Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Unterricht als Aufgaben-Lösen: Michael (1)

Unterricht als Aufgaben-Lösen: Dirk

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der Schüler Michael berichtet in dem vorausgegangenen Interviewausschnitt über seine Leistungsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe. In diesem Zusammenhang erklärt er den Begriff „Defizit“, der für die Zensuren steht, die „ausreichend-minus“ oder schlechter lauten. Auf die Anzahl seiner Defizite zum Zeitpunkt des Interviews bezieht sich die folgende Frage der Interviewerin.

(I/1) Also, das ist jetzt dein Stand, ne, diese fünf Defizite?

( 1) Bis zum ersten Halbjahr.
( 2) Und jetzt ist mein Stand auf dreizehn. ((Lachen))
( 3) Und sieben darfst’e bis zum Abi haben. ((Lachen))
( 4) Ja, ich hab‘ jetzt äh . sechs Kurse nicht angerechnet gekriegt, ne,
( 5) weil ich eben oft nicht da war.
( 6) Hab‘ ich auch keinen Sinn mehr drin gesehen.
( 7) Vielleicht noch en Grund dafür,
( 8) daß ich da nix mehr getan hab‘, war,
( 9) daß ich die Schnauze/äh die Schule hab‘ ich so voll, ne,
(10) dat gibt’s gar nich‘ mehr.
(11) Ja, …

(1/2) Jetzt speziell ähm das Gymnasium oder Schule allgemein?

(12) Nee, überhaupt, allgemein.
(13) Mir ging dat so auf en Geist,
(14) daß se da in den meisten Fächern,
(15) dann gibt’s irgend so ne Problemstellung
(16) und dann darfst’e darüber wieder labern,
(17) dann wird das Problem abgestoßen,
(18) dann wird ein neues Problem wieder aufgebaut
(19) und darüber wieder, ne.
(20) Immer wird dir vorgesetzt,
(21) worüber du labern sollst, ne.

Paraphrasierende Ablaufbeschreibung

Das vorliegende Beispiel besteht aus zwei Abschnitten, die durch die zweite Interviewfrage in Segment (I/2) getrennt sind. Der Analyseschwerpunkt wird auf dem zweiten Abschnitt liegen, in dem der Sprecher seine grundsätzliche Kritik am Unterricht in der Oberstufe äußert. Der erste Abschnitt dient überwiegend der Kontextualisierung, um den diskursiven Zusammenhang der Schülerkritik zu verdeutlichen.

Abschnitt I: (s1) – (s11)
Mit ihrer Frage in Segment (I/1) vergewissert sich die Interviewerin, ob sie den Sprecher richtig verstanden habe, dass er nun fünf Defizite habe, d.h. in fünf Fächern nicht-ausreichend steht. In seiner Antwort stellt Michael den Sachverhalt zunächst richtig, denn seine Defizite liegen zum Zeitpunkt des Interviews bei dreizehn. In den Segmenten (s4) und (s5) macht er dafür sein häufiges Fehlen verantwortlich, weil eine zu hohe Fehlquote in der Regel zur Nicht-Anrechnung des entsprechenden Kurses führt. Als Grund für seine häufige Abwesenheit gibt er in den Segmenten (s6) bis (s10) an, ‚daß er darin keinen Sinn mehr gesehen und die Schnauze voll gehabt habe.’ Michael betrachtet also seinen schlechten Leistungsstand als eine indirekte Folge erlebter Sinnlosigkeit seines schulischen Handelns.

Abschnitt II (s12) – (s21)
Die Interviewfrage in Segment (I/2) stellt eine Bitte um Spezifizierung der genannten Schulunlust dar. Angesichts des sehr schlechten Leistungsstandes von Michael will die Interviewerin wissen, ob sich seine Unlust nur auf das Gymnasium oder auf Schule überhaupt bezieht. Mit ihrer Frage evoziert sie eine längere Antwort des Schülers, die allgemein den Unterricht in der Oberstufe thematisiert. In der weiteren Analyse soll es deshalb schwerpunktmäßig um die Frage gehen, wie der Schüler den Unterricht darstellt.

In Segment (s12) beantwortet der Sprecher zunächst die Interviewfrage und stellt klar, dass sich seine Unlust auf Schule allgemein bezieht. Er bestätigt damit, dass die von ihm erlebte Sinnlosigkeit schulischen Handelns nicht als Folge seines schlechten Leistungsstands zu betrachten ist, sondern vielmehr als dessen Ursache. Mit dem Matrixsatz: „Mir ging dat so auf’en Geist“ (s13) leitet er eine Illustration des Oberstufenunterrichts ein, die die Sinnlosigkeit verdeutlichen soll. Er stellt dar, was ihn an Schule und Unterricht stört. Die Illustration reicht von Segment (s13) bis (s19). „dat“ in Segment (s13) verweist auf den Sachverhalt, den er im Folgenden illustrieren will und der ihn enorm („so“) stört („auf en Geist geht“). In Segment (s14) benennt er dann den fraglichen Sachverhalt: der Unterricht „in den meisten Fächern“. Gegenstand der Illustration ist also kein singuläres Ereignis, sondern ein allgemeiner Sachverhalt. Es ist der von ihm immer wieder erlebte Oberstufenunterricht. In den Segmenten (s15) bis (s19) illustriert der Schüler, wie der Unterricht in der Regel abläuft. Er benennt die typischen Elemente, die das Unterrichtsgeschehen bestimmen und beschreibt sie als wiederkehrende Folge bestimmter Unterrichtsschritte. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich hierbei um die einzelnen Elemente des Aufgabe-Lösungs-Musters (vgl. §2.2.3) handelt. Wie stellt Michael nun diesen komplexen Sachverhalt dar?

Mit Hilfe des sprachlichen Musters Illustration und alltagssprachlicher Begriffe arbeitet er den Bruch des Aufgabe-Lösungs-Musters aus Aktantensicht heraus. Das sieht im Einzelnen folgendermaßen aus:

1. (s15) (…) gibt’s irgend so ne Problernstellung.
   (s18) (…) wird ein neues Problem (…) aufgebaut.

Mit diesen beiden Äußerungen beschreibt der Aktant den ersten Unterrichtsschritt, der aus dem Stellen einer Aufgabe besteht. Das Typische der Aufgabenstellung charakterisiert der Schüler mit den Begriffen „irgend so ne“ (=irgend so eine), „neues“ und „wird aufgebaut“. Mit den ersten beiden Begriffen typisiert er die Problemstellung als beliebig, willkürlich und unbestimmt; mit dem letzten als künstlich und unecht. Michaels Typisierung der Problemstellung als beliebig und unecht kann man folgendermaßen umschreiben: In der Situation selbst (Unterricht) besteht zunächst kein Problem in dem Sinne, dass ein Hindernis ein Handlungsziel gefährdet und von den Beteiligten (Schüler) überwunden werden müsste. Das Problem muss vielmehr in der Situation erst selber geschaffen („aufgebaut“) werden, bevor es bearbeitet werden kann. Auch wenn durch die syntaktische Konstruktion der beiden Äußerungen der Handlungsträger, der für die Problemstellung verantwortlich ist, offen bleibt, so ergibt sich doch aus dem Kontext, dass es sich hierbei um den Lehrer handelt. In den beiden o.a. Segmenten beschreibt Michael also den ersten Schritt des Aufgabe-Lösungs-Musters, der aus dem Stellen einer Aufgabe durch den Lehrer besteht.

2. (s 16) (…) dann darfst’e darüber (…) labern.

Den zweiten Unterrichts- oder Musterschritt illustriert der Sprecher mit seiner Äußerung in Segment (s16). Die Schüler sprechen über die Problemstellung, um eine Lösung zu finden. Für unsere Analyse sind zwei wichtige Phänomene zu beachten: die Verwendung des Modalverbs „dürfen“ (vgl. hierzu Redder 1984) sowie des Begriffs „labern“. Das Modalverb „dürfen“ wird an dieser Stelle ironisch im Sinne von „müssen“ verwendet, wie sich in der folgenden Paraphrase zeigt: „Dann mußt du darüber labern.“ Mit Hilfe der ironischen Verwendung des Modalverbs „dürfen“ beschreibt Michael das unterschiedliche Verständnis, das Lehrer und Schüler von diesem Musterschritt haben. Einerseits verweist „dürfen“ auf das Verständnis der Lehrer, die hierin ein Angebot an die Schüler sehen, über ein Problem reden zu dürfen. Andererseits verweist es auf das Schülerverständnis, die darin kein Angebot, sondern eine Verpflichtung sehen, denn sie müssen über das Problem reden. Durch die ironische Verwendung von „dürfen“ verdeutlicht Michael beide Perspektiven und zeigt zugleich, dass er in dem Musterschritt kein Angebot sieht, sondern eine Aufforderung, eine gestellte Aufgabe zu lösen.

Kommen wir nun zu dem Begriff „labern“, mit dem Michael den zweiten Musterschritt, i.e. das Schülergespräch, charakterisiert. Man kann ihn folgendermaßen paraphrasieren: „oberflächlich, nicht-ernsthaft über einen Sachverhalt reden.“ Dieser Begriff kennzeichnet das Schülergespräch als nicht zweckgerichtet und ziellos. Die Beteiligten verfolgen mit dem Gespräch nicht das Ziel, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern sie reden lediglich über die gestellte Aufgabe, weil dies zu ihren Pflichten als Schüler gehört.

3. (s17) dann wird das Problem abgestoßen.

Mit diesem Segment beschreibt der Schüler den letzten Unterrichtsschritt: Das Problem wird ausgeblendet, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Das Typische an diesem Schritt erfasst dabei der Begriff „ein Problem abstoßen“, der bedeutet, sich nicht länger mit einem noch ungelösten Problem zu beschäftigen. Die Betonung liegt dabei auf „ungelöst“, denn das Gespräch wird nicht dann beendet, wenn das Problem gelöst ist, sondern wenn der Lehrer die Aufgabe für ausreichend beantwortet hält. Die Qualifizierung des letzten Musterschritts durch den Begriff „abstoßen“ erweist das als Aufgabe gestellte Problem endgültig als Pseudo-Problem und damit das gesamte Schülergespräch darüber als Pseudo-Kommunikation. Denn der Zweck des Gesprächs besteht nicht darin, für ein bestimmtes Problem eine Lösung zu finden, sondern für eine Aufgabe einen Lösungsvorschlag zu machen. Diese Qualifizierung des Unterrichtsgesprächs als Pseudo-Gespräch über ein Pseudo-Problem erreicht der Schüler im Wesentlichen mit Hilfe der Begriffe „Laberer“ und „Ein-Problem-abstoßen“.

In den Segmenten (s18) und (s19) wird die Illustration mit der erneuten Darstellung der in den Segmenten (s15) und (s16) bereits beschriebenen Unterrichtsschritte fortgesetzt, um so die wiederholte Anwendung des Musters zu verdeutlichen. Insbesondere die elliptische Äußerung in Segment (s19), erkennbar an dem fehlenden Prädikat, verweist auf den repetitiven Charakter dieses Unterrichtsmusters. Das belegt zugleich noch einmal, dass es sich bei der Illustration nicht um die Wiedergabe eines Einzelfalls, sondern um die Darstellung eines typischen Sachverhalts handelt. Beendet wird die Illustration durch das Sprechhandlungsaugment „ne“ am Ende von (s19).

In den Segmenten (s20) und (s21) folgt eine Zusammenfassung des illustrierten Sachverhalts, die noch einmal zwei wesentliche Aspekte des illustrierten Unterrichtsmusters explizit aufgreift. Zum einen wird die Aufgabenstellung als fremdbestimmt charakterisiert, in der es nicht um Probleme der Schüler geht. Zum anderen wird das Unterrichtsgespräch erneut als Pseudo-Kommunikation qualifiziert. Hiermit möchte ich die Analyse der diskursiven Darstellung abschließen und festhalten, dass insbesondere die Illustration des Unterrichts als Pseudo-Kommunikation wichtige Hinweise auf die Rekonstruktion des Aktantenwissens enthält.

Rekonstruktion des Aktantenwissens: das Erkennen der Widersprüchlichkeit schulischer Handlungsmuster

Auf der Grundlage der oben erfolgten Analyse der diskursiven Darstellung möchte ich im Folgenden das Aktantenwissen rekonstruieren, das sich in der Sequenz (B8) dokumentiert. Ich möchte der Frage nachgehen: Was weiß der Schüler Michael über den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe? Beginnen werde ich die Wissensrekonstruktion mit der Bestimmung des Subjekts und Objekts des Wissens.

Subjekt des Wissens ist der Schüler Michael, Objekt eine bestimmte Form des Oberstufenunterrichts, die ich weiter oben bereits als Unterrichtsdiskussion eingeführt habe. Die Unterrichtsdiskussion ist eine spezifische Form des Aufgabe Lösungs-Musters, das wir in §2.2.3 bereits analysiert haben. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das Aufgabe-Lösungs-Muster einen spezifischen Musterbruch enthält, der sich aus dem Transfer des Alltagsmusters „Problemlösen“ in die Schule herleitet. „Die Muster werden beim Übergang in Institutionen dysfunktionalisiert, indem sie in den neuen institutionellen Funktionszusammenhang integriert werden“ (Ehlich/Rehbein 1977a, S.68). Als wichtigste Konsequenz der Integration des außerschulischen Problemlösens in den schulischen Handlungszusammenhang haben wir die Dissoziierung der verschiedenen Musterelemente auf Lehrer und Schüler bezeichnet, die beim Aufgabe-Lösungs-Muster auf Seiten der Schüler zu einem Verlust des Steuerungsmechanismus für ihre Handlungen führt, weil sie die Zielsetzung der Aufgabe nicht kennen.

Das lässt sich für die Unterrichtsdiskussion durch einen Vergleich mit dem Alltagsmuster „Diskussion“ verdeutlichen: Die Diskussion kann man kurz charakterisieren als ein Verfahren mehrerer Aktanten, ihre Meinungen zu einem Problem mit dem Zweck auszutauschen, in einem gemeinsamen Problemlösungsprozess Lösungswege zu entwickeln. Die Diskussion ist funktional auf ein Problem bezogen, so dass sie ihren Ausgang in der Praxis des Alltags hat und auch wieder in diesen mündet. Wird nun das Muster in die Schule überführt, hat das für die Diskussion folgende Konsequenzen.

Das mit Hilfe der Unterrichtsdiskussion zu bearbeitende Problem ergibt sich nicht aus einer gemeinsamen Praxis, sondern wird vom Lehrer als Aufgabe gestellt. Den Schülern geht durch die Dissoziierung der Musterelemente das Ziel verloren, unter dem sie das Problem diskutieren (lösen) sollen. Daran ändert prinzipiell auch das Verfahren nichts, die Schüler über das Unterrichtsthema abstimmen zu lassen, denn es wird dadurch nicht zu einem echten Problem. Kommt es aber dennoch zu einer Identifizierung der Schüler mit dem Problem, bedeutet auch das nicht, dass aus der Unterrichtsdiskussion eine echte Diskussion wird. Das wird besonders deutlich am Musterende, das durch den Lehrer bestimmt wird. Denn er beendet die Diskussionsphase an einem didaktisch bestimmten Zeitpunkt, an dem das Thema dann als Ganzes beendet wird. Die Diskussion bleibt ohne praktische Folgen. Möglicherweise gewonnene Einsichten oder entwickelte Problemlösungsstrategien werden nicht praktisch umgesetzt, weil das den institutionellen Rahmen von Schule sprengen würde. Man denke beispielsweise an eine Diskussion über den Umweltschutz, bei der die Schüler die Einsicht gewonnen hätten, dass sie für eine positive Veränderung selber praktisch aktiv werden müssten. Spätestens wenn diese, vielleicht sogar intendierte Einsicht vorhanden ist, muss die gemeinsame, institutionelle Behandlung des Problems beendet werden, und es folgt die Behandlung der nächsten Aufgabe.

Zusammengefasst kann man sagen, im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Musters wird die Diskussion dysfunktionalisiert, indem ihr Verfahren übernommen und ihr eigentlicher Zweck durch einen didaktischen ersetzt wird. Der didaktische Zweck liegt darin, den Schülern durch das gemeinsame Lösen einer Aufgabe gesellschaftlich entwickelte Problemlösungen zu vermitteln. Hierin liegt zugleich der zentrale Widerspruch: Denn den Schülern geht durch den Verlust des Handlungsziels, das vom Lehrer vorgegeben wird, der Steuerungsmechanismus für ihre Handlungen (Diskussionsbeiträge) verloren. Sie sollen eine Problemkonstellation, die ihnen in weiten Bereichen unbekannt ist, ohne Kenntnis des Ziels lösen. Die Unterrichtsdiskussion als spezifische Ausprägung des widersprüchlichen und bruchhaften Aufgabe-Lösungs-Musters ist Objekt des Aktantenwissens von Michael.

Wir können damit zur Rekonstruktion des Gewussten kommen, d.h. zu dem, was Michael über den Unterricht in der Oberstufe weiß. Die folgende Rekonstruktion wird zeigen, wie der Schüler seine unterrichtlichen Erfahrungen in einem komplexen Geflecht von Wissenspartikeln verarbeitet. Ich werde die einzelnen Wissenspartikel nacheinander rekonstruieren, um so ihren inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Zunächst einmal können wir feststellen, dass Michael das Ablaufschema des Unterrichtsmusters kennt, denn er kann die konstitutiven Schritte Aufgabenstellung-Lösungsversuche-Bewertung sowie ihre Aufteilung auf Lehrer und Schüler benennen. Wenn man davon ausgeht, dass er die entsprechenden Musterschritte auch adäquat exekutieren kann, dann dokumentiert die Illustration ein Musterwissen zum Aufgabe-Lösungs-Muster bzw. zur Unterrichtsdiskussion.

Entscheidend ist im Zusammenhang des Aktantenwissens jedoch nicht das Musterwissen, sondern das Wissen über das Aufgabe-Lösungs-Muster. Das Musterwissen ist ein praktisches, stark internalisiertes Wissen, das die Gesellschaftsmitglieder für ihr Handeln in Handlungsmustern benötigen. Seine spezifische Qualität liegt in seiner geringen Bewusstheit, d.h., es wird von den Individuen zwar regelmäßig praktisch angewendet und damit tief im Wissen verankert, aber nur selten rational durchschaut und bewusst eingesetzt (vgl. §2.2). Aus diesem Grund haben wir in §4 die Rekonstruktion des Musterwissens anhand von Verbalisationen weitgehend ausgeschlossen. Die diskursive Thematisierung eines schulischen Handlungsmusters ist daher ein Indiz dafür, dass das Musterwissen in den Aufmerksamkeitsfokus des Schülers geraten ist. Es stellt sich die Frage, wie Michael sein praktisches Musterwissen des widersprüchlichen Aufgabe-Lösungs-Musters in sein übriges Wissen integriert.

Die Analyse der Illustration hat bereits gezeigt, dass er nicht nur die einzelnen Musterelemente benennt, sondern dass er mit alltagssprachlichen Mitteln auch den Bruch des Musters herausarbeitet. Er hat die Unterrichtsdiskussion als Pseudo-Kommunikation über ein Pseudo-Problem dargestellt. Für die Rekonstruktion des Gewussten bedeutet das, dass Michael den Musterbruch, den wir mit Hilfe von Musteranalysen theoretisch erarbeitet haben, kennt. Er weiß, dass es in der Unterrichtsdiskussion nicht um echte Probleme, sondern um die Aufgabe eines Lehrers geht. Ziel der Diskussion ist nicht die Lösung eines Problems, sondern das Lösen einer Aufgabe. Michael kennt den Bruch aus der Perspektive des Aktanten, der von der Dissoziierung der Musterelemente in spezifischer Weise betroffen ist: Die Aufgabenstellung ist fremdbestimmt („wird dir vorgesetzt“) und künstlich („wird aufgebaut“), die Unterrichtsdiskussion ist unecht („Labere“) und das Problem ist ein Pseudo-Problem („wird abgestoßen“). Für Michael besteht der entscheidende Bruch der Unterrichtsdiskussion in der unechten, ziellosen Auseinandersetzung. Damit bestätigt er den von uns angenommenen Verlust des Steuerungsmechanismus, der sich daraus ergibt, dass die Aufgabenstellung beim Lehrer, die Problemlösung aber beim Schüler liegt.
Dieses den Bruch betreffende Gewusste ist das Ergebnis einer Abstraktionsleistung, durch die es dem Schüler gelungen ist, aus den wiederholten partikularen Erfahrungen und praktischen Anwendungen die Struktur des Aufgabe-Lösungs-Musters zu synthetisieren. Michael weiß, dass der Unterricht immer nach diesem Muster verläuft, mithin das Gewusste dem Objekt des Wissens immer zukommt. Insofern liegt hier ein Wissen vom Typ „Bild“ vor, das das eigene Musterwissen zum Thema hat und als wesentliches Element den Musterbruch als Gewusstes enthält.

Abschließend möchte ich nun der Frage nachgehen, warum das Muster, als praktisches Musterwissen gespeichert, in den Aufmerksamkeitsfokus des Aktanten gerät. Den Grund hierfür sehe ich in der von Michael empfundenen Langeweile und Sinnlosigkeit des Unterrichts, die er in Abschnitt I der analysierten Sequenz zum Ausdruck bringt. Er stellt dort einen kausalen Zusammenhang her zwischen seinem häufigen Fehlen, das seinen schlechten Leistungsstand bedingt, und der subjektiv erfahrenen Sinnlosigkeit des Unterrichts, die er in Abschnitt II auf das bruchhafte Aufgabe-Lösungs-Muster zurückführt. Für die Rekonstruktion seines Aktantenwissens bedeutet das Folgendes: Michael durchschaut die Widersprüchlichkeit und Bruchhaftigkeit des Musters und erkennt darin den Grund für sein fehlendes Interesse am Unterricht. Damit stellt er eine kausale Verknüpfung zweier Wissenselemente her, die bereits auf mögliche Folgen des widersprüchlichen Aufgabe-Lösungs-Musters (s.u.) hinweist: Unterrichtsverweigerung. Die Illustration dokumentiert aber auch das systematische Nicht-Wissen des Aktanten: Er weiß zwar, worin der Widerspruch für die Aktanten besteht, er weiß aber nicht, woher dieser Widerspruch kommt.

Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlages
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