben, bilden einen fruchtbaren Boden für spontane Ritualisierungen. In der „Liminalität, spielen die Menschen mit Elementen des Vertrauten und verfremden sie“, heißt es bei Turner (1989b, S. 40). Dies führt zu einer besonderen Situation, in der das liminale Moment der Antistruktur (vgl. Turner 1989a, S. 94ff.) bedeutsam wird. Das Klassenterritorium und seine inneren Räume werden von den Hauptakteuren der Szene nicht im Sinne kommunikativer Rituale, also im Sinne der rituellen Herstellung von Unterrichtsbereitschaft gehandhabt, sondern fungieren primär im Rahmen der konjunktiven Erfahrungsräume der Peergroup, d.h., diese gewinnen den Charakter der Vorderbühne. Der funktional als Schreibunterlage vorgesehene Tisch wird zu einem Requisit der aktionistischen Aufführung zweckentfremdet. Die Körper der Hauptakteure, Carlos und Andy, sind alles andere als auf die Ablage ihrer Außenkleidung an der Garderobe oder gar die Ruhigstellung ihrer Motorik orientiert. Die Szene enthält also sowohl im Sinne der Bearbeitung unterschiedlicher Dimensionen konjunktiver Erfahrungsräume (hier: Adoleszenz, Geschlecht) als auch im Sinne der Bearbeitung der Differenz der konjunktiven Erfahrungsräume (der Peergroup) gegenüber der kommunikativen Kollektivität (der herzustellenden Unterrichtssozialität) eine Mehrdimensionalität, die mit der Komplexität der liminalen Phase korrespondiert.

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